Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, CY, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, IRL, I, L, M, NL, P, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Elend zieht es immer zum Elend: Adam Hasletts bewegender Familienliebesroman "Stellt euch vor, ich bin fort".
Depression ist ein schlummerndes Ungeheuer, das die Seele von innen her auffrisst. Um den "Lebensdieb" in Schach zu halten, hat John immer nach Sinn gesucht. Nicht nach dem großen, transzendenten "Sinn per se", sondern nach den kleinen Sinnpartikeln, die beim Überleben helfen. "Doch das reicht nicht, wenn das Ungeheuer seinen Rüssel in deinen Hinterkopf gebohrt hat und das Licht, das durch deine Augen fällt, fortsaugt ins Nichts. Und darum sehne ich mich wie ein Krüppel nach etwas, was für die anderen so selbstverständlich ist, dass sie es gar nicht bemerken: nach einem ganz alltäglichen Sinn. Stattdessen habe ich Worte. Das Ungeheuer raubt mir die Worte nicht. Es raubt mir vielleicht das Sprechen, aber nicht die Worte im Kopf, denn die sind seine Helfer. Eine Armee aus winzigen, unsichtbaren Toten, die ihre winzigen, flirrenden Sicheln schwingen und auf das Fleisch des Geistes einhacken." Sie zermürben John mit ihrem tödlichen Gestichel, mit gebetsmühlenartig wiederholten Selbstvorwürfen, Zweifeln, Ängsten, bis er eines Tages geht, obwohl es ihm das Herz zerreißt.
"Stellt euch vor, ich bin fort" (im Original lakonischer: "Imagine me gone") war eines der Spiele, die John mit seinen Kindern spielte, eine Art Überlebenstraining, etwa wenn er sich beim Bootsausflug plötzlich tot stellte. Jetzt ist er wirklich fort, für immer, und seine Frau und die drei Kinder müssen ohne ihren Kapitän durch schwere See navigieren. Adam Haslett war vierzehn, als sein depressiver Vater sich das Leben nahm. In seinem zweiten, sehr persönlichen Roman erzählt er jetzt, wie eine Familie am Suizid des Vaters fast zerbricht und dann doch die Reihen umso fester schließt. Das Trauma lässt sich weder verdrängen noch wegtherapieren. Der tote Vater lebt in allem und allen weiter, in ihren Gedanken, Partnern, Kindern, in ihrem Gefühl, bei lebendigem Leibe tot zu sein, und in ihrem Lebenshunger, in ihren Schuldkomplexen, ihrer panischen Angst, verlassen zu werden, im lähmenden Bewusstsein des Ungenügens. Depression kann eine genetische Disposition sein, aber sie kann auch gelindert oder sogar geheilt werden durch Verständnis und Liebe: "Wir sind keine Individuen. Die Lebenden suchen uns ebenso heim wie die Toten."
Margaret hat ihren Mann nicht immer verstanden, aber bis zuletzt geliebt. John war Engländer, eine Figur wie von Henry James: sensibel, leise, ein wenig kühl und unbeholfen; so konnte er das Ungeheuer in sich lange hinter Melancholie, Einsamkeit und höflichen Konventionen verbergen. Margaret wusste, auf was sie sich einließ, aber erst seit John nicht mehr da ist, weiß sie, was ihr fehlt. Das Leben muss weitergehen, schon um der Kinder willen, und so hält die Bibliothekarin die Rest-Familie zusammen mit gluckenhafter Mutterliebe, amerikanischem Optimismus und einer Portion weltfremder Betulichkeit. Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise. Haslett erzählt die Geschichte der Hinterbliebenen aus vier verschiedenen Perspektiven, mal ganz nah, mal aus der Vogelperspektive. Jedes Familienmitglied hat eine eigene Stimme, ein anderes Schicksal, alle sind durch gemeinsame Erinnerungen aneinander gebunden auf Gedeih und Verderb.
Celia war immer die Vernünftige in der Familie, und selbst Mutters Sorgen- und Lieblingskind Alec kommt erstaunlich heil aus dem Schlamassel heraus. Schwul (wie Haslett), exhibitionistisch, psychisch labil, prekär beschäftigt als Journalist, scheint er am Tod des Vaters zu zerbrechen, aber dann begegnet er Seth und wird, zu seiner eigenen Verblüffung, von ihm getragen und gehalten. Michael, der älteste Sohn, hat das schlechteste Los gezogen. Schon als Kind hochbegabt und schwer gestört, vergrub er sich an der Universität immer tiefer in einer manisch-depressiven Parallelwelt. Mit verzweifelter Komik, grotesken Phantasien und Gedankengut von Frantz Fanon bis Lacan verkämpft er sich für unterdrückte Minderheiten in aller Welt, um seine Schuld und die der weißen Heteromänner überhaupt zu sühnen. Michael weiß alles über Dubsteb, Acid House und Donna Summers Discomusik, aber er hat kein Glück bei den Frauen und kann nicht einmal tanzen. Er fühlt sich für die Verbrechen aller Sklavenhalter schuldig, aber seine Promotion über generationsübergreifende Traumata in der afroamerikanischen Musik bleibt Fragment, und seine Beziehungen mit schwarzen Frauen und lesbischen Borderlinerinnen scheitern regelmäßig an seiner exzessiven Hingabe (und einem Popdiskursgeschwafel, das auch dem Leser manchmal zu viel wird). Selbst Michaels Albträume sind postkolonial und politisch korrekt: "Elend will Elend" sagt eine anonyme Alkoholikerin achselzuckend über seine obsessive Selbstversklavung.
Schwarze Musik ist für Michael "rückwärtsgewandter Schmerz", und dank diesem "Wunder einer Analogie" (Proust) fühlt er sich als Teil einer größeren Geschichte. "Die Menschen wollen nicht so geliebt werden, wie ich sie liebe", aber er will auch nicht der werden, den sie gerne hätten. Michael schluckt Clonazepam, Fluvoxamin und Nefazodon, um seine Familie und seine Therapeuten zu beruhigen, aber das Störfeuer in seinem Kopf hört nicht auf. Seine Mutter und seine Geschwister kümmern sich liebevoll um ihn, aber seine Selbstzerstörung ist weder auf- noch auszuhalten.
"Stellt euch vor, ich bin fort", für den Pulitzerpreis und den National Book Award nominiert, wurde schon mit Jonathan Franzens "Korrekturen" und Hanya Yanagiharas "Leben" verglichen. Aber Franzen und Yanagihara erzählen von außen, in psychologisch-realistischer Manier von den Spätfolgen frühkindlicher Traumata und kollektiver Erbsünden, während Adam Haslett in seinem Familienliebesroman ganz von innen her schreibt und auch andere Erzählformen - Briefe, therapeutische Protokolle, lyrische Einschübe - benutzt. Depressionen sind für Hasletts neuenglische Mittelstandsfamilie keine bloße Störung des Zusammenlebens, sondern Existenzgrund und Erkenntnisinstrument, ein Höllenfeuer, in dem weiche Gefühle gehärtet und zerfallende Familien zusammengeschmiedet werden.
Wie der achtundvierzigjährige New Yorker Autor die subtile Psychodynamik einer traumatisierten Familie über fast fünfzig Jahre hinweg in all ihren Farbnuancen und historischen Facetten nachzeichnet, ohne dabei ihre Komik zu vernachlässigen oder die Leser runterzuziehen - das ist große Erzählkunst. Es geht um Depression als Erb- und Familienkrankheit. Aber der Roman deprimiert nicht. Er bewegt und rührt und ermutigt vielmehr dazu, das Ungeheuer mit Liebe und Verständnis zu bändigen. Der Vater und sein Kind fallen in den Brunnen des Todes, aber man kann daraus immer noch das klare Wasser von Trost und Sinn schöpfen.
MARTIN HALTER
Adam Haslett: "Stellt euch vor, ich bin fort". Roman.
Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Rowohlt Verlag, Hamburg 2018. 462 S., geb., 22,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH