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Constantin Göttferts Roman kommentiert zu viel
Die Generation Enkel hat ganze Arbeit geleistet. Man könnte glauben, alle Großväter seien inzwischen enderforscht, ihre so früh zwischen Schuld und Trauma zerbrochenen Lebensläufe auserzählt. Und doch liegen noch große Großväterstoffe brach, und zwar in den Randgebieten der deutschsprachigen Kultur. Auch in der heutigen Slowakei haben sich höchst unterschiedliche deutsche Familienschicksale abgespielt, deren Gemeinsamkeit das disruptive Moment ist: der Verlust der Heimat. Was im Zweiten Weltkrieg mit der Flucht oder Evakuierung vieler Deutscher begann, wurde im Gefolge der Benes-Dekrete zur dauerhaften Aussiedlung.
Eine solche karpatendeutsche Familiengeschichte ist das Sujet des umfangreichen Romans "Steiners Geschichte". Der junge Wiener Autor Constantin Göttfert, der reichlich recherchiert hat, bietet eine atmosphärisch dichte Beschreibung des Lebens diesseits und jenseits des Grenzflusses March. Die Steiners nämlich leben seit der Vertreibung im österreichischen Marchfeld, aber sie haben die Sehnsucht nach Limbach, ihrer ursprünglichen Heimat nahe Bratislava, nie verloren. Trotzdem blieb die Familie nach dem Ende des Kommunismus in Österreich: "Und auch Steiner, der nach der Vertreibung selbst jahrelang als Flüchtling in einem österreichischen Flüchtlingslager gelebt hatte, der jahrelang ein Staatenloser gewesen war, schimpfte, dass der Staat nun zu viele Flüchtlinge aufnehme." Damit zerbrach der letzte Selbstbetrug. Es gibt für diese Familie Heimat nur noch in der geschönten, ja ausgedachten Erinnerung.
Leider ist die Umsetzung dieses Sujets in Literatur, man muss es so hart sagen, gescheitert. Das hat viel damit zu tun, dass der Autor in erster Linie Geschichte nahebringen will. Alle Figuren scheinen nur zu diesem Zweck konstruiert und gehen in ihrer allegorischen Künstlichkeit schon nach wenigen Seiten auf die Nerven. So sind die beiden Hauptfiguren, Steiners Enkelin Ina und der österreichische Lehrer Martin, einander zwar in Liebe zugetan und haben gar ein Kind gezeugt, aber plötzlich vertreibt sie ein übermächtiges Schicksal aus ihrem Kleinfamilienparadies.
Ina nämlich wird - äußerst unglaubwürdig - verrückt an der eigenen, immer noch tabuisierten und erst mit dem Tod des Großvaters in all ihren Widersprüchen aufgebrochenen Familiengeschichte, die sie nun um jeden Preis dem Dunkel entreißen möchte, auch wenn sie dabei ihr eigenes Lebensglück und das ihres Säuglings gefährdet. Sie verlässt (weitgehend grundlos, aber grundlos wurden ja auch damals alle Bande zerrissen) ihren Partner, den ihre Familie ohnehin nie akzeptiert hatte, was diesen in Depressionen stürzt. Wie sich die Historie zwischen das Paar drängt, erfahren wir aus Martins Sicht, der als naiver Erzähler fungiert und in vielen Rückblicken mitteilt, wie fremdartig die verstockte Steiner-Welt stets auf ihn gewirkt hat.
Das therapeutische Vordringen an den Ursprung des Traumas wird von Nebenhandlungen erbarmungslos in die Länge gezogen: Das neue Wohngemeinschaftsleben und der Schulalltag werden in all ihrer Drögheit beschrieben; ein Freund des Erzählers mit Rotlichtvorliebe nutzt das niedrige Preisniveau des slowakischen Sexmarktes weidlich aus; die Rechtslastigkeit Österreichs will kommentiert sein; ein Fährmann auf dem Grenzfluss zwischen den beiden Welten trägt schwer an seiner mythischen Rolle; hundertfach denkt der Erzähler an die Verflossene und das Kind, schickt Kurznachrichten, scheint zu vergessen, wird wieder erinnert, leidet und leidet: Fünfhundert Seiten ohne wirkliche Handlung zu füllen ist nicht leicht.
In Limbach - "ein verlorenes Paradies, gleichzeitig aber auch ein Ort des Unterganges" - treffen die Getrennten einander schließlich wieder. Dass der Großvater mit den Nationalsozialisten stärker paktiert hatte als andere "Volksdeutsche", war schon zuvor klar. Deshalb gibt es nun gar kein wirkliches Geheimnis mehr zu entdecken, nur eine sehr typische, von gescheiterten Hoffnungen, Trauer und Schlägen geprägte karpatendeutsche Familiengeschichte, die mit viel Hauruck-Psychologie präsentiert wird.
Stilistisch wie narrativ ist der Roman schwach. Göttfert hangelt sich von Deskription zu Deskription, ohne dass sich daraus ein zusammenhängendes Bild ergäbe. Das Pathetische der Szenerie kippt schließlich sogar ins Lächerliche, wenn sich Ina den Geistern der Vergangenheit stellt wie in einem billigen Mystery-Streifen und dann plötzlich geheilt sein soll. Mehrfach tauchen zudem urplötzlich Figuren aus dem Nichts auf, die bedeutungsschwere Sätze sagen oder gleich ganze Geschichtsreferate halten. Vielleicht wäre ein reportageartiges Sachbuch das bessere Gefäß für diesen wichtigen Inhalt gewesen.
OLIVER JUNGEN
Constantin Göttfert: "Steiners Geschichte". Roman.
Verlag C. H. Beck Verlag, München 2014. 480 S., geb., 19,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
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