In anregenden und ungehemmten Bildern erschafft Johanne Lykke Holm eine Welt voller Übernatürlichem, voller Geheimnisse und der potenziellen Energie von Mädchen an der Schwelle zur Weiblichkeit. Strega lässt sich als Allegorie auf gesellschaftliche Riten verstehen, auf die Erwartungen an Frauen und die Gewalt, die wir allzu leicht zulassen – und entfaltet wie ein Zauber noch lange nach dem Lesen seine Wirkung. Strega ist eine einfallsreiche und atmosphärische moderne Gothic Novel über neun junge Frauen, die in einem abgelegenen Alpenhotel arbeiten, und darüber, was passiert, wenn eine von ihnen verschwindet. Mit Toilettenartikeln, Haarbändern und Notizbüchern in der Tasche verlässt die neunzehnjährige Rafa auf Anweisung ihrer Mutter ihr Elternhaus und die Küstenstadt, in der sie auf gewachsen ist. Aus dem Zugfenster sieht sie die beleuchteten Berge und die perfekten Bäume – und das Olympic Hotel, das über dem kleinen Dorf Strega auf sie wartet. Dort bekommt sie die steife schwarze Uniform der Saisonarbeiterin, wie acht andere Mädchen auch, mit denen sie in einem Schlafsaal übernachtet. Unablässig schuften die Mädchen unter den Blicken ihrer strengen Chefinnen, um alles bereit zu machen für Gäste – die nicht kommen. In ihren freien Momenten flüchten die neun sich in den Kräutergarten und suchen Trost beieinander. Schließlich füllt sich das Hotel doch, für eine wilde, rauschende Party – und dann verschwindet eines der Mädchen. Was folgt, sind tiefe Enthüllungen über die Mythen, die wir jungen Frauen beibringen, über das, was wir ihnen von der Welt zumuten, und darüber, ob ein sanfteres, schöneres Leben möglich ist.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.02.2023Das Leben einer Frau kann jederzeit zum Tatort werden
Voller Wut, auch auf den eigenen Körper: Johanne Lykke Holms Roman "Strega" ist ein düsteres Traumspiel
Erste Sätze müssen sitzen. Die schwedische Schriftstellerin Johanne Lykke Holm, die vor ihrem surrealen Tagebuchroman "Natten før denne dag" (die Nacht vor diesem Tag) über eine Dreizehnjährige und deren Körper als Übersetzerin des dänischen Poeten Yahya Hassan und Josefine Klougarts hervortrat, arbeitet zu Beginn ihres zweiten Romans "Strega" sicherheitshalber mit der literarischen Nagelpistole. Wir befinden uns im Zimmer eines 19 Jahre alten Mädchens, dessen Bett mit seinen "Flecken von Milch und Blut" aussieht "wie die Reproduktion eines Mädchenmords oder einer besonders brutalen Entführung". Und schon stehen da Zeilen, die erst mal eine Weile bestaunt werden wollen, bevor man sie passieren darf: "Ich wusste, dass sich das Leben einer Frau jederzeit in einen Tatort verwandeln kann. Ich hatte noch nicht begriffen, dass ich bereits in diesem Tatort lebte, dass der Tatort nicht das Bett war, sondern der Körper, dass das Verbrechen bereits stattgefunden hatte." Das Frausein als schier endloser Albtraum. Wer sich darunter nichts vorstellen kann, wird in "Strega" ausführlich belehrt. Die Erzählerin reist per Zug und Seilbahn zu einem Hotel in den Bergen, einem leeren Haus ganz ohne Gäste.
Und was dort geschieht, erhält durch den beschwörenden Tonfall der Schilderung und das gleichzeitige Eintreffen von neun jungen Frauen nahezu okkulte Züge. Sie sollen durch die Arbeit als Saisonkräfte die Frauenrollen verinnerlichen, die ihnen die Gesellschaft zuweist. Jeden Tag machen sie mit denselben Handgriffen das Hotel für etwaige Gäste bereit, ihr Leben verläuft ritualisiert wie das Leben der Nonnen im benachbarten Kloster. Hier wie dort gibt es einen Kräutergarten, hier wie dort bald einen Reliquienkult. Und hier wie dort herrscht streckenweise einfach nur Schweigen. Die Stimmung gleicht einem "kollektiven Begräbnis", Regelverstöße ahnden die Aufseherinnen mit drakonischen Strafen.
Bilder der dänischen Künstlerin Ida Sønder Thorhauge sind auf dem Titelbild und Vorsatzpapier der deutschen Ausgabe zu sehen: eine Gruppe gesichtsleerer, blutig rot und gefühlskalt blau gemalter Freundinnen oder Schwestern in einem blattlosen Wald. Genauso fühlt sich der Roman an, weil auch Johanne Lykke Holm viel mit Farben arbeitet: Vieles im Hotel bis hin zum Schimmel an den Wänden ist rot, ein Nachmittag blau, ein Mund violett, und Haar wallt "wie schwarze Tücher über die Kissen".
Wir betreten eine Art Traumspiel, eingerichtet mit allem, was dereinst zur Schwarzen Romantik gehörte, und insbesondere Todesmotiven. Erzählt wird mit klaren und kräftigen Sätzen, die eine Stärke der skandinavischen Literatur sind. Sie verlieren in der Übersetzung von Hanna Granz nichts von ihrer rhythmischen Wirkung.
Und immer wieder formuliert Johanne Lykke Holm, die man sich als Goth Girl à la Billie Eilish vorstellt, erschütternde Sätze: "Ich war vielleicht sieben, als ich zum letzten Mal eine Nacht durchgeschlafen hatte, einen tiefen und traumlosen Schlaf, in dem es keinen Kummer gab, eine in ihren Sarg gebettete Kinderleiche." Oder: "Wo ich herkomme, gibt es keine Kindheit . . . Ich ging in der Wohnung umher und wollte mich selbst zerstören." Ein Theaterstück über einen Frauenmörder, das die Frauen zur geistigen Ertüchtigung anschauen müssen, dreht sich allen Ernstes um die "Sehnsucht eines jungen Mädchens nach Gewalt und Erniedrigung". Auf der Bühne fließt Blut in Strömen.
Wie aufs Stichwort treffen kurz nach dem Theaterbesuch plötzlich Gäste im Hotel ein, wenn auch nur für einen rauschenden Ball. Übergriffige Männer sind nun überall, und am nächsten Morgen ist eine der Frauen verschwunden, die Verbliebenen beben vor Angst: "Ich war mir sicher, dass es einen Mörder gab, der auf uns alle wartete (. . .) Ich kniff die Augen zu und sah den Mörder vor mir. Sein Gesicht war das Gesicht aller Männer (. . .) Ein Mann, dem die gesamte Gewalttätigkeit des Geschlechts zugeteilt worden war, mit ruhigen systematischen Händen."
In dieser Passage merkt man es am deutlichsten: "Strega" steckt voller Wut auf die frauenverachtende Gesellschaft, unheimlicherweise aber auch Wut auf den eigenen Körper, der sich sogar zu einem Mörder hingezogen fühlt: "Ich wollte mich in seinen Schoß legen, um auszuruhen."
Man fragt sich augenblicklich, weshalb die Erzählerin Rafaela dem Hotel, dieser selbst im Verfall noch funktionierenden "Zerstörungsmaschine", nicht einfach den Rücken zukehrt und geht. Erst spät wagt sie den Gedanken, "frei sein zu können. Anders gehen zu können, durch Stadtparks und Warenhäuser . . ." Doch das ist es ja gerade.
Ein düsteres kleines Büchlein. Johanne Lykke Holm, die mittlerweile Naderehvandi heißt, vermittelt mit ihm elegant das Gefühl, das sie mit heranwachsenden Frauen an der Schwelle zum Erwachsenenleben verbindet oder zumindest in ihrer Jugend selber verspürte. Trotzdem wird es genug Leser geben, die mit diesem kunstfertigen, nach dem italienischen Wort für Hexe und einem Kräuterlikör benannten Stück feministischer Befindlichkeitsprosa wenig anfangen können und es bereits nach dem ersten Absatz seufzend weglegen. Ihnen entgeht der schaurige Satz, den Rafaela bei der Fluchtplanung ihrer Freundin Alba zuraunt: "Wir können diesem Tatort nur entkommen, wenn wir einen eigenen schaffen." MATTHIAS HANNEMANN
Johanne Lykke Holm: "Strega". Roman.
Aus dem Schwedischen
von Hanna Granz. Aki Verlag, Zürich 2022. 192 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Voller Wut, auch auf den eigenen Körper: Johanne Lykke Holms Roman "Strega" ist ein düsteres Traumspiel
Erste Sätze müssen sitzen. Die schwedische Schriftstellerin Johanne Lykke Holm, die vor ihrem surrealen Tagebuchroman "Natten før denne dag" (die Nacht vor diesem Tag) über eine Dreizehnjährige und deren Körper als Übersetzerin des dänischen Poeten Yahya Hassan und Josefine Klougarts hervortrat, arbeitet zu Beginn ihres zweiten Romans "Strega" sicherheitshalber mit der literarischen Nagelpistole. Wir befinden uns im Zimmer eines 19 Jahre alten Mädchens, dessen Bett mit seinen "Flecken von Milch und Blut" aussieht "wie die Reproduktion eines Mädchenmords oder einer besonders brutalen Entführung". Und schon stehen da Zeilen, die erst mal eine Weile bestaunt werden wollen, bevor man sie passieren darf: "Ich wusste, dass sich das Leben einer Frau jederzeit in einen Tatort verwandeln kann. Ich hatte noch nicht begriffen, dass ich bereits in diesem Tatort lebte, dass der Tatort nicht das Bett war, sondern der Körper, dass das Verbrechen bereits stattgefunden hatte." Das Frausein als schier endloser Albtraum. Wer sich darunter nichts vorstellen kann, wird in "Strega" ausführlich belehrt. Die Erzählerin reist per Zug und Seilbahn zu einem Hotel in den Bergen, einem leeren Haus ganz ohne Gäste.
Und was dort geschieht, erhält durch den beschwörenden Tonfall der Schilderung und das gleichzeitige Eintreffen von neun jungen Frauen nahezu okkulte Züge. Sie sollen durch die Arbeit als Saisonkräfte die Frauenrollen verinnerlichen, die ihnen die Gesellschaft zuweist. Jeden Tag machen sie mit denselben Handgriffen das Hotel für etwaige Gäste bereit, ihr Leben verläuft ritualisiert wie das Leben der Nonnen im benachbarten Kloster. Hier wie dort gibt es einen Kräutergarten, hier wie dort bald einen Reliquienkult. Und hier wie dort herrscht streckenweise einfach nur Schweigen. Die Stimmung gleicht einem "kollektiven Begräbnis", Regelverstöße ahnden die Aufseherinnen mit drakonischen Strafen.
Bilder der dänischen Künstlerin Ida Sønder Thorhauge sind auf dem Titelbild und Vorsatzpapier der deutschen Ausgabe zu sehen: eine Gruppe gesichtsleerer, blutig rot und gefühlskalt blau gemalter Freundinnen oder Schwestern in einem blattlosen Wald. Genauso fühlt sich der Roman an, weil auch Johanne Lykke Holm viel mit Farben arbeitet: Vieles im Hotel bis hin zum Schimmel an den Wänden ist rot, ein Nachmittag blau, ein Mund violett, und Haar wallt "wie schwarze Tücher über die Kissen".
Wir betreten eine Art Traumspiel, eingerichtet mit allem, was dereinst zur Schwarzen Romantik gehörte, und insbesondere Todesmotiven. Erzählt wird mit klaren und kräftigen Sätzen, die eine Stärke der skandinavischen Literatur sind. Sie verlieren in der Übersetzung von Hanna Granz nichts von ihrer rhythmischen Wirkung.
Und immer wieder formuliert Johanne Lykke Holm, die man sich als Goth Girl à la Billie Eilish vorstellt, erschütternde Sätze: "Ich war vielleicht sieben, als ich zum letzten Mal eine Nacht durchgeschlafen hatte, einen tiefen und traumlosen Schlaf, in dem es keinen Kummer gab, eine in ihren Sarg gebettete Kinderleiche." Oder: "Wo ich herkomme, gibt es keine Kindheit . . . Ich ging in der Wohnung umher und wollte mich selbst zerstören." Ein Theaterstück über einen Frauenmörder, das die Frauen zur geistigen Ertüchtigung anschauen müssen, dreht sich allen Ernstes um die "Sehnsucht eines jungen Mädchens nach Gewalt und Erniedrigung". Auf der Bühne fließt Blut in Strömen.
Wie aufs Stichwort treffen kurz nach dem Theaterbesuch plötzlich Gäste im Hotel ein, wenn auch nur für einen rauschenden Ball. Übergriffige Männer sind nun überall, und am nächsten Morgen ist eine der Frauen verschwunden, die Verbliebenen beben vor Angst: "Ich war mir sicher, dass es einen Mörder gab, der auf uns alle wartete (. . .) Ich kniff die Augen zu und sah den Mörder vor mir. Sein Gesicht war das Gesicht aller Männer (. . .) Ein Mann, dem die gesamte Gewalttätigkeit des Geschlechts zugeteilt worden war, mit ruhigen systematischen Händen."
In dieser Passage merkt man es am deutlichsten: "Strega" steckt voller Wut auf die frauenverachtende Gesellschaft, unheimlicherweise aber auch Wut auf den eigenen Körper, der sich sogar zu einem Mörder hingezogen fühlt: "Ich wollte mich in seinen Schoß legen, um auszuruhen."
Man fragt sich augenblicklich, weshalb die Erzählerin Rafaela dem Hotel, dieser selbst im Verfall noch funktionierenden "Zerstörungsmaschine", nicht einfach den Rücken zukehrt und geht. Erst spät wagt sie den Gedanken, "frei sein zu können. Anders gehen zu können, durch Stadtparks und Warenhäuser . . ." Doch das ist es ja gerade.
Ein düsteres kleines Büchlein. Johanne Lykke Holm, die mittlerweile Naderehvandi heißt, vermittelt mit ihm elegant das Gefühl, das sie mit heranwachsenden Frauen an der Schwelle zum Erwachsenenleben verbindet oder zumindest in ihrer Jugend selber verspürte. Trotzdem wird es genug Leser geben, die mit diesem kunstfertigen, nach dem italienischen Wort für Hexe und einem Kräuterlikör benannten Stück feministischer Befindlichkeitsprosa wenig anfangen können und es bereits nach dem ersten Absatz seufzend weglegen. Ihnen entgeht der schaurige Satz, den Rafaela bei der Fluchtplanung ihrer Freundin Alba zuraunt: "Wir können diesem Tatort nur entkommen, wenn wir einen eigenen schaffen." MATTHIAS HANNEMANN
Johanne Lykke Holm: "Strega". Roman.
Aus dem Schwedischen
von Hanna Granz. Aki Verlag, Zürich 2022. 192 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Matthias Hannemann empfiehlt dringend, mit Johanne Lykke Holm Geduld zu haben. Die schwedische Schriftstellerin habe ein "düsteres kleines Buch" vorgelegt, das in nahezu okkulter Anmutung von zehn jungen Frauen erzählt, die in einem leeren Hotel zu dienstbaren Saisonkräften gedrillt werden, um die wahre Rolle einer Frau zu erkennen. Bei dieser bizarren Geschichte arbeite Holm mit der "literarischen Nagelpistole", schreibt der Rezensent. Als männliche Gäste zu einem Ball eintreffen, eskaliert die sowieso gewalttätige Situation endgültig. Wut auf die Gesellschaft, Wut gegen ihre eigenen Körper: Holm knalle das dem Leser in kurzen, schnörkellosen Sätzen elegant um die Ohren, lobt Hannemann und ist von diesem "surrealen Tagebuchroman" eben deshalb so begeistert, weil er keine "feministische Befindlichkeitsprosa" sei.
© Perlentaucher Medien GmbH
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