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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Ein Band untersucht, wie Nahrungskonzerne unsere Gesundheit gefährden
Eine unglaubliche Wut müssen Wilfried Bommert und Christina Sartori auf die Nahrungsmittelindustrie haben. Mit vernichtenden Worten machen der Agrarwissenschaftler und die Biologin in ihrem Buch "Stille Killer" Unternehmen wie Nestlé, Danone, Kraft Heinz und Mondelez International dafür verantwortlich, dass so viele Menschen übergewichtig sind. Nicht wir selbst seien schuld an unseren Fettrollen, sondern die Firmen, die uns süchtig machten nach ungesundem Essen und damit "fette Profite" erzielten.
Die Autoren sprechen durchgehend von Adipositas - landläufig Fettsucht oder Fettleibigkeit -, erklären aber nicht, was das eigentlich ist. Auch wenn sie suggerieren, Adipositas sei eine Sucht, ist diese Frage wissenschaftlich bisher nicht geklärt. Zudem behaupten Bommert und Sartori, Übergewicht sei kein persönliches Problem. Tatsächlich entwickelt es sich aus einem Zusammenspiel verschiedener Ursachen: der erblichen Neigung, dem Verhalten der Mutter während der Schwangerschaft, Bewegungsmangel und falscher Ernährung. Im Buch heißt es, Betroffene seien "dick gemacht worden" von einem "adipösen System", es ist von Werbe-Feldzügen und einer pandemischen Fettwelle die Rede.
Richtig ist, dass die Nahrungsmittelindustrie Lebensmittel mit ungesunden Zutaten produziert, die das Risiko für Übergewicht erhöhen. Aber meinen die Autoren, ihrem Ansinnen nur mit einer drastischen Sprache Nachdruck verschaffen zu können? Zahlen wären besser gewesen: 2,8 Millionen Todesfälle pro Jahr sind weltweit etwa auf die Folgen von Übergewicht und Adipositas zurückzuführen. Bommert und Sartori diskutieren dafür, wie "Big Food" so groß werden konnte. Detailliert ist zu erfahren, wie die Nahrungskonzerne begannen, unser Essverhalten zu beeinflussen, wie sie sich finanzieren, mit welchen Tricks sie in ihrer "Hexenküche" arbeiten, um den Umsatz zu steigern, und warum die Deutschen so empfänglich für ihre Produkte sind.
Das "Fast-Food-Kartell" könne man in die Knie zwingen, schlagen die Autoren vor, nähme man sich den Kampf gegen die Tabakindustrie zum Vorbild: Steuer auf ungesunde Produkte, Klagen gegen die Industrie, Eltern sensibilisieren, Hilfen für das Abnehmen anbieten, Gesetze schaffen, Kontrollen und Sanktionen. Der Ausweg der Autoren hört sich an wie ein politisches Manifest: Um gesunde Ernährung müsse gekämpft werden, ja, es brauche ein Menschenrecht auf gesunde Ernährung. Außerdem müssten junkfoodfreie Zonen entstehen, eine unabhängige Ernährungspolitik gesichert und eine Konvention der Vereinten Nationen verabschiedet werden: "Es wird Verlierer geben und einige müssen fürchten, alles zu verlieren, was ihnen heute Macht und Profite garantiert."
Weniger wäre in diesem Buch oft mehr gewesen. Das gilt auch für die 705 Literaturquellen, bei denen es den Autoren mitunter an Sorgfalt (oder Kenntnissen?) gefehlt hat. So gibt es zu manchen Einlassungen inzwischen neuere Studien, die auch Bommert und Sartori schon hätten kennen können. Immer wieder zitieren sie Tageszeitungen oder Internetseiten - etwa den "Tagesspiegel" oder die "New York Times" - statt die primäre Studie, auf die sie sich eigentlich beziehen. Eine Magenverkleinerung kann in der Tat Nachteile haben. Diese wären aber den medizinischen Studien und Leitlinien zu entnehmen und nicht den Ratgeberseiten vom Norddeutschen Rundfunk. Und es hätten die Vorteile dieser für manche adipösen Menschen einzigen Möglichkeit, ihr Übergewicht in den Griff zu bekommen, gegenübergestellt werden können.
In einer Studie aus der Schweiz sollen den Autoren zufolge "signifikante Verminderungen" von wichtigen Nährstoffen in sechs gängigen Gemüsesorten im Vergleich zu vor dreißig bis fünfzig Jahren angebotenen gemessen worden sein. Das stimmt zwar, was Magnesium, Kupfer, Vitamin B2 und Vitamin C angeht. Aber der Bedarf werde durch Gemüse weiterhin adäquat gedeckt, so die Originalstudie. Die beschriebenen Aktionen einiger Länder zur Reduktion ungesunder Nahrung sind vorbildhaft. Es fehlt jedoch die Einordnung, dass das noch nichts darüber aussagt, ob Menschen dort nun gesünder leben und nicht mehr so dick werden.
An den Epidemien könne "der Staatsmann von 'grossem Styl' erkennen", so zitieren die Autoren am Ende den Arzt Rudolf Virchow, dass "in dem Entwicklungsgange seines Volkes eine Störung ist, welche selbst eine sorglose Politik nicht länger übersehen darf". Bommert und Sartori zeigen sich optimistisch, dass der Medizinalrat doch noch Gehör finden werde, vorausgesetzt, die Zivilgesellschaft legt sich entsprechend ins Zeug. FELICITAS WITTE
Wilfried Bommert und Christina Sartori: "Stille Killer". Wie Big Food unsere Gesundheit gefährdet.
Hirzel Verlag, Stuttgart 2022. 240 S., Abb., br., 20,- Euro.
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Annette Jensen taz 20220708