Wie so viele europäische jüdische Wissenschaftler und Künstler floh auch Claude Lévi-Strauss Anfang der 1940er Jahre vor den Nationalsozialisten in die USA und lebte als Flüchtling in New York. Dieser Band legt Zeugnis ab von der Erfahrung des Exils, von einem sowohl biografisch als auch historisch entscheidenden Moment. Diese zwischen 1941 und 1947 geschriebenen Texte präsentieren den politischen Zeitzeugen und lassen zugleich die Vorgeschichte der strukturalen Anthropologie sichtbar werden, mit der Lévi-Strauss in der Nachkriegszeit die wissenschaftliche Welt im Sturm erobern sollte.
Die amerikanischen Jahre stehen für ihn im Zeichen historischer Katastrophen: zum einen der Vernichtung der amerikanischen Ureinwohner und zum anderen des Völkermords an den Juden Europas. Seit der Zeit des Exils scheint die Anthropologie von Lévi-Strauss durch die Erinnerung und die Möglichkeit der Shoah, die nie benannt wird, geprägt zu sein. Strukturale Anthropologie Zero bedeutet daher, zur Quelle eines Denkens zurückzukehren, das unser Menschenbild revolutioniert hat. Diese Vorgeschichte des Strukturalismus unterstreicht aber auch das Gefühl eines neuen Anfangs, das ihren Autor am Ende des Krieges beseelte, und beleuchtet das Projekt eines zivilisatorischen Neubeginns.
Die amerikanischen Jahre stehen für ihn im Zeichen historischer Katastrophen: zum einen der Vernichtung der amerikanischen Ureinwohner und zum anderen des Völkermords an den Juden Europas. Seit der Zeit des Exils scheint die Anthropologie von Lévi-Strauss durch die Erinnerung und die Möglichkeit der Shoah, die nie benannt wird, geprägt zu sein. Strukturale Anthropologie Zero bedeutet daher, zur Quelle eines Denkens zurückzukehren, das unser Menschenbild revolutioniert hat. Diese Vorgeschichte des Strukturalismus unterstreicht aber auch das Gefühl eines neuen Anfangs, das ihren Autor am Ende des Krieges beseelte, und beleuchtet das Projekt eines zivilisatorischen Neubeginns.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.08.2021Die große Leichtigkeit
Der Mann, der Claude Lévi-Strauss werden sollte - ein neuer Sammelband mit frühen Texten des großen Anthropologen
Es gebe in New York einen verzauberten Ort, "wo Tiere mit übermenschlicher Sanftmut ihre kleinen Pfoten gleich Händen falten und um das Vorrecht bitten, dem Auserwählten den Palast des Bibers zu bauen, ihn durch das Reich des Seehundes zu geleiten oder ihn in einem mystischen Kuss die Sprache des Frosches oder Eisvogels zu lehren", schreibt Claude Lévi-Strauss 1942 in New York. "Die Kunst der Nordwestküste im American Museum of Natural History" heißt der Text und findet sich im gerade im Suhrkamp Verlag erschienenen Band "Strukturale Anthropologie Zero".
Der Band versammelt Texte, die Lévi-Strauss von 1941-1947 in New York geschrieben hat und die er nicht in seine klassisch gewordenen Bände "Strukturale Anthropologie" und "Strukturale Anthropologie II", die 1958 und 1973 erschienen sind, aufgenommen hatte. Das Buch ist aber viel mehr als eine Sammlung von bisher nur schwer zugänglichen Texten, die Lévi-Strauss' Weg vom Ethnologen, der ab der Mitte der Dreißigerjahre an Gruppenexkursionen in bis dahin unerschlossene Gegenden Amazoniens teilgenommen hatte, zu dem Strukturalisten, der eine ganze wissenschaftliche Epoche maßgeblich mitgeprägt hat, nachzeichnen.
"Strukturale Anthropologie Zero" liefert auch das Bild eines Flüchtlings, der gerade dem Schrecken der möglichen Vernichtung in Europa entkommen war und den in New York eine Leichtigkeit und Begeisterung für Amerika befiel, die so in Lévi-Strauss' Leben einmalig blieb. Deshalb ist dem Herausgeber Vincent Debaene nicht nur für das Zusammentragen der Texte zu danken, sondern auch für die Aufnahme von spezifisch amerikanischen Texten wie dem über das Naturkundemuseum und des Essays über "die Technik des Glücks".
Lévi-Strauss war, als er 1941 in New York ankam, noch nicht der weltberühmte Autor von Büchern wie "Traurige Tropen" und "Das wilde Denken", den viel später ein Kellner eines kalifornischen Restaurants, als er den Namen "Lévi-Strauss" las, fragen wird: "The pants or the books?" Die Bücher gab es noch nicht, und von den Hosen hatte der Wissenschaftler offensichtlich keine Ahnung. Denn, so schrieb er seinen Eltern, dass er jetzt an der New School of Social Research, an der er bis 1944 unterrichten sollte, Prof. Claude L. Strauss hieß, kam so, "weil Lévi-Strauss der Name eines bekannten Herstellers von Regenmänteln ist". Es ist diese Mischung von Unverständnis gegenüber dem Innenleben von Wolkenkratzern bei gleichzeitiger Faszination für deren Aussehen, die Lévi-Strauss beflügelt. Zudem ist er 1941 mit 32 Jahren einer der jüngsten unter den Exilanten. Und er ist zum ersten Mal ohne jede Verpflichtung gegenüber seiner Familie. Musste Lévi-Strauss bereits als sehr junger Mann seine Eltern finanzieren, so ist er jetzt auf sich allein gestellt und weiß seine Eltern mit gefälschten Papieren in den Cevennen in Frankreich versteckt.
Er kann also seinen Arbeitseifer ohne schlechtes Gewissen mit seinem Bohemeleben verbinden und wird deshalb, als er New York 1947 verlässt, auch viel älter aussehen, als er ist, wie seine Biographin Emmanuelle Loyer schreibt. Dieses Immer-etwas-älter-Aussehen wird mit dem Ruhm eines seiner Markenzeichen werden. In New York ist Lévi-Strauss aber am Anfang so jung, wie er es nie war. Er durchstreift Manhattan in "phantastischen Nachtmärschen" und trifft sich mit schon alternden Kunststars wie dem Surrealisten André Breton und Yves Tanguy oder Marcel Duchamp und Max Ernst. Weil es in New York keine Caféhauskultur gab, trafen sie sich in Wohnungen und teilten ihre Vorliebe für die Kunst der Indigenen. Und um die Kunst der Indigenen von der Nordküste des Pazifik ging es Lévi-Strauss auch in dem Text über das Naturkundemuseum.
Lévi-Strauss ließ dabei keinen Zweifel an der ästhetischen Raffinesse der Web- und Maskenkunst der Indigenen Nordamerikas. Für ihn gehörte diese Kunst neben die Werke des alten Ägypten, Persiens und des europäischen Mittelalters in die Museen der Schönen Künste. "Denn diese Kunst darf sich mit den größten Kunstformen messen, und in den anderthalb Jahrhunderten, die wir von ihrer Geschichte kennen, zeugte sie von einer Vielfalt, die die anderen bei weitem übertraf, und entfaltete scheinbar unversiegbare Fähigkeiten der Erneuerung", schrieb er. Die Autonomie dieser Kunst mit ihrem Formenreichtum wie der Unabhängigkeit ihrer Formensprache gegenüber ihren Gegenständen stand für Lévi-Strauss außer Frage. Ohne von der aktuellen Kunstgeschichte in diesem Punkt überholt worden zu sein, kann man Lévi-Strauss' Text immer auch noch als Wegweiser in aktuelle Debatten über den Raub indigener Kunstwerke lesen.
In die Euphorie um die Schönheit und Eigenständigkeit der indigenen Kunst mischte sich aber auch in diesem frühen Text schon die Melancholie um deren Zerstörung durch den westlichen Lebens- und Politikstil. Diese Kunstfertigkeit, schreibt er, "wurde zwischen 1910 und 1920 plötzlich völlig ausgelöscht, so dass heute außer von den Museen ausgesparten großen Totempfählen an der gesamten Küste nur noch ungestalte geschnitzte Figurinen zu finden sind, die den Touristen für ein paar Cents verkauft werden". Lange hält sich Lévi-Strauss in diesen frühen Texten mit der Melancholie über die verschwundenen und verschwindenden kulturellen Fertigkeiten der Indigenen aber nicht auf. Es überwiegt ein Ton des Aufbruchs, und der hat auch mit der amerikanischen Anthropologie zu tun, die wesentlich besser und weiter entwickelt war als das, was er aus Frankreich kannte. Und von der Energie, mit der Lévi-Strauss sich in die amerikanische Anthropologie begab, zeugen auch die trockenen frühen, rein ethnologischen Texte, die dieser Band versammelt. Er wirft hier nämlich auch einen Blick auf die zukünftige Methode ethnologischer Untersuchungen, die darin bestehen sollte, dass sich einzelne Forscher als teilnehmende Beobachter in indigene Gesellschaften begeben, um mit ihnen lebend diese Gesellschaften zu studieren.
Lévi-Strauss' eigene Praxis der Gruppenexkursionen hatte er damit bereits als überholt erkannt, bevor er sie überhaupt richtig ausgewertet hatte. Dazu allerdings fehlt ihm noch ein entscheidender Baustein, nämlich die sozusagen mathematisch-strukturale Basis. Auch die wird er in New York durch die Bekanntschaft mit dem Linguisten Roman Jakobson finden. Jakobson führte ihn in die Sprachwissenschaft und Zeichentheorie Ferdinand de Saussures ein, macht ihn aber auch mit mathematischen Theorien bekannt, Nachbarschaften neu zu denken. Damit hatte Lévi-Strauss neben der Kunst-, Sammel- und Umwertungsleidenschaft von Gegenständen, die er mit André Breton und Marcel Duchamp teilte, der amerikanischen Anthropologie und dem Sprachverständnis der Linguistik Saussures und Jakobsons das Gerüst dessen zusammen, woraus später sein Strukturalismus werden sollte. Wobei das Verhältnis von Sprache und Gesellschaft nach den New Yorker Jahren zu einem von Lévi-Strauss' zentralen Themen werden wird.
"Wie die Sprache ist das Soziale eine (und zwar dieselbe) autonome Realität; die Symbole sind realer als das, was sie symbolisieren, der Signifikant geht dem Signifikat voraus und bestimmt es", wird Lévi-Strauss 1950 in der "Einleitung in das Werk von Marcel Mauss" schreiben. Wie von seinem Text über das Naturkundemuseum eine Linie in aktuelle Debatten um indigene Kunst führt, so führt dieser Satz direkt in die aktuellen Sprachdebatten. Denn wenn das Wort dem Gegenstand vorausgeht und ihn bestimmt, geht vom Wort eine Macht aus, die man kaum unterschätzen kann.
Aber so weit ist Lévi-Strauss in den New Yorker Texten noch nicht. Dafür kommt er aber seinem neben Sprache und Gesellschaft zweiten großen Thema, der Unterscheidung von Natur und Kultur, immer näher. Und da gibt es eine Entdeckung zu machen, die im späteren Werk nicht mehr auftaucht. In dem Text "Die Theorie der Macht in einer primitiven Gesellschaft" taucht eine Wendung auf, die alle, die die Hoffnung schwinden sehen, dass die Macht irgendwann mal allen zu viel werden könnte, unbedingt lesen sollten. Es handelt sich dabei um die Wendung von der "natürlichen Macht". Sie taucht in dem Moment im Text auf, als Lévi-Strauss die Frage aufwirft, wer überhaupt Häuptling werden will und warum. Lévi-Strauss hatte zuvor die soziale Organisation der Nambikwara beschrieben, die er auf seinen Exkursionen in Amazonien besucht hatte.
Man war dabei auf viele Menschen gestoßen, die nie hätten Häuptling werden wollen. Der Häuptling hat zwar die Macht inne, aber er muss großzügig sein. Er hat Verpflichtungen, aber er darf mehrere Frauen bekommen. Jeder Mann erhält seine Frau von einem anderen Mann, der Häuptling aber erhält mehrere Frauen der Gruppe. Im Austausch dafür muss er der Gruppe aber eine Garantie gegen Nahrungsknappheit und Gefahr bieten. Und dies nicht bloß gegenüber den einzelnen Männern, deren Schwestern und Töchter er ehelicht, oder denen gegenüber, die aufgrund seines Polygamierechtes ohne Frau bleiben. Seine Verpflichtung gilt gegenüber der Gruppe als ganzer, denn sie war es, die das gemeinschaftliche Recht zu seinen Gunsten aufgehoben hat.
Lévi-Strauss schaltet an der Stelle einen Gedanken ein, in dem er die Auffassung des Staates als eines Systems von Sicherheiten für jedes einzelne Mitglied mit dem Sicherheitssystem der Nambikwara verbindet. Den Staat als Sicherheitssystem zu begreifen sei kein moderner Gedanke, sondern eine Rückkehr zur grundlegenden Beschaffenheit sozialer und politischer Organisation. Bleibt aber noch die Frage nach der Beschaffenheit des Häuptlings. Und Lévi-Strauss beantworte sie intuitiv, aus der Kenntnis verschiedener Nambikwara-Häuptlinge heraus. Denn eine Gesellschaft, die so wenig vom Wettbewerbsgeist angetrieben wird wie die der Nambikwara, legt nahe, dass der Häuptlingsgeist nicht sozialen Ursprungs ist. Lévi-Strauss findet ihn in einem "psychologischen Rohstoff", auf dem jede Gesellschaft aufbaue und den er "natürliche Macht" nennt. Mit anderen Worten: Häuptlinge gibt es, weil Häuptlinge geboren werden, nicht weil sie die Besten sind. Aktuell auch daran ist Lévi-Strauss' Rat, dem Phänomen der natürlichen Macht die Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, die es benötigt, um den Existenzgrund einer Gesellschaft zu gewährleisten, nämlich den Schutz aller vor Hunger und Gefahren. CORD RIECHELMANN.
Claude Lévi-Strauss: "Strukturale Anthropologie Zero". Aus dem Französischen von Bernd Schwibs. Suhrkamp, 392 Seiten, 34 Euro
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Der Mann, der Claude Lévi-Strauss werden sollte - ein neuer Sammelband mit frühen Texten des großen Anthropologen
Es gebe in New York einen verzauberten Ort, "wo Tiere mit übermenschlicher Sanftmut ihre kleinen Pfoten gleich Händen falten und um das Vorrecht bitten, dem Auserwählten den Palast des Bibers zu bauen, ihn durch das Reich des Seehundes zu geleiten oder ihn in einem mystischen Kuss die Sprache des Frosches oder Eisvogels zu lehren", schreibt Claude Lévi-Strauss 1942 in New York. "Die Kunst der Nordwestküste im American Museum of Natural History" heißt der Text und findet sich im gerade im Suhrkamp Verlag erschienenen Band "Strukturale Anthropologie Zero".
Der Band versammelt Texte, die Lévi-Strauss von 1941-1947 in New York geschrieben hat und die er nicht in seine klassisch gewordenen Bände "Strukturale Anthropologie" und "Strukturale Anthropologie II", die 1958 und 1973 erschienen sind, aufgenommen hatte. Das Buch ist aber viel mehr als eine Sammlung von bisher nur schwer zugänglichen Texten, die Lévi-Strauss' Weg vom Ethnologen, der ab der Mitte der Dreißigerjahre an Gruppenexkursionen in bis dahin unerschlossene Gegenden Amazoniens teilgenommen hatte, zu dem Strukturalisten, der eine ganze wissenschaftliche Epoche maßgeblich mitgeprägt hat, nachzeichnen.
"Strukturale Anthropologie Zero" liefert auch das Bild eines Flüchtlings, der gerade dem Schrecken der möglichen Vernichtung in Europa entkommen war und den in New York eine Leichtigkeit und Begeisterung für Amerika befiel, die so in Lévi-Strauss' Leben einmalig blieb. Deshalb ist dem Herausgeber Vincent Debaene nicht nur für das Zusammentragen der Texte zu danken, sondern auch für die Aufnahme von spezifisch amerikanischen Texten wie dem über das Naturkundemuseum und des Essays über "die Technik des Glücks".
Lévi-Strauss war, als er 1941 in New York ankam, noch nicht der weltberühmte Autor von Büchern wie "Traurige Tropen" und "Das wilde Denken", den viel später ein Kellner eines kalifornischen Restaurants, als er den Namen "Lévi-Strauss" las, fragen wird: "The pants or the books?" Die Bücher gab es noch nicht, und von den Hosen hatte der Wissenschaftler offensichtlich keine Ahnung. Denn, so schrieb er seinen Eltern, dass er jetzt an der New School of Social Research, an der er bis 1944 unterrichten sollte, Prof. Claude L. Strauss hieß, kam so, "weil Lévi-Strauss der Name eines bekannten Herstellers von Regenmänteln ist". Es ist diese Mischung von Unverständnis gegenüber dem Innenleben von Wolkenkratzern bei gleichzeitiger Faszination für deren Aussehen, die Lévi-Strauss beflügelt. Zudem ist er 1941 mit 32 Jahren einer der jüngsten unter den Exilanten. Und er ist zum ersten Mal ohne jede Verpflichtung gegenüber seiner Familie. Musste Lévi-Strauss bereits als sehr junger Mann seine Eltern finanzieren, so ist er jetzt auf sich allein gestellt und weiß seine Eltern mit gefälschten Papieren in den Cevennen in Frankreich versteckt.
Er kann also seinen Arbeitseifer ohne schlechtes Gewissen mit seinem Bohemeleben verbinden und wird deshalb, als er New York 1947 verlässt, auch viel älter aussehen, als er ist, wie seine Biographin Emmanuelle Loyer schreibt. Dieses Immer-etwas-älter-Aussehen wird mit dem Ruhm eines seiner Markenzeichen werden. In New York ist Lévi-Strauss aber am Anfang so jung, wie er es nie war. Er durchstreift Manhattan in "phantastischen Nachtmärschen" und trifft sich mit schon alternden Kunststars wie dem Surrealisten André Breton und Yves Tanguy oder Marcel Duchamp und Max Ernst. Weil es in New York keine Caféhauskultur gab, trafen sie sich in Wohnungen und teilten ihre Vorliebe für die Kunst der Indigenen. Und um die Kunst der Indigenen von der Nordküste des Pazifik ging es Lévi-Strauss auch in dem Text über das Naturkundemuseum.
Lévi-Strauss ließ dabei keinen Zweifel an der ästhetischen Raffinesse der Web- und Maskenkunst der Indigenen Nordamerikas. Für ihn gehörte diese Kunst neben die Werke des alten Ägypten, Persiens und des europäischen Mittelalters in die Museen der Schönen Künste. "Denn diese Kunst darf sich mit den größten Kunstformen messen, und in den anderthalb Jahrhunderten, die wir von ihrer Geschichte kennen, zeugte sie von einer Vielfalt, die die anderen bei weitem übertraf, und entfaltete scheinbar unversiegbare Fähigkeiten der Erneuerung", schrieb er. Die Autonomie dieser Kunst mit ihrem Formenreichtum wie der Unabhängigkeit ihrer Formensprache gegenüber ihren Gegenständen stand für Lévi-Strauss außer Frage. Ohne von der aktuellen Kunstgeschichte in diesem Punkt überholt worden zu sein, kann man Lévi-Strauss' Text immer auch noch als Wegweiser in aktuelle Debatten über den Raub indigener Kunstwerke lesen.
In die Euphorie um die Schönheit und Eigenständigkeit der indigenen Kunst mischte sich aber auch in diesem frühen Text schon die Melancholie um deren Zerstörung durch den westlichen Lebens- und Politikstil. Diese Kunstfertigkeit, schreibt er, "wurde zwischen 1910 und 1920 plötzlich völlig ausgelöscht, so dass heute außer von den Museen ausgesparten großen Totempfählen an der gesamten Küste nur noch ungestalte geschnitzte Figurinen zu finden sind, die den Touristen für ein paar Cents verkauft werden". Lange hält sich Lévi-Strauss in diesen frühen Texten mit der Melancholie über die verschwundenen und verschwindenden kulturellen Fertigkeiten der Indigenen aber nicht auf. Es überwiegt ein Ton des Aufbruchs, und der hat auch mit der amerikanischen Anthropologie zu tun, die wesentlich besser und weiter entwickelt war als das, was er aus Frankreich kannte. Und von der Energie, mit der Lévi-Strauss sich in die amerikanische Anthropologie begab, zeugen auch die trockenen frühen, rein ethnologischen Texte, die dieser Band versammelt. Er wirft hier nämlich auch einen Blick auf die zukünftige Methode ethnologischer Untersuchungen, die darin bestehen sollte, dass sich einzelne Forscher als teilnehmende Beobachter in indigene Gesellschaften begeben, um mit ihnen lebend diese Gesellschaften zu studieren.
Lévi-Strauss' eigene Praxis der Gruppenexkursionen hatte er damit bereits als überholt erkannt, bevor er sie überhaupt richtig ausgewertet hatte. Dazu allerdings fehlt ihm noch ein entscheidender Baustein, nämlich die sozusagen mathematisch-strukturale Basis. Auch die wird er in New York durch die Bekanntschaft mit dem Linguisten Roman Jakobson finden. Jakobson führte ihn in die Sprachwissenschaft und Zeichentheorie Ferdinand de Saussures ein, macht ihn aber auch mit mathematischen Theorien bekannt, Nachbarschaften neu zu denken. Damit hatte Lévi-Strauss neben der Kunst-, Sammel- und Umwertungsleidenschaft von Gegenständen, die er mit André Breton und Marcel Duchamp teilte, der amerikanischen Anthropologie und dem Sprachverständnis der Linguistik Saussures und Jakobsons das Gerüst dessen zusammen, woraus später sein Strukturalismus werden sollte. Wobei das Verhältnis von Sprache und Gesellschaft nach den New Yorker Jahren zu einem von Lévi-Strauss' zentralen Themen werden wird.
"Wie die Sprache ist das Soziale eine (und zwar dieselbe) autonome Realität; die Symbole sind realer als das, was sie symbolisieren, der Signifikant geht dem Signifikat voraus und bestimmt es", wird Lévi-Strauss 1950 in der "Einleitung in das Werk von Marcel Mauss" schreiben. Wie von seinem Text über das Naturkundemuseum eine Linie in aktuelle Debatten um indigene Kunst führt, so führt dieser Satz direkt in die aktuellen Sprachdebatten. Denn wenn das Wort dem Gegenstand vorausgeht und ihn bestimmt, geht vom Wort eine Macht aus, die man kaum unterschätzen kann.
Aber so weit ist Lévi-Strauss in den New Yorker Texten noch nicht. Dafür kommt er aber seinem neben Sprache und Gesellschaft zweiten großen Thema, der Unterscheidung von Natur und Kultur, immer näher. Und da gibt es eine Entdeckung zu machen, die im späteren Werk nicht mehr auftaucht. In dem Text "Die Theorie der Macht in einer primitiven Gesellschaft" taucht eine Wendung auf, die alle, die die Hoffnung schwinden sehen, dass die Macht irgendwann mal allen zu viel werden könnte, unbedingt lesen sollten. Es handelt sich dabei um die Wendung von der "natürlichen Macht". Sie taucht in dem Moment im Text auf, als Lévi-Strauss die Frage aufwirft, wer überhaupt Häuptling werden will und warum. Lévi-Strauss hatte zuvor die soziale Organisation der Nambikwara beschrieben, die er auf seinen Exkursionen in Amazonien besucht hatte.
Man war dabei auf viele Menschen gestoßen, die nie hätten Häuptling werden wollen. Der Häuptling hat zwar die Macht inne, aber er muss großzügig sein. Er hat Verpflichtungen, aber er darf mehrere Frauen bekommen. Jeder Mann erhält seine Frau von einem anderen Mann, der Häuptling aber erhält mehrere Frauen der Gruppe. Im Austausch dafür muss er der Gruppe aber eine Garantie gegen Nahrungsknappheit und Gefahr bieten. Und dies nicht bloß gegenüber den einzelnen Männern, deren Schwestern und Töchter er ehelicht, oder denen gegenüber, die aufgrund seines Polygamierechtes ohne Frau bleiben. Seine Verpflichtung gilt gegenüber der Gruppe als ganzer, denn sie war es, die das gemeinschaftliche Recht zu seinen Gunsten aufgehoben hat.
Lévi-Strauss schaltet an der Stelle einen Gedanken ein, in dem er die Auffassung des Staates als eines Systems von Sicherheiten für jedes einzelne Mitglied mit dem Sicherheitssystem der Nambikwara verbindet. Den Staat als Sicherheitssystem zu begreifen sei kein moderner Gedanke, sondern eine Rückkehr zur grundlegenden Beschaffenheit sozialer und politischer Organisation. Bleibt aber noch die Frage nach der Beschaffenheit des Häuptlings. Und Lévi-Strauss beantworte sie intuitiv, aus der Kenntnis verschiedener Nambikwara-Häuptlinge heraus. Denn eine Gesellschaft, die so wenig vom Wettbewerbsgeist angetrieben wird wie die der Nambikwara, legt nahe, dass der Häuptlingsgeist nicht sozialen Ursprungs ist. Lévi-Strauss findet ihn in einem "psychologischen Rohstoff", auf dem jede Gesellschaft aufbaue und den er "natürliche Macht" nennt. Mit anderen Worten: Häuptlinge gibt es, weil Häuptlinge geboren werden, nicht weil sie die Besten sind. Aktuell auch daran ist Lévi-Strauss' Rat, dem Phänomen der natürlichen Macht die Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, die es benötigt, um den Existenzgrund einer Gesellschaft zu gewährleisten, nämlich den Schutz aller vor Hunger und Gefahren. CORD RIECHELMANN.
Claude Lévi-Strauss: "Strukturale Anthropologie Zero". Aus dem Französischen von Bernd Schwibs. Suhrkamp, 392 Seiten, 34 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Für Eckart Goebel ist der Titel dieser Sammlung von Aufsätzen von Claude Levi-Strauss aus den Jahren 1941-1947 irreführend. Die abgedruckten Texte scheinen ihm weder unbekannt noch den Beginn der strukturalen Anthropologie zu markieren, wie seiner Meinung nach suggeriert wird. Die meisten von ihnen sind zumindest in Teilen in "Traurige Tropen" enthalten, erklärt der Rezensent. Goebel schlägt daher vor, aus den Texten einen Band "Baumaterial für 'Tristes Tropiques'" zu kompilieren, anstatt die Editionsgeschichte auf diese Art zu verwischen, wenngleich er die Titelwahl aus publikationsstrategischer Sicht durchaus nachvollziehen kann, weil sie neues Interesse am Autor generiert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Wie aktuell [das Denken Lévi-Strauss' ist], zeigt sich im Scheitern der westlichen Welt in Afghanistan, aber auch in der Zerstörung des Lebensraums indigener Völker durch Raubbau an der Natur und den Klimawandel.« Jan Kuhlbrodt piqd 20210827