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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Jan Himmelfarbs Debütroman "Sterndeutung" ist ein literarisches Vexierspiel
Dieser Roman scheint eine einzige Zumutung zu sein, zumindest auf den ersten Blick. Wie soll man sich lesend durch diese vielen verschlungenen Geschichten hindurchfinden, die von Charkow in der Ukraine über Stalingrad und Taschkent bis ins Ruhrgebiet führen? Wie kann man diese Mischung von hartem Realismus, Märchenton und erstaunlichen Phantasien gutheißen? Und warum schließlich soll man sich ausgerechnet für das Leben dieses Arthur Segal interessieren, der im Oktober 1941 zur Welt kam, in einem Zug, der ukrainische Juden nach Osten brachte, in die Sicherheit des großen sowjetischen Reichs, um sie vor den heranrückenden Deutschen zu schützen?
In der Tat, von erzählerischer Ökonomie oder gar von einem einheitlichen Stil hält der 1985 geborene Jan Himmelfarb - wie sein Romanheld stammt er aus der Ukraine - kaum etwas, ebenso wenig von einer straffen und klaren Handlungsführung. Die Kapitel seines Debütromans springen zwischen verschiedenen Zeitebenen und Schauplätzen hin und her, so wie die Erinnerungen des Arthur Segal. Auf den ersten Seiten des Romans feiert er seinen 51. Geburtstag in bürgerlicher Behaglichkeit, irgendwo in Nordrhein-Westfalen. Dennoch ist er immer auf der Hut: Auf keinen Fall möchte er in einem "Ausländerhaus" wohnen, sondern als Deutscher unter Deutschen, geschützt vor allen Anfeindungen durch die Normalität des Alltags.
Als jüdische Kontingentflüchtlinge sind die Segals Anfang der neunziger Jahre in die Bundesrepublik gekommen, nach Jahrzehnten mehr oder weniger verdeckter antisemitischer Anfeindungen, die sie in der Ukraine erlebten. Der Anfang in der neuen Umgebung wird ihnen und ihren Freunden leichtgemacht. Zwar bleibt Ernüchterung nicht aus: "Nach vier Jahren in Deutschland haben alle begriffen: Dies ist kein Land, wo Milch und Honig fließen." Aber, so die beruhigende Feststellung, beides ist im Supermarkt jederzeit zu haben und dazu selbst für diejenigen erschwinglich, die von Sozialhilfe leben müssen. Also doch ein kleines Paradies, von dem die Neuankömmlinge einen ersten Eindruck bereits im freundlichen Durchgangslager Unna-Massen bekommen, auch wenn das Wort "Lager" für das feine Gehör Arthur Segals stets einen beklemmenden Beiklang hat.
Das Lebensthema des Ich-Erzählers ist sein tiefes Staunen über die Zufälligkeit, dass er, Kind einer jüdischen Familie, den Holocaust überlebt hat. Als er 1941 in einem verdunkelten Zugabteil auf dem Weg ins damals noch sichere Stalingrad geboren wurde, waren in Europa andere Züge unterwegs, voll mit "Sternträgern", die in die Gettos und Vernichtungslager gebracht wurden. Immer wieder malt sich Segal diese Todeszüge aus, von denen er als Säugling unmöglich hatte wissen können und von denen er doch so spricht, als hätte er sie mit eigenen Augen gesehen.
Das literarische Vexierspiel ist deutlich, mitunter überdeutlich: Himmelfarb zieht eine Verbindung von seinem Helden zu einem berühmten anderen literarischen Kleinkind, das schon bei seiner Geburt alles verstand, als es in eine helle Glühbirne blickte. Doch anders als der kleinwüchsige Oskar Matzerath aus Grass' "Blechtrommel" ist Arthur Segal kein amoralischer Beobachter der Zeitläufte. Als empathischer Familienvater, als liebevoller Ehemann, als Sohn und Freund versucht er sich im neuen Leben tief im Westen Deutschlands zurechtzufinden. Streckenweise ist das ziemlich komisch. Seine Versuche, ein halbwegs ehrlicher Autohändler zu sein, zeichnen ein liebenswürdiges Bild einer verrufenen Branche. Die jährlichen Geburtstagsfeiern geben den Hintergrund für intensive Streitgespräche und gutgemeinte Versuche der Verständigung über Grenzen der Sprache und Mentalität hinweg. Doch ernste Untertöne sind allenthalben zu hören: Die Angst vor Verfolgung hat Arthur Segal nie verlassen, deshalb weckt die Ausländerfeindlichkeit im Deutschland nach der Wiedervereinigung in ihm alte Ängste, die er mühsam vor den Seinen zu verbergen versucht.
Was aber soll er zu dem nichtjüdischen Freund seiner begabten Tochter sagen, die keine Angst davor hat, die vertraute Familienwelt zu verlassen? Wie soll er auf den Mäzen ihrer renommierten privaten Universität reagieren, dessen Vergangenheit in der SS von allen geflissentlich übersehen wird? Es ist ein Panoramabild aus dem Leben einer jüdischen Aussiedlerfamilie, das Jan Himmelfarb mit kräftigen Strichen und bunten Farben zeichnet. Harte Schnitte zwischen den Zeitebenen und die kindlichen Blicke auf den Massenmord an den Juden aber zeigen deutlich: Ein behaglich-realistischer Familienroman ist das nicht.
Zu einfach wäre es, dem Autor die Unwahrscheinlichkeit der Erzählsituation vorzuwerfen. Denn, so sagt es der kluge Arthur selbst: "was ist unvorstellbarer: dass ich das gesehen habe oder dass es das gegeben hat?" Damit gibt Jan Himmelfarb seinen Lesern einen Schlüssel für das Verständnis dieses kantigen Debüts in die Hand: Keine leichte und konforme Kost hat er zu bieten, wie man sie so oft in Erstlingswerken findet, sondern hier schöpft ein Erzähler aus dem Vollen und schreibt vor dem Hintergrund der deutschen und osteuropäischen Erlebnisse, wie sie typisch für die neuen jüdischen Einwanderer sind, die seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ins Land der ehemaligen Täter übersiedeln. Fragen der stilistischen Einheitlichkeit sind dabei Nebensache. Eine Zumutung, wie gesagt - also ein Roman, an den man sich erinnern wird.
SABINE DOERING
Jan Himmelfarb:
"Sterndeutung". Roman.
Verlag C.H. Beck, München. 2015. 394 S., geb., 21,95 [Euro].
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Sabine Doering, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25. Juni 2015
"Ein beachtliches Debüt."
Meike Fessmann, Süddeutsche Zeitung, 18. Juni 2015
"Man kann einen aufwühlenden Roman und einen sehr begabten jungen Autor entdecken."
Sylvia Schwab, Hessischer Rundfunk
"Jan Himmelfarbs Verdienst ist es, die grosse Erzählung vom Holocaust in die Gegenwart zu verlängern."
Heinrich Vogler, Schweizer Radio und Fernsehen
"Ein lebendiger, komischer und harter Generationenroman."
Heini Vogler, SRF 2 Kultur
"Ein wohlwollend-selbstkritisches Bild der fröhlichen (Parallel-)Gesellschaft der russischen Immigranten, die sich im neuen Wohlstand arrangieren, ohne dabei je das Bewusstsein ihrer Fremdheit zu verlieren."
Stefana Sabin, Neue Zürcher Zeitung
"Vom ersten Satz an setzt Jan Himmelfarb [...] auf höchste Subjektivität, nachdenklich, empfindsam, verletzlich."
Rainer Hartmann, Kölner Stadt-Anzeiger