Andor Endre Gelléri (1906–1945) galt schon zu Lebzeiten als Meister der kurzen Erzählform. "Stromern" versammelt 31 Geschichten aus den 1920er- und 1930er-Jahren, in denen er sich den Ausgegrenzten, den Zu-kurz-Gekommenen und Durch-das Raster-Gefallenen zuwendet. Budapest ist geprägt von den Folgen der Weltwirtschaftskrise, und die Protagonisten der Erzählungen bekommen das am eigenen Leib zu spüren. Gelléri kannte die Lebenswirklichkeit seiner Figuren nur zu gut, er selbst arbeitete in unzähligen Berufen, musste für seine täglichen Mahlzeiten schuften – und brachte es doch immer wieder fertig, eine ganz einzigartige Literatur zu schaffen. Die große Kunst Gelléris, die Timea Tankó farbenprächtig und mit ansteckender Verspieltheit übersetzt hat, besteht darin, jeder Figur ihr Schicksal zuzuerkennen. Sie mögen einander ähneln, die Färbergesellen und Weberlehrlinge, die Schuhmacher und Möbelpacker, die Arbeitssuchenden und Arbeitsverlierenden. Doch jeder Einzelne hat tiefe Wünsche, versucht, seinen Alltag mit Schönheit und Würde zu erleichtern. So wird immer auch sinnenfreudig gezecht, angebandelt, verehrt, gehasst, Trübsal geblasen, gefürchtet und geträumt. Gelléris existenziellen Erzählungen wohnt eine Lebenskraft inne, die sich von keinem Elend und keinem Schicksalsschlag zum Versiegen bringen lässt und die mit feinem Humor und ehrlichem Mitgefühl auf zauberische Weise selbst dem Tod die Stirn bieten. Das Streben nach Glück oder zumindest einem würdevollen Leben hat kein Verfallsdatum, es berührt und ergreift auch heute jeden, der davon liest.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.11.2018Traurige Müdigkeit huscht durchs Zimmer
Die verschollenen Kurznovellen des ungarischen Autors Andor Endre Gelléri zeichnen eine Welt ohne Mitleid
"Alle in diesem Keller plagen sich ab. In ihrem Atem lodert Feuer, und immer wieder flammt der Wunsch auf, die Arbeit möge endlich verrichtet sein. Ein Färber mit Stupsnase eilt in polternden Holzschuhen zu den Kesseln . . . Aus der Kragenabteilung entschweben bleiche Engel in weißen Gewändern. Auf der Stirn des schwindsüchtigen, gebrechlichen Waschmeisters perlt Schweiß, er fächelt sich Luft zu. Die ganze Wäscherei ringt hier im Keller fern von der Sonne, in größter Verschwommenheit um Atem."
Diese Szene aus der nebelgeschwängerten Kellerhöhle könnte aus Gelléris Roman "Die Großwäscherei" stammen; es ist jedoch eine Erzählung, die vier Jahre früher, 1927, in einer Budapester Tageszeitung erschien. Der Titel des Beitrags lautet: "Leben" - nur dass hier nicht vom Leben geschrieben wird, sondern vom qualvollen Tod, der früher oder später alle Arbeiter in dieser Schinderstätte ereilt. Gelléri erzählt über die große Wirtschaftskrise Ende der zwanziger Jahre. Der Mittelstand bricht zusammen, die Armen werden noch ärmer, die Obdachlosen erfrieren auf offener Straße, Kinder verhungern. Der Wirtschaftskollaps ergreift die ganze Welt, aber jedes Elend trägt sein eigenes Gesicht, das die Schriftsteller in diesen Jahren von Amerika bis Europa in Atem hält.
Viele Szenen erinnern an Charly Chaplins Film "Modern Times". Der gnadenlose Takt der Maschinen tötet alles ab: "Wir sind müde. Unsere Arme und Beine sind wie Blei, unsere Herzen spüren wir schon gar nicht mehr. Allein die Maschinen halten uns noch in Bewegung, sie lenken unsere Arme und Beine, die elektrischen Lampen halten unsere Augen offen. Warum wir das alles machen? Das wissen wir nicht; sterben werden wir so oder so."
Der Blick von unten, die trostlose Perspektive der kleinen Leute fesselt die Aufmerksamkeit des ungarischen Autors, der vor allem durch seine kurzen, pointierten Geschichten seit Beginn der zwanziger Jahre sein Publikum fesselte. Die Welt des Adels und der Wirtschaftsbosse, des Glamours und der orgiastischen Vergnügungen liegt ihm fern. Seine roaring twenties sind grau, kümmerlich, glanzlos und ohne Zukunft. Geboren 1906 als Sohn eines Schlossers und einer Kantinenfrau, ist sein Leben vorgezeichnet. Mit fünfzehn muss er das Gymnasium verlassen, er erlernt nie einen richtigen Beruf, sondern schlägt sich mit Hilfsarbeiten durchs Leben, wie seine literarischen Figuren. Seine Novellen finden Anklang, selbst die führende Literatur-Zeitschrift des modernen Ungarns, "Nyugat", druckt ihn ab, aber leben kann Gelléri von diesen Einnahmen nicht. Auch sein einziger Roman bleibt ohne großen Widerhall. Als Jude wird der Autor von 1940 an in verschiedene Arbeitslager deportiert. Noch schreibt er einzelne Kurzgeschichten, aber die Feder versiegt angesichts der menschenvernichtenden faschistischen Gewalt. Er wird auf einen der berüchtigten Todesmärsche nach Mauthausen geschickt. Nach der Befreiung des Lagers stirbt Gelléri im Mai 1945 an Typhus. Übriggeblieben sind Fragmente einer Autobiographie, und - sein größter Schatz - die Novellen über das Elendsleben der an den Rand der Gesellschaft gedrängten Menschen.
Der Schauplatz ist nicht am Rande der Welt, er liegt in der Mitte Europas, in Budapest. Hier bevölkern Weber, Wäscher, Färber, Schuhmacher, Metzger, Kisten- und Tresorträger, Dienstmädchen die Gassen und Hinterhöfe. Sie leben auf Müllhalden, in windschiefen Hütten, in Kellerlöchern. Kein Mensch hat mit ihnen Erbarmen, auch sie selbst nicht. Diese Menschen haben sich an die Aussichtslosigkeit des Lebens gewöhnt. Nur selten gibt es kleine Momente des Glücks, die schnell wieder in sich zusammenfallen. "Ich möchte Trompete spielen" ist eine Geschichte überschrieben. Ein Lungenkranker will sich ein letztes Mal eine Freude machen und verlangt von seiner Frau, dass sie ihm seine alte Trompete bringt. Er scheitert. Kläglich, alle Töne missraten. Zu seiner Frau flüstert der Kranke: "Schließ bitte das Fenster. Die Trompete kannst du auch mitnehmen." Und die Geschichte klingt aus mit den Sätzen: "Eine traurige Müdigkeit huscht durchs Zimmer. Die Frau nahm das Tablett und die Trompete und ging mit feuchten Augen hinaus."
Melancholie und Hoffnungslosigkeit scheint durch die Geschichten der Gestrandeten. Sie sind verzweifelt, und doch glimmt immer wieder ein Schein von Zuversicht auf. Die Arbeiter rebellieren nie offen, ihr Protest bleibt stumm, aber umso nachhaltiger. Gelléri war kein Sozialist oder gar Kommunist, durch viele seiner Geschichten schimmern wahre politische Vorfälle von Verurteilungen und Hinrichtungen. Vor allem aber schreibt er, was er täglich auf den Straßen und in den Fabriken erlebt. Er ist wie ein Ethnologe, der subtil und vorsichtig die Schichten menschlichen Daseins bloßlegt. Je grausamer die Wirklichkeit, desto poetischer nähert sich der Schriftsteller seinen Personen. Gelléri ist ein Meister der kurz erzählten Prosa. Seine Protagonisten sind Sklaven eines ausbeuterischen Systems, das sie nicht verändern wollen, sie wollen nur schlicht nicht mehr leiden, wollen keinen Hunger und Durst mehr haben. Hinter allen Kurznovellen steckt eine berührende, traurige Humanität.
Gelléri hat zu Lebzeiten keine große Anerkennung gefunden, er blieb ein stiller und bescheidener Chronist der Armut des Budapester Arbeiterlebens. Langsam werden seine literarischen Qualitäten entdeckt mit neuen Ausgaben in Ungarn. Im Deutschen hat die Ungarndeutsche Timea Tankó, geboren 1978 in Leipzig, bereits den einzigen Roman des Autors, "Die Großwäscherei", mit sprachlicher Wucht und Eleganz übersetzt, nun liegen von ihr ebenso feinfühlig übertragen die Kurzgeschichten des Autors vor. Zu hoffen ist, dass wir auch eines Tages die Fragmente der Autobiographie "Geschichte eines Selbstgefühls" von Andor Endre Gelléri werden lesen können. Der Guggolz Verlag hat mit der Wiederentdeckung dieses Autors einen wichtigen Beitrag geleistet, die kaum bekannte Zwischenkriegsliteratur im östlichen Teil Europa ans Licht der literarischen Öffentlichkeit zu heben.
LERKE VON SAALFELD
Andor Endre Gelléri: "Stromern". Erzählungen aus den Jahren 1924-1942.
Aus dem Ungarischen von Timea Tankó. Mit einem Nachwort von György Dalos. Guggolz Verlag, Berlin 2018. 269 S., geb., 24,70 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die verschollenen Kurznovellen des ungarischen Autors Andor Endre Gelléri zeichnen eine Welt ohne Mitleid
"Alle in diesem Keller plagen sich ab. In ihrem Atem lodert Feuer, und immer wieder flammt der Wunsch auf, die Arbeit möge endlich verrichtet sein. Ein Färber mit Stupsnase eilt in polternden Holzschuhen zu den Kesseln . . . Aus der Kragenabteilung entschweben bleiche Engel in weißen Gewändern. Auf der Stirn des schwindsüchtigen, gebrechlichen Waschmeisters perlt Schweiß, er fächelt sich Luft zu. Die ganze Wäscherei ringt hier im Keller fern von der Sonne, in größter Verschwommenheit um Atem."
Diese Szene aus der nebelgeschwängerten Kellerhöhle könnte aus Gelléris Roman "Die Großwäscherei" stammen; es ist jedoch eine Erzählung, die vier Jahre früher, 1927, in einer Budapester Tageszeitung erschien. Der Titel des Beitrags lautet: "Leben" - nur dass hier nicht vom Leben geschrieben wird, sondern vom qualvollen Tod, der früher oder später alle Arbeiter in dieser Schinderstätte ereilt. Gelléri erzählt über die große Wirtschaftskrise Ende der zwanziger Jahre. Der Mittelstand bricht zusammen, die Armen werden noch ärmer, die Obdachlosen erfrieren auf offener Straße, Kinder verhungern. Der Wirtschaftskollaps ergreift die ganze Welt, aber jedes Elend trägt sein eigenes Gesicht, das die Schriftsteller in diesen Jahren von Amerika bis Europa in Atem hält.
Viele Szenen erinnern an Charly Chaplins Film "Modern Times". Der gnadenlose Takt der Maschinen tötet alles ab: "Wir sind müde. Unsere Arme und Beine sind wie Blei, unsere Herzen spüren wir schon gar nicht mehr. Allein die Maschinen halten uns noch in Bewegung, sie lenken unsere Arme und Beine, die elektrischen Lampen halten unsere Augen offen. Warum wir das alles machen? Das wissen wir nicht; sterben werden wir so oder so."
Der Blick von unten, die trostlose Perspektive der kleinen Leute fesselt die Aufmerksamkeit des ungarischen Autors, der vor allem durch seine kurzen, pointierten Geschichten seit Beginn der zwanziger Jahre sein Publikum fesselte. Die Welt des Adels und der Wirtschaftsbosse, des Glamours und der orgiastischen Vergnügungen liegt ihm fern. Seine roaring twenties sind grau, kümmerlich, glanzlos und ohne Zukunft. Geboren 1906 als Sohn eines Schlossers und einer Kantinenfrau, ist sein Leben vorgezeichnet. Mit fünfzehn muss er das Gymnasium verlassen, er erlernt nie einen richtigen Beruf, sondern schlägt sich mit Hilfsarbeiten durchs Leben, wie seine literarischen Figuren. Seine Novellen finden Anklang, selbst die führende Literatur-Zeitschrift des modernen Ungarns, "Nyugat", druckt ihn ab, aber leben kann Gelléri von diesen Einnahmen nicht. Auch sein einziger Roman bleibt ohne großen Widerhall. Als Jude wird der Autor von 1940 an in verschiedene Arbeitslager deportiert. Noch schreibt er einzelne Kurzgeschichten, aber die Feder versiegt angesichts der menschenvernichtenden faschistischen Gewalt. Er wird auf einen der berüchtigten Todesmärsche nach Mauthausen geschickt. Nach der Befreiung des Lagers stirbt Gelléri im Mai 1945 an Typhus. Übriggeblieben sind Fragmente einer Autobiographie, und - sein größter Schatz - die Novellen über das Elendsleben der an den Rand der Gesellschaft gedrängten Menschen.
Der Schauplatz ist nicht am Rande der Welt, er liegt in der Mitte Europas, in Budapest. Hier bevölkern Weber, Wäscher, Färber, Schuhmacher, Metzger, Kisten- und Tresorträger, Dienstmädchen die Gassen und Hinterhöfe. Sie leben auf Müllhalden, in windschiefen Hütten, in Kellerlöchern. Kein Mensch hat mit ihnen Erbarmen, auch sie selbst nicht. Diese Menschen haben sich an die Aussichtslosigkeit des Lebens gewöhnt. Nur selten gibt es kleine Momente des Glücks, die schnell wieder in sich zusammenfallen. "Ich möchte Trompete spielen" ist eine Geschichte überschrieben. Ein Lungenkranker will sich ein letztes Mal eine Freude machen und verlangt von seiner Frau, dass sie ihm seine alte Trompete bringt. Er scheitert. Kläglich, alle Töne missraten. Zu seiner Frau flüstert der Kranke: "Schließ bitte das Fenster. Die Trompete kannst du auch mitnehmen." Und die Geschichte klingt aus mit den Sätzen: "Eine traurige Müdigkeit huscht durchs Zimmer. Die Frau nahm das Tablett und die Trompete und ging mit feuchten Augen hinaus."
Melancholie und Hoffnungslosigkeit scheint durch die Geschichten der Gestrandeten. Sie sind verzweifelt, und doch glimmt immer wieder ein Schein von Zuversicht auf. Die Arbeiter rebellieren nie offen, ihr Protest bleibt stumm, aber umso nachhaltiger. Gelléri war kein Sozialist oder gar Kommunist, durch viele seiner Geschichten schimmern wahre politische Vorfälle von Verurteilungen und Hinrichtungen. Vor allem aber schreibt er, was er täglich auf den Straßen und in den Fabriken erlebt. Er ist wie ein Ethnologe, der subtil und vorsichtig die Schichten menschlichen Daseins bloßlegt. Je grausamer die Wirklichkeit, desto poetischer nähert sich der Schriftsteller seinen Personen. Gelléri ist ein Meister der kurz erzählten Prosa. Seine Protagonisten sind Sklaven eines ausbeuterischen Systems, das sie nicht verändern wollen, sie wollen nur schlicht nicht mehr leiden, wollen keinen Hunger und Durst mehr haben. Hinter allen Kurznovellen steckt eine berührende, traurige Humanität.
Gelléri hat zu Lebzeiten keine große Anerkennung gefunden, er blieb ein stiller und bescheidener Chronist der Armut des Budapester Arbeiterlebens. Langsam werden seine literarischen Qualitäten entdeckt mit neuen Ausgaben in Ungarn. Im Deutschen hat die Ungarndeutsche Timea Tankó, geboren 1978 in Leipzig, bereits den einzigen Roman des Autors, "Die Großwäscherei", mit sprachlicher Wucht und Eleganz übersetzt, nun liegen von ihr ebenso feinfühlig übertragen die Kurzgeschichten des Autors vor. Zu hoffen ist, dass wir auch eines Tages die Fragmente der Autobiographie "Geschichte eines Selbstgefühls" von Andor Endre Gelléri werden lesen können. Der Guggolz Verlag hat mit der Wiederentdeckung dieses Autors einen wichtigen Beitrag geleistet, die kaum bekannte Zwischenkriegsliteratur im östlichen Teil Europa ans Licht der literarischen Öffentlichkeit zu heben.
LERKE VON SAALFELD
Andor Endre Gelléri: "Stromern". Erzählungen aus den Jahren 1924-1942.
Aus dem Ungarischen von Timea Tankó. Mit einem Nachwort von György Dalos. Guggolz Verlag, Berlin 2018. 269 S., geb., 24,70 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.01.2019Wenn der Nocken und der Haken sich küssen
Timea Tankós fabelhafte Übersetzung der Erzählungen des ungarischen Klassikers Andor Endre Gelléri
Der Guggolz Verlag hat ein unverwechselbares Markenzeichen: hervorragende Übersetzungen. So hat Sebastian Guggolz sein Berliner Zwei-Personen-Unternehmen inzwischen etablieren können, mit dem er 2014 angetreten ist, bedeutende Autorinnen und Autoren der europäischen Literaturgeschichte wieder aufzulegen und mit seinen sorgfältig ausgestatteten Ausgaben nicht dem Aktualitätsdruck der Branche, sondern den eigenen Überzeugungen zu folgen. Mit dem Erzählungsband „Stromern“ von Andor Endre Gelléri in der warmherzigen, angstfreien Übersetzung von Timea Tankó hat er das wieder unter Beweis gestellt.
Schon 2015 nahm Guggolz den ungarischen Schriftsteller ins Programm, mit seinem ebenfalls von Tankó übersetzten Roman „Die Großwäscherei“ aus dem Jahr 1931. Er spielt in der „Dampfwäscherei Phönix“ und erzählt vom unheilvollen Gewimmel des Viertels, von 14jährigen „Kragenwaschmädchen“, die wie „verwunschene Zwerge nicht mehr wachsen“, von freundlichen Schaufelstielen und einem Heizer, der von der Revolution in China träumt.
Tankó erklärt im Nachwort des Romans, warum es heikel ist, Gelléri angemessen ins Deutsche zu übersetzen: Er liebte Personifikation und Übertreibung. Ein Treppenhaus tritt bei ihm „erschöpft“ auf, ein Hobel „sanftmütig“ und die Nägel „glänzen“. Solche Verfahren sind spätestens seit Gottfried Benns Forderung, das Sprachmaterial kalt zu halten, als kitschig und naiv verschrien. Tankó nimmt Gelléris attributive Helferlein trotzdem „dankbar“ in Dienst und trägt sie einfach „so lange in den Taschen“, bis er im Deutschen „den richtigen Platz“ für sie gefunden hat. In Disneys Weihnachtsfilmen landet man mit Gelléri und Tankó also nicht, obwohl beide den Dingen auch in „Stromern“ wieder kräftiges Leben einhauchen.
„Der Webergeselle“, die erste Geschichte des Bandes, geht dabei gleich aufs Ganze und zeigt Gelléri als meisterhaften Erzähler, der vorführt, wie ein dunkler Raum, „der nur den Spinnen als Wohnung“ diente, allein durch Vorstellungs- und Arbeitskraft in ein Paradiesgärtlein verwandelt werden kann. Gelléri lässt alle daran beteiligten Arbeiter nacheinander auftreten, vom Maurer in kunterbunter Hose über den Kutscher mit Ganovenfratze bis zum Kohlenmann und dem Elektriker in Lederjacke. Unter ihren Händen entstehen „Wände aus gefrorener Milch“ und die Sterne ziehen ein in die dunkle Spinnenhöhle, sodass der Webergeselle zu guter Letzt das Wunder der Verwandlung vollenden kann: mit Krawattenseide. Im Angesicht so verschwenderischen Lebens, verzieht selbst die Zange ihr Gesicht nicht mehr mürrisch.
Dieses Hohelied auf die magische Kraft der kollektiven Arbeit in einer mitteleuropäischen Großstadt ist aber keine Vorlage für einen sowjetischen Propagandafilm, sondern zeigt die Arbeiterfiguren mit ihrem Können, ihren Wünschen und Träumen.
Von heute aus betrachtet, ist diese kleine wundersame Erzählung auch eine Absage an den Geniekult einer Leistungsideologie, die damals ihren Anfang nahm, wie die Historikerin Nina Verheyen in ihrem Buch „Die Erfindung der Leistung“ gerade gezeigt hat. Das weniger prächtige „Land der Armen“ und die Hackordnung, die am Ende nur das Unglück aller zutage treten lässt, entwirft Gelléri in seinen aus den Jahren 1924 bis 1942 stammenden Erzählungen aber auch.
Wenn Gelléri von den „ungezieferartigen Wesen“ im Armenviertel, von „Grind und Eiterflechte“ schreibt, ist dies immer deutlich der Blick der Bessergestellten, die den Ärmeren nicht auf Augenhöhe, sondern mit „Güte“ begegnen. „Der Webergeselle“ am Anfang des Bandes macht klar, welchen Blick Gelléri dagegen für den angemessenen hält. Er selbst wurde 1906 als Sohn jüdischer Eltern geboren. Sein Vater führte eine Geldschrankschlosserei, die in einer der Erzählungen ebenso eine Rolle spielt wie das Ziegeleigelände, auf dem die Großeltern lebten, und auf dem Gelléri nach eigener Aussage seinen „sozialen Blick“ entwickelte.
Am produktivsten war er in den Jahrzehnten vor dem Krieg, in denen die Arbeiterliteratur zu großer, vielfältiger Form auflief und das Elend im Windschatten der Weltwirtschaftskrise besonders groß war.
Das traf auch Gelléri, der sich von Stelle zu Stelle hangelte, bis 1942 die Gesetze in Kraft traten, die Leute wie ihn, Juden, zunächst zum Arbeitsdienst zwangen und dann offen in den Tod schickten. 1944, im Jahr der deutschen Besetzung Ungarns, wurde Gelléri deportiert, dann auf den Todesmarsch nach Mauthausen geschickt, wo er nach der Befreiung 1945 mit 39 Jahren starb. Vom Schicksal seiner Frau und Kinder erfährt man im Nachwort von György Dalos nichts.
Sucht man nach Wahlverwandten im Spektrum der Arbeiterliteratur der Zeit, so findet man sie weniger bei Bertolt Brecht als in Veza Canettis Figuren aus der „Gelben Straße“ in Wien. Gelléris Neigung zum Grotesken erinnert an Canetti, allerdings mit dem Unterschied, dass er die Welt der Arbeiter mit Empathie betrachtet und magisch überhöht, was die Kritiker der Zeit als „feenhaften Realismus“ missverstanden, wie Timea Tankó im Nachwort zu „Die Großwäscherei“ schrieb.
Um ein Missverständnis handelt es sich, weil diese Schreibweise weniger mit Sternenstaub und Zauberwesen zu tun hat, als mit den kleinen, traurigen Momenten des Glücks, wie in Gelléris erster Erzählung „Ich möchte Trompete spielen“, die er mit nur 18 Jahren schrieb. Was als magisch wahrgenommen wird, ist schlicht die ernst genommene Bedeutung der Dinge, wenn sie fehlen, wie dem glück- und arbeitslosen István Pettersen in „Haus im Gelände“, oder wenn sie in der Arbeitswelt über die Menschen herrschen.
Gelléri selbst warf sich vor, nicht radikal genug zu sein: „Warum bin ich ein geheimer Revolutionär, ein risikoloser Kommunist?“ Doch war sein Versuch, durch seine schicksalsergebenen Figuren die „Revolution in ihrer unfertigen Form zu zeigen“, in einer Zeit, in der „selbst die Arbeitenden so sehr“ hungerten, „dass für die Träumer nichts mehr übrig blieb“, durchaus risikoreich. Diese einzigartig funkelnden Erzählungen sollten die Erinnerung wach halten an einen Autor, der das Leben im Schreiben nie aufgegeben hat.
INSA WILKE
Autor mit sozialem Blick: Andor Endre Gelléri (1906 – 1945).
Foto: Guggolz Verlag
Andor Endre Gelléri: Stromern. Erzählungen Aus dem Ungarischen
von Timea Tankó.
Guggolz Verlag,
Berlin 2018.
269 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Timea Tankós fabelhafte Übersetzung der Erzählungen des ungarischen Klassikers Andor Endre Gelléri
Der Guggolz Verlag hat ein unverwechselbares Markenzeichen: hervorragende Übersetzungen. So hat Sebastian Guggolz sein Berliner Zwei-Personen-Unternehmen inzwischen etablieren können, mit dem er 2014 angetreten ist, bedeutende Autorinnen und Autoren der europäischen Literaturgeschichte wieder aufzulegen und mit seinen sorgfältig ausgestatteten Ausgaben nicht dem Aktualitätsdruck der Branche, sondern den eigenen Überzeugungen zu folgen. Mit dem Erzählungsband „Stromern“ von Andor Endre Gelléri in der warmherzigen, angstfreien Übersetzung von Timea Tankó hat er das wieder unter Beweis gestellt.
Schon 2015 nahm Guggolz den ungarischen Schriftsteller ins Programm, mit seinem ebenfalls von Tankó übersetzten Roman „Die Großwäscherei“ aus dem Jahr 1931. Er spielt in der „Dampfwäscherei Phönix“ und erzählt vom unheilvollen Gewimmel des Viertels, von 14jährigen „Kragenwaschmädchen“, die wie „verwunschene Zwerge nicht mehr wachsen“, von freundlichen Schaufelstielen und einem Heizer, der von der Revolution in China träumt.
Tankó erklärt im Nachwort des Romans, warum es heikel ist, Gelléri angemessen ins Deutsche zu übersetzen: Er liebte Personifikation und Übertreibung. Ein Treppenhaus tritt bei ihm „erschöpft“ auf, ein Hobel „sanftmütig“ und die Nägel „glänzen“. Solche Verfahren sind spätestens seit Gottfried Benns Forderung, das Sprachmaterial kalt zu halten, als kitschig und naiv verschrien. Tankó nimmt Gelléris attributive Helferlein trotzdem „dankbar“ in Dienst und trägt sie einfach „so lange in den Taschen“, bis er im Deutschen „den richtigen Platz“ für sie gefunden hat. In Disneys Weihnachtsfilmen landet man mit Gelléri und Tankó also nicht, obwohl beide den Dingen auch in „Stromern“ wieder kräftiges Leben einhauchen.
„Der Webergeselle“, die erste Geschichte des Bandes, geht dabei gleich aufs Ganze und zeigt Gelléri als meisterhaften Erzähler, der vorführt, wie ein dunkler Raum, „der nur den Spinnen als Wohnung“ diente, allein durch Vorstellungs- und Arbeitskraft in ein Paradiesgärtlein verwandelt werden kann. Gelléri lässt alle daran beteiligten Arbeiter nacheinander auftreten, vom Maurer in kunterbunter Hose über den Kutscher mit Ganovenfratze bis zum Kohlenmann und dem Elektriker in Lederjacke. Unter ihren Händen entstehen „Wände aus gefrorener Milch“ und die Sterne ziehen ein in die dunkle Spinnenhöhle, sodass der Webergeselle zu guter Letzt das Wunder der Verwandlung vollenden kann: mit Krawattenseide. Im Angesicht so verschwenderischen Lebens, verzieht selbst die Zange ihr Gesicht nicht mehr mürrisch.
Dieses Hohelied auf die magische Kraft der kollektiven Arbeit in einer mitteleuropäischen Großstadt ist aber keine Vorlage für einen sowjetischen Propagandafilm, sondern zeigt die Arbeiterfiguren mit ihrem Können, ihren Wünschen und Träumen.
Von heute aus betrachtet, ist diese kleine wundersame Erzählung auch eine Absage an den Geniekult einer Leistungsideologie, die damals ihren Anfang nahm, wie die Historikerin Nina Verheyen in ihrem Buch „Die Erfindung der Leistung“ gerade gezeigt hat. Das weniger prächtige „Land der Armen“ und die Hackordnung, die am Ende nur das Unglück aller zutage treten lässt, entwirft Gelléri in seinen aus den Jahren 1924 bis 1942 stammenden Erzählungen aber auch.
Wenn Gelléri von den „ungezieferartigen Wesen“ im Armenviertel, von „Grind und Eiterflechte“ schreibt, ist dies immer deutlich der Blick der Bessergestellten, die den Ärmeren nicht auf Augenhöhe, sondern mit „Güte“ begegnen. „Der Webergeselle“ am Anfang des Bandes macht klar, welchen Blick Gelléri dagegen für den angemessenen hält. Er selbst wurde 1906 als Sohn jüdischer Eltern geboren. Sein Vater führte eine Geldschrankschlosserei, die in einer der Erzählungen ebenso eine Rolle spielt wie das Ziegeleigelände, auf dem die Großeltern lebten, und auf dem Gelléri nach eigener Aussage seinen „sozialen Blick“ entwickelte.
Am produktivsten war er in den Jahrzehnten vor dem Krieg, in denen die Arbeiterliteratur zu großer, vielfältiger Form auflief und das Elend im Windschatten der Weltwirtschaftskrise besonders groß war.
Das traf auch Gelléri, der sich von Stelle zu Stelle hangelte, bis 1942 die Gesetze in Kraft traten, die Leute wie ihn, Juden, zunächst zum Arbeitsdienst zwangen und dann offen in den Tod schickten. 1944, im Jahr der deutschen Besetzung Ungarns, wurde Gelléri deportiert, dann auf den Todesmarsch nach Mauthausen geschickt, wo er nach der Befreiung 1945 mit 39 Jahren starb. Vom Schicksal seiner Frau und Kinder erfährt man im Nachwort von György Dalos nichts.
Sucht man nach Wahlverwandten im Spektrum der Arbeiterliteratur der Zeit, so findet man sie weniger bei Bertolt Brecht als in Veza Canettis Figuren aus der „Gelben Straße“ in Wien. Gelléris Neigung zum Grotesken erinnert an Canetti, allerdings mit dem Unterschied, dass er die Welt der Arbeiter mit Empathie betrachtet und magisch überhöht, was die Kritiker der Zeit als „feenhaften Realismus“ missverstanden, wie Timea Tankó im Nachwort zu „Die Großwäscherei“ schrieb.
Um ein Missverständnis handelt es sich, weil diese Schreibweise weniger mit Sternenstaub und Zauberwesen zu tun hat, als mit den kleinen, traurigen Momenten des Glücks, wie in Gelléris erster Erzählung „Ich möchte Trompete spielen“, die er mit nur 18 Jahren schrieb. Was als magisch wahrgenommen wird, ist schlicht die ernst genommene Bedeutung der Dinge, wenn sie fehlen, wie dem glück- und arbeitslosen István Pettersen in „Haus im Gelände“, oder wenn sie in der Arbeitswelt über die Menschen herrschen.
Gelléri selbst warf sich vor, nicht radikal genug zu sein: „Warum bin ich ein geheimer Revolutionär, ein risikoloser Kommunist?“ Doch war sein Versuch, durch seine schicksalsergebenen Figuren die „Revolution in ihrer unfertigen Form zu zeigen“, in einer Zeit, in der „selbst die Arbeitenden so sehr“ hungerten, „dass für die Träumer nichts mehr übrig blieb“, durchaus risikoreich. Diese einzigartig funkelnden Erzählungen sollten die Erinnerung wach halten an einen Autor, der das Leben im Schreiben nie aufgegeben hat.
INSA WILKE
Autor mit sozialem Blick: Andor Endre Gelléri (1906 – 1945).
Foto: Guggolz Verlag
Andor Endre Gelléri: Stromern. Erzählungen Aus dem Ungarischen
von Timea Tankó.
Guggolz Verlag,
Berlin 2018.
269 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de