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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Zauberin
Die größten amerikanischen Autoren liegen
Joy Williams zu Füßen. Unerklärlich, dass
sie erst jetzt ins Deutsche übersetzt wird
VON MEIKE FESSMANN
Wie lässig das alles ist, wie cool – und doch mit einem Gespür für das Abgetakelte, Ausgeschlossene, Abgewrackte und Verrottende. Unheimlich wie ein Urwald, auf morbide Weise anziehend und von einer kühlen, schroffen Klarheit nehmen die Storys von Joy Williams mit fast schon obszöner Grandezza für sich ein.
Autos spielen in diesen Storys eine tragende Rolle, ihrem schwarzen Jaguar XK 150 trauere sie immer noch nach, bekannte Williams 2014 in einem Interview. In einem weißen Cabrio kurvt „der Geliebte“ in der gleichnamigen Erzählung durch die Gegend, er offenbar wohlhabend, mit einem stabilen Freundschafts- und Beziehungsnetz, sie jung, unbedarft und mit einer kleinen Tochter, die er den Freunden gegenüber „pflegeleicht“ nennt: „Sie würde Unaussprechliches für ihn tun, Unverzeihliches, alles. Sie ist verloren, nur nicht in ihm. Sie möchte sich in ihm verlieren und nicht gefunden werden.“
Wie ein Haken schlagender Hase auf der Flucht jagen die Sätze übers Papier und scheinen sich manchmal selbst zu torpedieren. Nichts ist erwartbar in diesen Geschichten, auch wenn die Figurenkonstellation oft gleich zu Anfang scharf umrissen wird. In der ersten der dreizehn Erzählungen aus mehr als vierzig Jahren heißt es: „Jones, der Prediger, hat sein Leben lang geliebt. Er staunt selbst darüber, denn soweit er es beurteilen kann, hat es nie jemandem genützt, auch wenn es gewürdigt wurde, was selten der Fall war.“ Seine Frau ist an Krebs erkrankt, seine Tochter sucht ihr Seelenheil auf einem esoterischen Trip in Mexiko und hat ihre halbjährige Tochter und den Hund bei ihm zurückgelassen. In der Kluft zwischen der nüchternen Sprache der Ärzte und seinen Gefühlen nistet sich die Angst ein. Die Geschichte aus dem Jahr 1972 ist noch etwas weniger ruppig erzählt als die späteren. Doch auf eine gewisse Weise wirken alle zeitlos. Es sind archaische Konstellationen einer bedrohten Welt. Joy Williams Vater war Pfarrer in Portland, Maine, wo sie als Einzelkind aufwuchs, ihr Großvater walisischer Baptistenpfarrer.
Die Stärke ihrer Charaktere und die Sicherheit, mit der sie auf meist wenig erbauliche Kernsätze zusteuert, zeigen diese Prägung. Alkohol spielt eine große Rolle, irgendjemand gießt sich immer einen Drink ein. Oft sind es Mädchen oder Teenager, die das beobachten. „Du trinkst zu viel“, sagt die vorlaute Gwendal zu Gloria, der vierzigjährigen Freundin ihrer Mutter. „Ich hab einen Hirntumor. Ich kann tun, was ich will“, antwortet Gloria, nach vielen Jahren auf Besuch bei Jane, die sie mit ihren Ex-Männern bekannt machen will.
„Auswege“ („Escapes“), wie auch ihr formidabler Erzählungsband von 1990 heißt, ist eine der Schlüsselgeschichten dieses Auswahl-Bandes aus den Gesammelten Geschichten, die 2015 unter dem Titel „The Visiting Privilege“ im amerikanischen Original erschienen sind. „Meine Mutter war eine Trinkerin“, formuliert die Ich-Erzählerin glasklar, während sie die verzweifelte Liebesgeschichte einer Mutter-Tochter-Beziehung ablaufen lässt, die voller Fallstricke und doppelter Böden steckt. Eines Tages fahren die beiden in ihrem blauen verrosteten Cabrio (wenn man die Fußmatte anhebt, kann man die Straße sehen) zu einer Matinee. Nach ein paar Drinks geht die Mutter in ihrem roten Kleid auf die Bühne und will sich vom Zauberer zersägen lassen. Angst und Scham führen zu einer Art innerer Spaltung: „Alle beobachteten uns beim Hinausgehen. Sie merkten nicht, dass ich immer noch unter ihnen war und ebenfalls zuschaute.“
Man kann nur einzelne Szenen oder Bilder schildern, denn es handelt sich bei diesen Geschichten um äußerst seltsame Objekte. Sie sind durchaus realistisch, aber stecken voller surrealer Momente, sind unterwandert von Träumen und Zeitlöchern. Exemplarisch etwa das Bild vom Prediger Jones, der wie ein „Tier in einem Wanderzirkus“ seine Liebe „aufgrund einer Missbildung“ als „lebenswichtiges Organ außen auf der Haut trägt“. Oder das Bild von seiner im Krankenhaus unter „Beobachtung und Beschuss“ stehenden Frau, die längst aufgegeben hat: „Wie eine Schwimmerin, die darauf wartet, mit dem Ertrinken voranzukommen.“ Wünsche, die schon unerfüllbar sind, bevor sie sich überhaupt artikulieren können, lässt Joy Williams auf einer einzigen Seite aufblitzen und verglühen. Etwa wenn sie ein Mädchen mit der Familie ihrer Freundin in den Sommerurlaub schickt, damit die Mutter freie Hand hat, um für sich und ihren neuen Mann ein Haus einzurichten. Man würde Joy Williams Geschichten zunächst nicht unbedingt als Familiengeschichten charakterisieren. Und doch sind es Familiengeschichten der ruinösen Art - wie in der Bibel, wie in der griechischen Tragödie. Eine universelle Verletzlichkeit prägt jedes einzelne Element. Tiere werden gejagt, geliebt und achtlos verwundet. Einmal hoppelt ein Schneehase an einer Straße vorbei, am Rand des Gefährdungsbereichs, schon schießt ihm ein Jäger aus dem Hinterhalt ins weiße Fell.
Schriftstellerkolleginnen und Kollegen wie Raymond Carver, Donald Barthelme, James Salter, Bret Easton Elis, Lauren Groff und Jonathan Franzen bewundern ihr Werk. Sie selbst bezieht sich gern auf die Äußerung von Flannery O’Connor, in jeder Geschichte müsse es einen Moment der „Gnade“ geben, selbst wenn die Chance von den Figuren nicht ergriffen werde. Für den Unterschied von Roman und Kurzgeschichte prägte sie die schöne Sentenz, der Roman wolle sich mit einem anfreunden, die Kurzgeschichte eher nicht.
Joy Williams wurde 1944 geboren und war 34 Jahre lang, bis zu dessen Tod, mit dem Verleger Rust Hills verheiratet, der ihr in frühen Jahren den Rat gegeben haben soll, niemals Markennamen zu benützen, wie es in den 1970ern in Mode kam. Die einzige Ausnahme scheinen die Automobile geblieben zu sein. In einer der absonderlichsten Geschichten kauft Dwight, der deutlich ältere Ehemann von Lucy, in die er sich schon verliebte, als sie ein Baby war, einen alten Ford Thunderbird, an dessen Steuer ein Mann gestorben war. So unheimlich Lucy die Sache ist, irgendwann findet sie Gefallen daran, obwohl das Auto so verrostet ist, dass es schließlich als Artefakt im Wohnzimmer landet. „Sie saßen oft in dem Wagen in ihrem Haus“ und versuchten, zu „verstehen, worum es geht, nämlich dass irgendetwas diese Welt ihrer Verheißung beraubt hat“.
Als sie mit ihrer Tochter Caitlin schwanger war, erzählte Joy Williams, habe sie es niemandem erzählt, nicht einmal ihren geliebten Eltern. Mager, wie sie war, blieb ihre Schwangerschaft unbemerkt. Das sei zugegebenermaßen seltsam und grausam. Aber sie liebe Geheimnisse und habe noch immer welche, bekannte sie als siebzigjährige Frau. Sie lebt in Tuscon, Arizona, und in Key West, Florida, worüber sie auch einen Reiseführer verfasste. Den ersten von bisher fünf Romanen, „State of Grace“, schrieb sie in einem Wohnwagen. Er wurde 1973 für den National Book Award for Fiction nominiert, unterlag jedoch Thomas Pynchons „Gravity’s Rainbow“.
Joy Williams‘ Fantasie wirkt wie eine wilde Mischung aus Lewis Carroll und Kafka. Wer würde beim letzten Satz von „Auswege“ – „Ich fand einen Ausweg, aber es dauerte Jahre“ – nicht an Kafkas „Kleine Fabel“ von der Katze und der Maus denken? Die Dinge haben eine starke Präsenz in ihren Geschichten. Oft gehen sie haarscharf an Symbolen vorbei und sind trotzdem mit Übertragungs- und Verwandlungsenergien aufgeladen.
In „Kongress“ verliebt sich eine Frau in eine Lampe, die ihr Mann, ein forensischer Anthropologe, aus den präparierten Hufen eines erschossenen Hirsches gebastelt hat. Sie verstehe sich auch auf „Zeitformen, die der menschlichen Sprache noch nicht zugänglich waren“, heißt es über die Lampe. Mehr aus Zufall denn aus Leidenschaft wird sie die Nachfolgerin eines Präparators in einem Naturkundemuseum irgendwo in der Pampa. „Die Tiere waren alle in einem Zustand äußerster und hoffnungsloser Aufmerksamkeit fixiert. Erhobene Schwingen, offene Mäuler, sich aneinanderdrängende Hinterteile. Alle vom Tod zurückgeholt, damit es so aussah, als wären sie im Begriff zu fliehen.“ Was für ein überwältigendes Bild für den Klimawandel und die Katastrophe schwindender Biodiversität!
Joy Williams, die seit Jahren nur noch mit ikonischer Sonnenbrille zu sehen ist, hat über Don DeLillo einmal gesagt, er sei ein „großer Hai“, der mitten unter uns herumschwimme. So ein Hai wolle sie auch sein, der Ozean sei schließlich groß genug. Von Brigitte Jakobeit und Melanie Walz nuancenreich übersetzt, sind diese „Stories“ ein hervorragender Köder, um auf diese außerordentliche Schriftstellerin aufmerksam zu machen. Man kann es fast nicht glauben, dass sie bisher nicht ins Deutsche übersetzt war. In der Kunst der Kurzgeschichte zählt sie offensichtlich zu den Großen.
Die Storys stammen
aus mehreren Jahrzehnten,
wirken aber zeitlos
Familiengeschichten der runiösen Art: die amerikanische Autorin Joy Williams.
Foto: Jonno Rattman
Joy Williams: Stories.
Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit und Melanie Walz.
DTV, München 2023.
304 Seiten, 25 Euro.
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