Leni Müller lebt mit ihrem Mann Ivan in Berlin-Steglitz. Es ist ein einsames Leben. Während der erfolgreiche Architekt einmal mehr einen lukrativen Auftrag für sich entscheidet, kapselt sich Leni ab. Ihre täglichen Einkäufe sind schon das Höchste der Gefühle. Als Ivan für ein Bauprojekt nach Rügen
reisen muss, ist Leni plötzlich auf sich allein gestellt. Überfordert von der Welt scheint sie…mehrLeni Müller lebt mit ihrem Mann Ivan in Berlin-Steglitz. Es ist ein einsames Leben. Während der erfolgreiche Architekt einmal mehr einen lukrativen Auftrag für sich entscheidet, kapselt sich Leni ab. Ihre täglichen Einkäufe sind schon das Höchste der Gefühle. Als Ivan für ein Bauprojekt nach Rügen reisen muss, ist Leni plötzlich auf sich allein gestellt. Überfordert von der Welt scheint sie plötzlich Dinge zu sehen und zu hören, die gar nicht real sind. Und was will eigentlich dieser Kommissar Ziegler von ihr, der ihr auf Schritt und Tritt zu folgen scheint? Nach und nach drängen vergangene Dinge in Lenis Bewusstsein, die sie behutsam in Richtung Abgrund ziehen wollen...
"Steglitz" ist der neue Roman von Inès Bayard, der jetzt in der Übersetzung aus dem Französischen von Theresa Benkert bei Zsolnay erschienen ist. Es ist ein im wahrsten Sinne des Wortes seltsamer Roman. Zunächst einmal sticht von Beginn an die Sprache ins Auge. In kurzen, einfachen, fast technokratischen Sätzen zeichnet Bayard das Bild einer durchschnittlich-langweiligen Protagonistin, bei der nicht nur der Name Leni Müller absolutes Mittelmaß verkörpert. Leni ist eine folgsame Ehe- und Hausfrau. Die Einkäufe, für die sie Steglitz nie verlässt, sind ihre täglichen Höhepunkte. Liebe ist zwischen ihr und Ivan nicht zu spüren. Der abendliche Sex hat gar etwas Missbräuchliches. Auch die Beschreibungen des Umfeldes wirken spröde. Bayard verliert sich in der Aufzählung Berliner Straßennamen, die für diejenigen interessant sein mögen, die sich dort auskennen. Dennoch passt die Sprache sehr gut zum Inhalt und untermalt fast beiläufig die Berliner Winterlandschaft.
Mit zunehmender Dauer des Romans häufen sich die merkwürdigen Vorfälle und Begebenheiten. Das liegt auch an der Unzuverlässigkeit der Erzählstimme, die ganz nah bei Leni ist, auch wenn es sich nicht um eine Ich-Erzählerin handelt. Mit Ivans Abreise fällt Leni in eine Art psychisches Loch. Doch warum verspürt der Kioskverkäufer eine so große Wut auf sie, dass er Leni sogar körperlich attackiert? Und befragt der mysteriöse Kommissar Ziegler Leni tatsächlich nur aufgrund merkwürdiger Schüsse, die am Abend zuvor durch Steglitz schallten? Ständig tauchen irgendwelche geheimnisvollen Männer auf, die auf Leni bedrohlich wirken. Da ist der Mann, der behauptet ihr Vater zu sein, und kurz darauf im Park erschossen aufgefunden wird. Da ist ihr Bruder Émile, den sie zunächst gar nicht erkennt, der sie aber dann mir nichts dir nichts aus der Wohnung wirft, weil Ivan von Rügen mit einer anderen Frau zurückkommen möchte. Und da ist Ziegler, der ihr eines Abends seine Telefonnumer gibt und ihr Schutz verspricht, nur um bei einem darauffolgenden Gespräch überhaupt nichts mehr davon zu wissen.
Bayard gelingt es, diese Bedrohlichkeit unmittelbar auf die Leserschaft zu übertragen. Je surrealer die Handlung wird, desto gefährdeter scheint Leni. Und auch wenn überhaupt keine Emotionen oder gar Mitleid bei den Leser:innen mit ihr aufkommen, hat "Steglitz" etwas Faszinierendes, etwas Soghaftes. Erst im letzten Drittel des 180 Seiten kurzen Romans scheint zumindest klarer zu sein, wie es zu dieser über die Dauer doch mehr und mehr erkennbaren Traumatisierung der Hauptfigur kam. Das löst Bayard zwar nicht besonders elegant, weil sie Lenis Bruder Émile einfach erzählen lässt, sorgt aber für eine gewisse Befriedigung bei den Leser:innen. Im Finale wird "Steglitz" noch einmal bitterböse, bevor es tatsächlich noch zu einem runden Abschluss findet, was bei all den vorherigen Irrungen und Wirrungen überrascht. Zudem beweist Bayard hier ihre sprachliche Komik, bei deren Boshaftigkeit einem das Lachen schon mal im Halse stecken bleiben kann.
Insgesamt ist "Steglitz" ein psychologischer Roman, der sich einerseits auf surreale Art und Weise mit dem Trauma einer Frau beschäftigt, andererseits ist es auch die Auseinandersetzung mit dem Leben in einer anonymen Großstadt. Das Buch wird sicherlich polarisieren, weil viele der geschilderten Situationen so unglaubwürdig sind, dass sie nicht ernst genommen werden können. Als Porträt einer schwer traumatisierten Frau auf der Suche nach Normalität habe ich "Steglitz" aber seltsam fasziniert und mit Interesse gelesen.