Seit Frisch und Dürrenmatt hat vielleicht kein Schweizer Schriftsteller mehr solche öffentliche Wirkung gezeitigt wie Lukas Bärfuss. Wenn Lukas Bärfuss über die großen Begriffe nachdenkt: Freiheit, Lüge, Raum, Zeit, »Wo bin ich hier?", dann geschieht das nie im im luftleeren Raum der Abstraktion. Immer erzählt er Geschichten. Er ist neugierig auf die Welt, auf das Kleine und auf das Große. Vor allem wendet er den Blick auf die Menschen, auf die Beziehungen zwischen ihnen: in der Liebe, der Arbeit, der Politik, in der Kunst. »Warum schweigen die Schriftsteller?", fragt Bärfuss fordernd. Er will sich einmischen, und er sieht sich dazu sogar in der Pflicht. Seine biographischen Erfahrungen am unteren Ende der Gesellschaft mögen den Blick geschärft haben für Ungerechtigkeiten und für wohlfeile Ratschläge. Er weiß: Die Antworten sind nicht umsonst zu haben, sie müssen in den Widersprüchen gesucht werden und bleiben zwiespältig. Immer wieder spielt Bärfuss in modellhaft durch, in welches Dilemma einer geraten kann, der im moralischen Sinn richtig handeln will. Was er über Robert Walser schreibt, gilt für ihn selbst: »Seine Literatur fragt mich nicht, wer ich bin, was ich kann, was ich gelesen habe, oder wie groß mein Wissen ist. Sie fragt mich bloß: Bist du bereit? Willst du sehen?"
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.06.2015Lesen ist unmoralisch
Asterix bei den Schweizern: Die neuen Essays des Schriftstellers Lukas Bärfuss sind die stilsichersten Kriegserklärungen an den reichen Westen seit langem.
Was ist denn mit der Schweiz los? Man schrumpft die eigene Wirtschaft klein, Steuersünder stehen am Pranger und die halbe Führungsetage der Fifa wird abgeführt - im popeligen Opel. Vielleicht wird aus dem hochkäsigen Alpen-Wellness-Resort ja noch ein ganz normales Land? Das Schlechteste wäre es sicher nicht, wenn das Volk der Golderbsenzähler aus sauerstoffarmem Gipfeläther hinabstiege in die erdigen Sümpfe der Realität, wenn man, kurz und helvetisch gesagt, verbärfusste. Schließlich übergießt der wohl beste Gegenwartsdramatiker des Landes, eben Lukas Bärfuss, die schnieken Millionärsclubhinterzimmer schon lange mit Kübeln voller Unrat, auf dass die sich in Luxus und Rechtspopulismus suhlende Verlogenheit wenigstens zum Himmel stinke. Lukas Bärfuss ist eine Kämpfernatur, ein Leidgenosse der Kolonisierten und Ausgebeuteten, und damit das, was der Schweiz sonst so sehr fehlt: Hoffnung und Gewissen.
Und er ist ein Unfall des Systems. Früh hat die Schule ihn aufgegeben, ausgeworfen. Doch dann entdeckte der 1971 in Thun geborene Bärfuss, erschüttert durch die Lektüre Robert Walsers, die Feuerkraft des kulturellen Wissens, bewaffnete sich geradezu mit Bildung und Sprachmacht, nahm den Partisanenkampf auf: Er musste besser und schneller werden als die, die ihn aussortiert hatten. In seinen nie abgehobenen, immer fokussierten, grundehrlichen Essays reflektiert Bärfuss wiederholt auf diesen Umweg über das Leben ("Es war Ernstfall, die ganze Zeit") zur Selbstgewissheit: "So habe ich Bildung seither verstanden, als eine Möglichkeit, ein Mensch zu werden, der sich unterscheidet, der anders ist und der diese Differenz nicht als Makel, sondern als Auszeichnung versteht."
In dieser Rolle hält Bärfuss den Lesern - und längst nicht nur den Schweizern - den Spiegel vor. Die gesamte Heuchelei der westlichen Moderne ist sein Thema. Hinter den aufgesetzten Masken besitze unsere Zeit kein echtes Gesicht mehr, heißt es, doch das Wahre würde erst die Kostümierung als solche erkennbar machen: "Vielleicht ist alles zur Maske geworden, jedenfalls scheint die Biegsamkeit, die unsere Zeit vom Einzelnen einfordert, dafür zu sprechen."
Der Eskapismus aber, so lautet die zentrale Botschaft dieser im besten Sinne engagierten Texte, ist nicht länger tragbar. Und doch haben wir es nicht mit eitlen Anklagen zu tun, sondern mit Selbsterforschungen: Lukas Bärfuss leitet seine Gedanken fast immer aus eigenen Erfahrungen ab. Einmal lehrt ihn ein verleideter Theaterbesuch - die nach Knoblauch stinkende Nachbarin lenkt alle Sinne von Tschechow ab -, "dass das Theater alles ist, was der Fall ist, und zwar wirklich alles", dass das Theater sich also über das Leben nicht erheben dürfe. Ein anderes Mal bemerkt er beschämt, wie das, was er für Stil hielt - die Kleidung einer jungen Skifahrerin -, einfach nur Armut war, was ihn zu der Frage führt, "wie man sich in dieser scheußlichen Welt überhaupt noch mit Nebensächlichkeiten wie Stilfragen aufhalten kann". Dann geißelt er die eigene, billige Empörung über Menschenrechtsverletzungen in den Golfstaaten: "Denn die Geschäfte mit diesen barbarischen Emiren laufen wie geschmiert. Ohne ihren Betriebsstoff würde der aufgeklärte Bürger seine Identität kaum einen Tag aufrechterhalten können."
Auf dem Höhepunkt dieser Argumentationslinie bricht im Abschlussessay auch noch die letzte Legitimation des Kulturbürgertums weg, denn der Leser müsse einsehen, "welche moralische Sauerei Ihre Lektüre darstellt". Das ist ironisch formuliert, aber keineswegs ironisch gemeint, denn für Lukas Bärfuss ist klar: "wer einen Roman zu Ende gelesen hat, fragt sich nicht, wie er die Welt verändern kann, sondern welches Buch er als nächstes lesen soll." In den Flüchtlingslagern der Welt wird derweil weiter gestorben.
In einem anderen dieser Denkstücke fragt sich Bärfuss, ob der Nationalstaat zu einer unzeitgemäßen Gewohnheit geworden ist: so wie die irrationale Liebe des Autors zu seinen ausgelatschten Lieblingsschuhen, ein purer Fetisch. Und er fragt auch dies natürlich nicht freischwebend theoretisch, sondern in direkter Adressierung des Schweizer Modells: "Gibt es einen Zeitpunkt, an dem wir zugeben müssen, dass der Staat seinen Zweck nicht mehr erfüllt?" Und wenn dem so sei in einer globalisierten Moderne, müsse dann nicht ganz pragmatisch nach einem neuen Modell gesucht werden? Es ist eine bewusst naiv gestellte Frage mit gewaltigen Implikationen, denn der Rest Europas scheint zurzeit ja das Schweizer Abschottungsmodell - tumbe Renationalisierung statt transnationaler Gemeinschaft - immer verlockender zu finden.
Hier mit dem Drachentöterspeer gleich ins Herz des nationalkonservativen Phantasmas vorzustoßen, zeigt den wahren Subversiven. Eines muss man den alpinen "Wilden" ("Den Menschen aber, dessen Kultur die Natur ist, nennt man einen Wilden") also doch zugutehalten: Sie haben uns in ihrer allem L'art pour l'art abholden Käsefondue-Mentalität einen Lukas Bärfuss beschert, dessen luzider, unbestechlicher Blick heute nötiger ist denn je.
OLIVER JUNGEN
Lukas Bärfuss: "Stil und Moral". Essays.
Wallstein Verlag: Göttingen 2015. 235 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Asterix bei den Schweizern: Die neuen Essays des Schriftstellers Lukas Bärfuss sind die stilsichersten Kriegserklärungen an den reichen Westen seit langem.
Was ist denn mit der Schweiz los? Man schrumpft die eigene Wirtschaft klein, Steuersünder stehen am Pranger und die halbe Führungsetage der Fifa wird abgeführt - im popeligen Opel. Vielleicht wird aus dem hochkäsigen Alpen-Wellness-Resort ja noch ein ganz normales Land? Das Schlechteste wäre es sicher nicht, wenn das Volk der Golderbsenzähler aus sauerstoffarmem Gipfeläther hinabstiege in die erdigen Sümpfe der Realität, wenn man, kurz und helvetisch gesagt, verbärfusste. Schließlich übergießt der wohl beste Gegenwartsdramatiker des Landes, eben Lukas Bärfuss, die schnieken Millionärsclubhinterzimmer schon lange mit Kübeln voller Unrat, auf dass die sich in Luxus und Rechtspopulismus suhlende Verlogenheit wenigstens zum Himmel stinke. Lukas Bärfuss ist eine Kämpfernatur, ein Leidgenosse der Kolonisierten und Ausgebeuteten, und damit das, was der Schweiz sonst so sehr fehlt: Hoffnung und Gewissen.
Und er ist ein Unfall des Systems. Früh hat die Schule ihn aufgegeben, ausgeworfen. Doch dann entdeckte der 1971 in Thun geborene Bärfuss, erschüttert durch die Lektüre Robert Walsers, die Feuerkraft des kulturellen Wissens, bewaffnete sich geradezu mit Bildung und Sprachmacht, nahm den Partisanenkampf auf: Er musste besser und schneller werden als die, die ihn aussortiert hatten. In seinen nie abgehobenen, immer fokussierten, grundehrlichen Essays reflektiert Bärfuss wiederholt auf diesen Umweg über das Leben ("Es war Ernstfall, die ganze Zeit") zur Selbstgewissheit: "So habe ich Bildung seither verstanden, als eine Möglichkeit, ein Mensch zu werden, der sich unterscheidet, der anders ist und der diese Differenz nicht als Makel, sondern als Auszeichnung versteht."
In dieser Rolle hält Bärfuss den Lesern - und längst nicht nur den Schweizern - den Spiegel vor. Die gesamte Heuchelei der westlichen Moderne ist sein Thema. Hinter den aufgesetzten Masken besitze unsere Zeit kein echtes Gesicht mehr, heißt es, doch das Wahre würde erst die Kostümierung als solche erkennbar machen: "Vielleicht ist alles zur Maske geworden, jedenfalls scheint die Biegsamkeit, die unsere Zeit vom Einzelnen einfordert, dafür zu sprechen."
Der Eskapismus aber, so lautet die zentrale Botschaft dieser im besten Sinne engagierten Texte, ist nicht länger tragbar. Und doch haben wir es nicht mit eitlen Anklagen zu tun, sondern mit Selbsterforschungen: Lukas Bärfuss leitet seine Gedanken fast immer aus eigenen Erfahrungen ab. Einmal lehrt ihn ein verleideter Theaterbesuch - die nach Knoblauch stinkende Nachbarin lenkt alle Sinne von Tschechow ab -, "dass das Theater alles ist, was der Fall ist, und zwar wirklich alles", dass das Theater sich also über das Leben nicht erheben dürfe. Ein anderes Mal bemerkt er beschämt, wie das, was er für Stil hielt - die Kleidung einer jungen Skifahrerin -, einfach nur Armut war, was ihn zu der Frage führt, "wie man sich in dieser scheußlichen Welt überhaupt noch mit Nebensächlichkeiten wie Stilfragen aufhalten kann". Dann geißelt er die eigene, billige Empörung über Menschenrechtsverletzungen in den Golfstaaten: "Denn die Geschäfte mit diesen barbarischen Emiren laufen wie geschmiert. Ohne ihren Betriebsstoff würde der aufgeklärte Bürger seine Identität kaum einen Tag aufrechterhalten können."
Auf dem Höhepunkt dieser Argumentationslinie bricht im Abschlussessay auch noch die letzte Legitimation des Kulturbürgertums weg, denn der Leser müsse einsehen, "welche moralische Sauerei Ihre Lektüre darstellt". Das ist ironisch formuliert, aber keineswegs ironisch gemeint, denn für Lukas Bärfuss ist klar: "wer einen Roman zu Ende gelesen hat, fragt sich nicht, wie er die Welt verändern kann, sondern welches Buch er als nächstes lesen soll." In den Flüchtlingslagern der Welt wird derweil weiter gestorben.
In einem anderen dieser Denkstücke fragt sich Bärfuss, ob der Nationalstaat zu einer unzeitgemäßen Gewohnheit geworden ist: so wie die irrationale Liebe des Autors zu seinen ausgelatschten Lieblingsschuhen, ein purer Fetisch. Und er fragt auch dies natürlich nicht freischwebend theoretisch, sondern in direkter Adressierung des Schweizer Modells: "Gibt es einen Zeitpunkt, an dem wir zugeben müssen, dass der Staat seinen Zweck nicht mehr erfüllt?" Und wenn dem so sei in einer globalisierten Moderne, müsse dann nicht ganz pragmatisch nach einem neuen Modell gesucht werden? Es ist eine bewusst naiv gestellte Frage mit gewaltigen Implikationen, denn der Rest Europas scheint zurzeit ja das Schweizer Abschottungsmodell - tumbe Renationalisierung statt transnationaler Gemeinschaft - immer verlockender zu finden.
Hier mit dem Drachentöterspeer gleich ins Herz des nationalkonservativen Phantasmas vorzustoßen, zeigt den wahren Subversiven. Eines muss man den alpinen "Wilden" ("Den Menschen aber, dessen Kultur die Natur ist, nennt man einen Wilden") also doch zugutehalten: Sie haben uns in ihrer allem L'art pour l'art abholden Käsefondue-Mentalität einen Lukas Bärfuss beschert, dessen luzider, unbestechlicher Blick heute nötiger ist denn je.
OLIVER JUNGEN
Lukas Bärfuss: "Stil und Moral". Essays.
Wallstein Verlag: Göttingen 2015. 235 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Die neuen Essays des Schriftstellers Lukas Bärfuss sind die stilsichersten Kriegserklärungen an den reichen Westen seit langem.« Oliver Jungen, Frankfurter Allgemeine Zeitung