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von Dubienka
Michał Książek wandert durch
die Flusslandschaft des Bugs
Świerże, Horodło, Sławatycze – diese Orte wird kaum jemand kennen. Auch der Name jenes Flusses, an dessen Ufer Michał Książek viele Stunden und Tage entlang wandert, klingt fremdartig: der Bug. Dabei bildet er für ein paar hundert Kilometer die Außengrenze der Europäischen Union. Mag das Gebiet zwischen Polen, Weißrussland und der Ukraine auch manchmal in den Abendnachrichten vorkommen, Besucher verirren sich nicht allzu oft hierher. Selbst der gebürtige Pole Książek fühlt sich auf seiner Wanderung manchmal fremd und wie ein Eindringling in ein weltentrücktes Territorium. Da verstummen die Stimmen, wenn er eine Kneipe oder einen Imbiss in den winzigen Ortschaften betritt, da wird die eben noch laut donnernde russische Musik ausgemacht, als vermutete man in dem Wanderer einen ausländischen, zumindest großstädtischen Spion.
Unbekannten steht man in den Dörfern skeptisch gegenüber. Einmal lauscht Książek dem „piööö“ eines Schwarzspechts, als er meint, ein zweites „piööö“ mische sich unter das erste: „Ich stand an der Tür einer nahe gelegenen Kate, als ich begriff, dass das Rufen von drinnen kam. Die dünne Stimme einer Greisin antwortete dem Specht mit erstaunlicher Präzision und Sorgfalt, bemüht um das Dauercrescendo auf den letzten Tönen. Und plötzlich kreischte sie: Geh fort! Geh fort!“
Ksiazek, der in Warschau lebt und im Urwald von Białowieża arbeitet, ist von Haus aus Ornithologe, doch es liegt nicht an seiner Profession, dass er auf seiner Wanderung entlang des Bug, entlang Woiwodschaftsstraße 816, auch Bugstraße genannt, mehr Vögeln als Menschen begegnet. Die Gegend ist dünn besiedelt, man gibt sich zudem gerne wortkarg und zeigt sich nicht im geringsten interessiert, über die eigene Heimat und deren Geschichte zu reden.
Dabei liegt diesem fremden Wanderer gerade an der Geschichte entlang des Bug sehr viel, vor allem über einen ganz bestimmten Moment der Geschichte würde er gerne mehr erfahren: Die sogenannte Aktion Weichsel im Jahr 1943, bei der der ukrainische Teil der Bevölkerung umgesiedelt wurde.
Ein wenig obsessiv sucht Książek nach Spuren dieses Ereignisses, und das heißt vor allem: nach orthodoxen Kirchen. Denn die Ukrainer sind im Gegensatz zu den Polen in ihrer Mehrheit orthodox. Wie sie aber mussten damals auch ihre Kirchen weichen. So bleibt Książeks Suche ergebnislos oder zeitigt als Ergebnis eben dieses: Die ukrainische Geschichte westlich des Bug wurde erfolgreich ausgelöscht, niemand weiß mehr etwas, niemand will mehr etwas wissen.
Ein wenig versteht man dabei allerdings die Skepsis der Einheimischen. Da kommt jemand aus der Großstadt und möchte zuallererst über ein wenig ruhmvolles Ereignis der Vergangenheit reden. Darüber hinaus interessiert er sich vor allem für Vögel. Gleichwohl ist „Straße 816“ kein lautes oder besserwisserisches Buch, sondern erfüllt von großer Sensibilität für die Landschaft, von der es handelt, vom Verlauf des Flusses, vom Flug der Mehlschwalben oder dem Staub am Rande des Busbahnhofs von Dubienka. Allerdings mangelt es „Straße 816“ an Anschaulichkeit. Książek gelingt es nicht, sein Interesse und seine Sympathie für die Natur in Bilder zu übersetzen. Häufig reichen seine Beschreibungen über die bloße Aufzählung nicht hinaus. Vogel um Vogel wird da genannt, samt lateinischer Nomenklatur, aber eine Vorstellung davon, wie eine Blauracke aussieht oder ein Kernbeißer sich bewegt, bekommt der Leser nicht.
Fotos hätten diesem Mangel ein wenig abgeholfen, auch eine Karte wäre schön gewesen, auf der man dem Verlauf der Wanderung durch nicht nur dem Deutschen unvertrautes Gebiet hätte folgen können. Ob sie die mangelnde Gestaltungskraft des Autors allerdings hätten aufwiegen können, bleibt fraglich.
TOBIAS LEHMKUHL
Michał Książek: Straße 816. Eine Wanderung in Polen. Übersetzt von Renate Schmidtgall. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2018. 272 Seiten, 22 Euro.
Da kommt einer aus der
Großstadt und fragt
nach Vögeln und Geschichte
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Selbstverständlich ist sie das nicht. Es gibt nicht nur Schlupflöcher im Grenzzaun, durch die Bier und Zigaretten geschmuggelt werden, sondern auch eine gemeinsame Geschichte. Jahrhundertelang gehörten die Gebiete auf beiden Seiten der Straße zu wechselnden Reichen: der Kiewer Rus, dem Königreich Polen, dann Polen-Litauen, der Habsburger-Monarchie. Die Grenzen wanderten, die Bewohner aber blieben, wo sie waren: Polen, Deutsche, Litauer, Ukrainer, Russen und Juden bildeten einen Vielvölkerstaat, in dem Religionsfreiheit garantiert war. Erst das 20. Jahrhundert beendete die weitgehend friedliche Koexistenz. Umsiedlungen, Pogrome, Massaker, Vernichtungskrieg sowie die Deportation und Ermordung der Juden löschten die jahrhundertealte gemeinsame Kultur aus.
Auf Spuren der in einer Generation zerstörten Vergangenheit stößt der Kulturwissenschaftler und Ornithologe Michal Ksiazek auf seiner Wanderung überall: orthodoxe Kirchen, die in katholische verwandelt wurden, Friedhöfe mit kyrillisch beschrifteten Grabsteinen, das Vernichtungslager Sobibór. Ksiazek schaut "aufmerksam und langsam"; was er unter Vögeln und Insekten gelernt hat, wendet er auch auf die Menschen, ihre Behausungen und Kleidung, ihre Tätigkeiten, ihre Sprache und Sprechweisen an. "Beobachten", schreibt er, "soll man so, als sähe man zum ersten Mal im Leben."
Aber beim Beobachten bleibt Ksiazek nicht stehen. Er verbindet das Beobachtete mit der Betrachtung, das Phänomenologische mit der Reflexion. Daraus entstehen Miniaturen, die wie knappe Essays wirken, sprachlich beeindruckend und mit langer Nachwirkzeit. Und so ist seine "Wanderung durch Polen" viel mehr als das - nämlich der Versuch, die Frage zu beantworten, was es heißt, ein Mensch zu sein.
beha.
Michal Ksiazek: "Straße 816 - Eine Wanderung durch Polen". Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. S. Fischer, 272 Seiten, 22 Euro
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
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