Stimmung als zentrales produktions- und wirkungsästhetisches Kriterium moderner Kunst. Die ästhetisch-literarische Kategorie der »Stimmung" nimmt eine herausragende Stellung im Rahmen des in den vergangenen Jahren beobachteten »emotional turn" (Thomas Anz) ein. Anders als Gefühle und Affekte stammt der Begriff »Stimmung" ursprünglich aus einem musikästhetischen Zusammenhang und erfuhr erst später seine ihm heute primär zugeschriebene, psychologische, aber auch existenzphilosophische Konnotation. Friederike Reents untersucht die Geschichte des Stimmungsbegriffs ausgehend von Kants »Kritik der Urteilskraft" und zeigt, wie sowohl die Theorie als auch die ästhetischen Manifestationen stark von der Literatur-, der Ästhetik- und der Zeitgeschichte beeinflusst wurden. So präsentiert sich der Stimmungsdiskurs jeweils als Jahrhundertwende-Phänomen: Um 1800, um 1900 sowie um 2000 verdichtete sich dieser jeweils beträchtlich, während um 1850, aber auch nach 1945 beziehungsweise 1968 die Auseinandersetzung mit der polysemantischen, im 20. Jahrhundert schließlich unter Ideologieverdacht stehenden Kategorie stark zurückging.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.11.2016Da geschah ihm die grüne Tapete
Was bedeutet der Begriff der Stimmung für die Literatur? Eine Grundlagenstudie der Germanistin Friederike Reents
Eine Novelle wie "Der Tod in Venedig" liest man nicht, weil man etwas über den Verlauf heikler Passionen erfahren will, sondern um eine Ahnung von der Gegenwart des Todes im Leben auszukosten. Morbide Atmosphäre, das ist es. Gute Literatur ist Stimmungssache. Auch ein Roman von Houellebecq oder Hemingway transportiert ein Lebensgefühl, ein existentielles Aroma. Die Leser lassen sich davon berühren und faszinieren. Es geht dabei weniger um die Zuschreibung von Sinn als um eine Präsenzerfahrung durch Texte.
Solche schwer auslotbaren literarischen Qualitäten hat die jüngere Literaturwissenschaft vernachlässigt. Stimmung galt ihr als zu weiche und deshalb suspekte Kategorie. Lange genug war es allerdings vor allem in der Germanistik eher gefühlig zugegangen: Da wurde ausgiebig der "Brei des Herzens" (Hegel) gelöffelt; der Psychologismus und die versuchte Einstimmung in die Dichterseelen führte zu mitunter schwülstigen Exegesen, denen erst mehrere Rationalisierungsschübe den methodischen Riegel vorschoben. Der "Tod des Autors" im Diskursgewimmel erledigte dann auch die Stimmungsästhetik.
Aber nur was eine Weile tot ist, hat die Chance zur Wiederauferstehung. Seit einigen Jahren erfährt das Thema "Stimmung" eine erstaunliche Renaissance. Wie der Romanist Hans Ulrich Gumbrecht in seinem 2011 erschienenen Essayband "Stimmungen lesen" ausführt, macht sich dabei auch ein Unbehagen an den abgenutzten Theorien der Dekonstruktion und des Poststrukturalismus geltend. Die Stimmungs-Qualitäten von Literatur mögen analytisch schwer greifbar sein, aber aus ihnen lassen sich gute Argumente gegen die These gewinnen, dass literarische Texte nichts als mit sich selbst beschäftigte Zeichensysteme seien. "Stimmung" ist ein Schlüssel zur Verbindung von Leser, Literatur und Wirklichkeit. Im Stimmungsgehalt zeigt sich, dass Texte "Realität" regelrecht absorbieren können.
Die Heidelberger Germanistin Friederike Reents, Jahrgang 1972, hat nun eine umfangreiche Studie zur Stimmungsästhetik vorgelegt, die sich mit ihrem Reichtum an Aspekten als Hand- und Hintergrundbuch zum Thema empfiehlt. Im Mittelpunkt stehen zwei Höhepunkte des Stimmungsdiskurses um 1800 und 1900 - Jahrhundertwenden erweisen sich als besonders stimmungsanfällig. Zum einen wird der hohe Rang deutlich, den die "Stimmung" in den ästhetischen Theorien Kants, Schillers und der Romantik innehatte. Zum anderen werden die Stimmungslagen der Moderne zwischen Pathos und Ernüchterung ins Auge gefasst.
Ludwig Tieck, der Erfinder der "Waldeinsamkeit", lässt diese Stimmungschiffre in seiner letzten Novelle bereits als kurrente Floskel in einer Immobilienanzeige auftauchen, die ihr Objekt mit "vortrefflicher Waldeinsamkeit" anpreist. Erst recht Heine erweist sich als Meister der ambivalenten Stimmungskunst. Er beschwört die romantischen Topoi, um sie mittels Ironie und Parodie zu ernüchtern - und gerade durch die raffinierte Gebrochenheit im Kern zu bewahren. Seinen "Stimmungskippbildern" widmet Reents eine vorzügliche Analyse.
Die Studie versucht möglichst vielfältige Aspekte abzudecken: Es geht um "Stimmungsräume", um poetische "Stimmungsträger" wie Musik, Kunst, Wetter und Landschaft, aber ebenso um den theoretischen Diskurs über Stimmungen oder um die "Einstimmungstechniken" der Autoren. Es fehlt nicht ein Kapitel über die altbewährten Stimmungsmodulatoren Wein, Weib und Gesang, neudeutsch: Sex, Drugs und Rock 'n' Roll.
Der Begriff der Stimmung hat ein sehr weites semantisches Feld, er kann sich auf die atmosphärischen Details eines Schauplatzes ebenso beziehen wie auf die Stimmung einer ganzen Epoche. Reents grenzt ihn ab von den Affekten und Gefühlen; Stimmungen seien "tendenziell ungerichtet, diffus und von längerer Dauer". Die Grundstimmung einer Welt, die Stimmung des Autors, die Stimmung seines Werkes und schließlich die des Lesers müssen nicht einheitlich sein. Gut denkbar, dass ein Werk, das den Lesern eine Grundstimmung der Verzweiflung vermittelt, vom Autor im Zustand manischer Euphorie geschrieben wurde (Thomas Bernhard, Heinz Strunk) - oder umgekehrt (Stifter).
Fünfzig Seiten widmet Reents den "Buddenbrooks", einem Roman, der mit seiner Verfallsstimmung zweifellos ein zentrales Werk zum Thema ist. Hier liest man aufschlussreiche Exkurse in die Quellenphilologie und, kein Scherz, in die Tapetenforschung. Dabei geht es zum einen um die ungünstigen Nachwirkungen von Tony Buddenbrooks schauerromantischer Hoffmann-Lektüre, zum anderen um das Schweinfurter Grün der Originaltapeten im Landschaftszimmer der Familie Mann, die durch ihren hohen Arsen- und Kupfergehalt stark gesundheitsschädlich waren - womöglich ein neuer Schlüssel zur "giftigen" Atmosphäre des Niedergangs.
Einige Textinterpretationen wirken ein wenig bemüht, etwa wenn Friederike Reents der launigen "Bierode" Gottfried Benns, offenkundig eine prostend-parodistische Rekapitulation der Evolutionsgeschichte im Zeichen des Gerstensafts, partout Bezüge zum nationalsozialistischen Deutschland von 1935 abgewinnen will. Davon abgesehen steht Benn aber mit Recht im Fokus dieser Studie, weil sich an ihm ein entscheidender Widerspruch der Moderne besonders deutlich zeigt: Dem Tabu des Stimmungsmäßigen, das Benn in seiner berühmten Marburger Rede über "Probleme der Lyrik" (1951) formulierte, korrespondiert bei ihm eine starke Anfälligkeit für Stimmungen. Das betrifft nicht nur seine bisweilen die Kitschgrenze überschreitende Rosen-Lyrik, sondern ebenso den auf Sachlichkeit und Ausnüchterung getrimmten Parlando-Ton seiner "Statischen Gedichte", die für eine maßgebliche literarische Stimmung nach 1945 stehen.
Überzeugend zeigt Reents auch an anderen Autoren, dass die Verhaltenslehren der Kälte, die für die "objektivierenden" Schreibweisen der Moderne leitend wurden, zwar dem Gefühlskitsch vorbauen sollten, aber durchaus keine Minderung des Stimmungswertes bedeuteten. Auch die Neue Sachlichkeit bietet demnach Stimmungswerte, die bis heute wirksam sind, zum Beispiel in den Wohnungen, die mit glatten Oberflächen, Leere und Weiße ein modernes Lebensgefühl vermitteln wollen.
Stimmung ist eben überall, gerade auch dort, wo man sich besonders ausgekühlt und stimmungsfeindlich gibt. Reents' anregende Studie ist kein ausgekühltes systematisches Werk, sondern der leidenschaftliche Versuch, ein schwer zu fassendes, aber zentrales Thema einzukreisen, um das sich viele wissenschaftliche Arbeiten herumdrücken: die ästhetische Wirkung von Literatur.
WOLFGANG SCHNEIDER
Friederike Reents: "Stimmungsästhetik". Realisierungen in der Literatur und Theorie vom 17. bis ins 21. Jahrhundert.
Wallstein Verlag, Göttingen 2015. 532 S., geb., 49,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Was bedeutet der Begriff der Stimmung für die Literatur? Eine Grundlagenstudie der Germanistin Friederike Reents
Eine Novelle wie "Der Tod in Venedig" liest man nicht, weil man etwas über den Verlauf heikler Passionen erfahren will, sondern um eine Ahnung von der Gegenwart des Todes im Leben auszukosten. Morbide Atmosphäre, das ist es. Gute Literatur ist Stimmungssache. Auch ein Roman von Houellebecq oder Hemingway transportiert ein Lebensgefühl, ein existentielles Aroma. Die Leser lassen sich davon berühren und faszinieren. Es geht dabei weniger um die Zuschreibung von Sinn als um eine Präsenzerfahrung durch Texte.
Solche schwer auslotbaren literarischen Qualitäten hat die jüngere Literaturwissenschaft vernachlässigt. Stimmung galt ihr als zu weiche und deshalb suspekte Kategorie. Lange genug war es allerdings vor allem in der Germanistik eher gefühlig zugegangen: Da wurde ausgiebig der "Brei des Herzens" (Hegel) gelöffelt; der Psychologismus und die versuchte Einstimmung in die Dichterseelen führte zu mitunter schwülstigen Exegesen, denen erst mehrere Rationalisierungsschübe den methodischen Riegel vorschoben. Der "Tod des Autors" im Diskursgewimmel erledigte dann auch die Stimmungsästhetik.
Aber nur was eine Weile tot ist, hat die Chance zur Wiederauferstehung. Seit einigen Jahren erfährt das Thema "Stimmung" eine erstaunliche Renaissance. Wie der Romanist Hans Ulrich Gumbrecht in seinem 2011 erschienenen Essayband "Stimmungen lesen" ausführt, macht sich dabei auch ein Unbehagen an den abgenutzten Theorien der Dekonstruktion und des Poststrukturalismus geltend. Die Stimmungs-Qualitäten von Literatur mögen analytisch schwer greifbar sein, aber aus ihnen lassen sich gute Argumente gegen die These gewinnen, dass literarische Texte nichts als mit sich selbst beschäftigte Zeichensysteme seien. "Stimmung" ist ein Schlüssel zur Verbindung von Leser, Literatur und Wirklichkeit. Im Stimmungsgehalt zeigt sich, dass Texte "Realität" regelrecht absorbieren können.
Die Heidelberger Germanistin Friederike Reents, Jahrgang 1972, hat nun eine umfangreiche Studie zur Stimmungsästhetik vorgelegt, die sich mit ihrem Reichtum an Aspekten als Hand- und Hintergrundbuch zum Thema empfiehlt. Im Mittelpunkt stehen zwei Höhepunkte des Stimmungsdiskurses um 1800 und 1900 - Jahrhundertwenden erweisen sich als besonders stimmungsanfällig. Zum einen wird der hohe Rang deutlich, den die "Stimmung" in den ästhetischen Theorien Kants, Schillers und der Romantik innehatte. Zum anderen werden die Stimmungslagen der Moderne zwischen Pathos und Ernüchterung ins Auge gefasst.
Ludwig Tieck, der Erfinder der "Waldeinsamkeit", lässt diese Stimmungschiffre in seiner letzten Novelle bereits als kurrente Floskel in einer Immobilienanzeige auftauchen, die ihr Objekt mit "vortrefflicher Waldeinsamkeit" anpreist. Erst recht Heine erweist sich als Meister der ambivalenten Stimmungskunst. Er beschwört die romantischen Topoi, um sie mittels Ironie und Parodie zu ernüchtern - und gerade durch die raffinierte Gebrochenheit im Kern zu bewahren. Seinen "Stimmungskippbildern" widmet Reents eine vorzügliche Analyse.
Die Studie versucht möglichst vielfältige Aspekte abzudecken: Es geht um "Stimmungsräume", um poetische "Stimmungsträger" wie Musik, Kunst, Wetter und Landschaft, aber ebenso um den theoretischen Diskurs über Stimmungen oder um die "Einstimmungstechniken" der Autoren. Es fehlt nicht ein Kapitel über die altbewährten Stimmungsmodulatoren Wein, Weib und Gesang, neudeutsch: Sex, Drugs und Rock 'n' Roll.
Der Begriff der Stimmung hat ein sehr weites semantisches Feld, er kann sich auf die atmosphärischen Details eines Schauplatzes ebenso beziehen wie auf die Stimmung einer ganzen Epoche. Reents grenzt ihn ab von den Affekten und Gefühlen; Stimmungen seien "tendenziell ungerichtet, diffus und von längerer Dauer". Die Grundstimmung einer Welt, die Stimmung des Autors, die Stimmung seines Werkes und schließlich die des Lesers müssen nicht einheitlich sein. Gut denkbar, dass ein Werk, das den Lesern eine Grundstimmung der Verzweiflung vermittelt, vom Autor im Zustand manischer Euphorie geschrieben wurde (Thomas Bernhard, Heinz Strunk) - oder umgekehrt (Stifter).
Fünfzig Seiten widmet Reents den "Buddenbrooks", einem Roman, der mit seiner Verfallsstimmung zweifellos ein zentrales Werk zum Thema ist. Hier liest man aufschlussreiche Exkurse in die Quellenphilologie und, kein Scherz, in die Tapetenforschung. Dabei geht es zum einen um die ungünstigen Nachwirkungen von Tony Buddenbrooks schauerromantischer Hoffmann-Lektüre, zum anderen um das Schweinfurter Grün der Originaltapeten im Landschaftszimmer der Familie Mann, die durch ihren hohen Arsen- und Kupfergehalt stark gesundheitsschädlich waren - womöglich ein neuer Schlüssel zur "giftigen" Atmosphäre des Niedergangs.
Einige Textinterpretationen wirken ein wenig bemüht, etwa wenn Friederike Reents der launigen "Bierode" Gottfried Benns, offenkundig eine prostend-parodistische Rekapitulation der Evolutionsgeschichte im Zeichen des Gerstensafts, partout Bezüge zum nationalsozialistischen Deutschland von 1935 abgewinnen will. Davon abgesehen steht Benn aber mit Recht im Fokus dieser Studie, weil sich an ihm ein entscheidender Widerspruch der Moderne besonders deutlich zeigt: Dem Tabu des Stimmungsmäßigen, das Benn in seiner berühmten Marburger Rede über "Probleme der Lyrik" (1951) formulierte, korrespondiert bei ihm eine starke Anfälligkeit für Stimmungen. Das betrifft nicht nur seine bisweilen die Kitschgrenze überschreitende Rosen-Lyrik, sondern ebenso den auf Sachlichkeit und Ausnüchterung getrimmten Parlando-Ton seiner "Statischen Gedichte", die für eine maßgebliche literarische Stimmung nach 1945 stehen.
Überzeugend zeigt Reents auch an anderen Autoren, dass die Verhaltenslehren der Kälte, die für die "objektivierenden" Schreibweisen der Moderne leitend wurden, zwar dem Gefühlskitsch vorbauen sollten, aber durchaus keine Minderung des Stimmungswertes bedeuteten. Auch die Neue Sachlichkeit bietet demnach Stimmungswerte, die bis heute wirksam sind, zum Beispiel in den Wohnungen, die mit glatten Oberflächen, Leere und Weiße ein modernes Lebensgefühl vermitteln wollen.
Stimmung ist eben überall, gerade auch dort, wo man sich besonders ausgekühlt und stimmungsfeindlich gibt. Reents' anregende Studie ist kein ausgekühltes systematisches Werk, sondern der leidenschaftliche Versuch, ein schwer zu fassendes, aber zentrales Thema einzukreisen, um das sich viele wissenschaftliche Arbeiten herumdrücken: die ästhetische Wirkung von Literatur.
WOLFGANG SCHNEIDER
Friederike Reents: "Stimmungsästhetik". Realisierungen in der Literatur und Theorie vom 17. bis ins 21. Jahrhundert.
Wallstein Verlag, Göttingen 2015. 532 S., geb., 49,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Reents' anregende Studie ist kein ausgekühltes systematisches Werk, sondern der leidenschaftliche Versuch, ein schwer zu fassendes, aber zentrales Thema einzukreisen« (Wolfgang Schneider, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.11.2016) »der leidenschaftliche Versuch, ein schwer zu fassendes, aber zentrales Thema einzukreisen, um das sich viele wissenschaftliche Arbeiten herumdrücken: die ästhetische Wirkung von Literatur« (Wolfgang Schneider, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.11.16) »Mit imponierender Belesenheit entfaltet die Verf. den semantischen Facettenreichtum des Begriffs und liefert (...) seine derzeit wohl differenzierteste und vollständigste Geschichte« (Paul Mog, Germanistik, 2015 Band 56 Heft 3-4) »Wer sich über das Thema der Stimmungsästhetik informieren will, kommt an Reents' Buch nicht vorbei« (Stefan Tuczek, literaturkritik.de, 01.06.2017) »Wie ein Kompendium führt Reents einerseits die neuralgischen Punkte der vorliegenden Forschung zusammen, setzt aber auch neue Schwerpunkte.« (Anna-Katharina Gisbertz, Arbitrium 37(1), 2019)