Unsere zivilisatorischen Werte wie Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit verdanken wir dem Zeitalter der Aufklärung. Voltaires ›Briefe aus England‹ gehören mit zu jenen Schriften, welche die Französische Revolution auslösten. Vom Exil aus sah Voltaire seine Heimat von außen: die Vorzüge, aber auch die Mängel. England schien ihm weit voraus in Philosophie und Wissenschaft. So viel Kritik vertrug das Ancien Régime nicht. Als das Buch in Paris erschien, wurde es umgehend verboten und zur Verbrennung verurteilt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.12.2017Es geht auch ohne Goethe
Auf eine Theaterbühne wird es dieser Prophet nicht mehr schaffen: Aber die neue Übersetzung des "Mahomet" und die wieder erschienenen "Briefe aus England" zeigen Voltaire in ganzer Spannbreite.
Es spricht Hamlet, Prinz von Dänemark: "Warte, es heißt wählen, und augenblicks scheiden / vom Leben zum Tod, vom Sein in das Nichts. / Grausame Götter! Wenn es einen gibt, erhellt meinen Mut./ Muss ich altern, gebeugt unter die Hand, die mich unterdrückt, ertragen oder enden mein Unglück und Schicksal?" Aber wer nur lässt Hamlet so sprechen? Shakespeare ja wohl nicht, selbst wenn die letzten Worte entfernt an den allseits bekannten Monolog des Dänenprinzen erinnern.
Doch ungefähr so übersetzte Voltaire aus dem "Hamlet" für seine "Briefe aus England", die später meist unter dem Titel "Philosophische Briefe" erschienen. Der achtzehnte dieser Briefe ist der Tragödie gewidmet, und in ihm stößt auf fast schon komische Weise ein erfolgreicher Pariser Tragödiendichter auf den Spuren der französischen Klassik mit Shakespeare zusammen: der hohe Ton mit dem gemischten Genre, paargereimte Alexandriner mit dem Blankvers, eine raffiniert durchgebildete Poetik tragischer Konflikte mit einem Autor, so Voltaire, "voller Kraft und Fruchtbarkeit, Unverfälschtem und Erhabenem", doch ohne "das geringste Fünkchen guten Geschmacks, noch die geringste Kenntnis der Regeln".
Wäre es nur um Gegenstände wie die Tragödie und andere Künste gegangen, die "Philosophischen Briefe" hätten kaum für Aufsehen gesorgt. Aber als sie 1733, vier Jahre nach Voltaires Aufenthalt in London, erscheinen, ist ihr Autor eben nicht nur ein erfolgreich hervorgetretener Dramatiker und Dichter: Er hat auch bereits Inhaftierungen und eilige Fluchten hinter sich, als obrigkeitliche Strafen für jene Art von Texten, die ihm nicht zuletzt den Nachruhm sichern werden, wenn seine Bühnenstücke und sein Versepos "L'Henriade" bloß noch Spezialisten der Literaturgeschichte beschäftigen.
Wie etwa die "Philosophischen Briefe", deren erste, am königlichen Zensor vorbeipublizierte Ausgabe sofort verboten wurde. Was ihren Autor kaum verwundern konnte, der sich allenfalls halbherzig darum bemüht hatte, seine kritischen Spitzen zu bemänteln. Das Lob Englands, der politischen, gesellschaftlichen wie philosophisch-wissenschaftlichen Verhältnisse auf der "Insel der Vernunft", war eine klare Breitseite gegen einige tief verankerte Ordnungsvorstellungen der französischen Monarchie. Voltaires Begeisterung für den englischen Empirismus und die Feier Newtons sollte überdies Schule machen, und als ob sie nicht bereits deutlich genug die Stoßrichtung anzeigten, knüpfte er daran noch seine Abrechnung mit Pascal: der Mann des vernünftigen Fortschritts avant la lettre gegen den theologisch voreingenommenen Miesepeter.
Mit der nun erschienenen Neuausgabe der Übersetzung von Rudolf von Bitter sind die "Briefe" wieder lieferbar, nunmehr mit literarisiertem Titel (und immer noch steht da für die "révolution" der cartesischen Wirbel und der Planeten nicht etwa "Umdrehung" und "Umlauf", sondern allen Ernstes "Wende"). Ungleich ambitionierter aber ist eine neue Übersetzung, die zum Dramatiker zurückführt, also zu jenem Voltaire, der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts endgültig von der Bildfläche verschwand, obgleich er für seine Zeitgenossen zu den erfolgreichsten Bühnenautoren klassischer Tradition gezählt hatte.
Der junge Berliner Lyriker, Übersetzer und Literaturwissenschaftler Tobias Roth hat Voltaires Tragödie "Le Fanatisme ou Mahomet le Prophète" aus dem Jahr 1741 ins Deutsche gebracht: Weder in Prosa noch gemildert zum ungereimten Blankvers, wie bei einem berühmten anderen Übersetzer und Bearbeiter dieses Stücks, Johann Wolfgang von Goethe, sondern an den gereimten Alexandrinern entlang, und das mit beeindruckendem Geschick.
Dazu kommen ein kenntnisreiches Nachwort und weitere Texte, die Voltaire einer einige Jahre nach der Fertigstellung der ersten Fassung erschienenen Buchausgabe seiner Tragödie beigab: die "Predigt der Fünfzig", eine Fundamentalkritik an der biblischen Überlieferung von Juden und Christen, dito gegen den Islam unter dem Titel "Von dem Korane und dem Mahomed" (in der Übersetzung Gotthold Ephraim Lessings), ein Widmungsbrief an Friedrich den Großen, der zu den ersten Lesern und Hörern des Dramas zählte und der größtenteils von Voltaire gefälschte briefliche Austausch über den "Mahomet" mit dem literarischen Connaisseur Papst Benedikt XIV. Lambertini.
Die beigegebenen Texte unterstreichen, was der Titel des Stücks ohnehin zum Ausdruck bringt: Voltaire nimmt den religiösen Fanatismus aufs Korn. Im dramatischen Gewand bedeutet das: Der mit seinen Truppen nach Mekka zurückkehrende Mohammed lässt seinen von Voltaire erfundenen Widersacher, den dem alten Glauben anhängenden Statthalter Zopire, umbringen. Damit sich aber der tragische Knoten ganz eng schlingt und die Skrupellosigkeit des Religionsstifters ins Auge sticht, muss es Zopires eigener, dem Propheten blind ergebener Sohn Seïde sein, der diese Tat vollbringt - um anschließend von Mohammed mit Gift aus dem Weg geräumt zu werden. Während Palmire, des unglücklichen Statthalters Tochter, auch sie Mohammed ergeben, dessen Tücke zuletzt erkennt, sich den Tod gibt und dadurch den glühenden Liebesgelüsten des Propheten entgeht.
Was aber der Verschlingungen nicht alle sind, denn Palmire und Seïde wurden von Mohammed als Kinder entführt, erfahren erst kurz vor ihrem Ende, dass der sterbende Zopire ihr Vater ist und sie selbst, das Liebespaar der Tragödie, Geschwister sind - was auch bedeutet, dass der Prophet mit dem zum Vatermörder gemachten Seïde auch einen jungen Rivalen beseitigt. Das nützt ihm zwar nichts, weil Palmire am Ende tot ist, gibt aber Voltaire Gelegenheit, Mohammed in einem Schlusswort noch einmal als Strategen der Gewalt erscheinen zu lassen: "Nun auf, zurück ans Werk! Die Menschen sollen knien / Vor den Altären, die wir uns mit Gewalt verdienen. / Die große Macht der Liebe, wir weisen sie zurück, / Auch Reue und Gewissen, das uns nicht bedrückt."
Man liest das als Erinnerung an eine historische Dramenform: So sah Mitte des achtzehnten Jahrhunderts die hohe französische Schule der Tragödie aus, die mit ein paar Adaptionen und Garrick als Mahomet sogar den Engländern imponierte. Und man fragt sich, wie Goethe dazu kam, diese kaum auf seiner Linie liegende Darstellung des Propheten, die ihm einen bloß strategischen Gebrauch der religiösen Botschaft unterstellt, für das Weimarer Theater einzurichten. Dass er Mohammed "nie als einen Betrüger hatte ansehen" können, ist im vierzehnten Buch von "Dichtung und Wahrheit" nachzulesen, wo Goethe von seinen frühen Plänen zu einem "Mahomet" für die Bühne berichtet. Nicht um einen zynischen Machtpolitiker geht es da, der mit der Religion betrügt, sondern um ein religiöses Genie, das durch die "rohe Welt", die zu missionieren ist, korrumpiert wird.
Eine Einschätzung, die Goethe nicht etwa widerrief. Bloß wünschte sich im Jahr 1799 Herzog Carl August eine deutsche Fassung von Voltaires "Mahomet". Goethe fühlte sich in der Pflicht, milderte da und dort Voltaires Schärfe, wertete Palmire auf, setzte insbesondere im Finale durch einen naheliegenden Strich einen anderen Akzent und legte sich die ganze Angelegenheit mit der Begründung zurecht, die Weimarer Schauspieler wieder zu strenger Form erziehen zu müssen (tatsächlich übersetzte er dann noch eine zweite Tragödie Voltaires). Was das Publikum allerdings nicht überzeugte. Schiller so wenig wie den bei der Premiere anwesenden Jean Paul, der über die "grausam unpoetische Zeremonialbühne der Gallier" fluchte.
Nun also kann man den "Mahomet" auf Deutsch ohne Weimarer Bearbeitung lesen. Beiläufig ist die Wahl ausgerechnet dieser Tragödie Voltaires, die zu seinen Lebzeiten zu den erfolgreichen Stücken zählte, sicherlich nicht. Statt sich im Nachspann über diese Wahl selbst auszusprechen, überlässt Tobias Roth dort Emil Cioran das letzte Wort, mit einer Passage aus der "Lehre vom Zerfall", die gegen die eifernden "Götzendiener aus Instinkt" angeht und die Fatalität all ihrer Glaubenssätze. Sie hat den Vorteil, mit ihrer Kritik so tief anzusetzen, dass sie die Neigung zu religiösem Fanatismus auf allen Seiten meint - in dieser Hinsicht tatsächlich wie Voltaire, der sich im "Mahomet" zwar an den Propheten hielt, aber abseits davon religiösen Fanatismus als solchen im Visier hatte - was den kirchentreuen Gegnern des Stücks nicht entging.
Auf die Bühne wird es Voltaires Prophet nicht mehr bringen, Theaterhistorie gibt noch kein Repertoire. Jean Goldzink, der vor einigen Jahren eine Taschenbuchausgabe mit vier Stücken herausbrachte, erwähnt den Versuch, das Stück zu Voltaires dreihundertstem Geburtstag im Jahr 1994 in Genf zu inszenieren. Die muslimische Gemeinde gab sich schockiert, die Genfer Stadtoberen strichen dem Regisseur daraufhin die Finanzierung. Da bliebe dann als politisch korrekter Grund für eine Aufführung nur noch die Erinnerung an Weimar um 1800: zum Zwecke der Erziehung tragisch verwahrloster Schauspieler.
HELMUT MAYER
Voltaire: "Stürmischer als das Meer". Briefe aus England.
Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Rudolf von Bitter. Diogenes Verlag, Zürich 2017. 368 S., geb., 18,- [Euro].
Voltaire: "Der Fanatismus oder Mohammed".
Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Tobias Roth. Verlag Das Kulturelle Gedächtnis, Berlin 2017. 160 S., geb., 20,- [Euro].
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Auf eine Theaterbühne wird es dieser Prophet nicht mehr schaffen: Aber die neue Übersetzung des "Mahomet" und die wieder erschienenen "Briefe aus England" zeigen Voltaire in ganzer Spannbreite.
Es spricht Hamlet, Prinz von Dänemark: "Warte, es heißt wählen, und augenblicks scheiden / vom Leben zum Tod, vom Sein in das Nichts. / Grausame Götter! Wenn es einen gibt, erhellt meinen Mut./ Muss ich altern, gebeugt unter die Hand, die mich unterdrückt, ertragen oder enden mein Unglück und Schicksal?" Aber wer nur lässt Hamlet so sprechen? Shakespeare ja wohl nicht, selbst wenn die letzten Worte entfernt an den allseits bekannten Monolog des Dänenprinzen erinnern.
Doch ungefähr so übersetzte Voltaire aus dem "Hamlet" für seine "Briefe aus England", die später meist unter dem Titel "Philosophische Briefe" erschienen. Der achtzehnte dieser Briefe ist der Tragödie gewidmet, und in ihm stößt auf fast schon komische Weise ein erfolgreicher Pariser Tragödiendichter auf den Spuren der französischen Klassik mit Shakespeare zusammen: der hohe Ton mit dem gemischten Genre, paargereimte Alexandriner mit dem Blankvers, eine raffiniert durchgebildete Poetik tragischer Konflikte mit einem Autor, so Voltaire, "voller Kraft und Fruchtbarkeit, Unverfälschtem und Erhabenem", doch ohne "das geringste Fünkchen guten Geschmacks, noch die geringste Kenntnis der Regeln".
Wäre es nur um Gegenstände wie die Tragödie und andere Künste gegangen, die "Philosophischen Briefe" hätten kaum für Aufsehen gesorgt. Aber als sie 1733, vier Jahre nach Voltaires Aufenthalt in London, erscheinen, ist ihr Autor eben nicht nur ein erfolgreich hervorgetretener Dramatiker und Dichter: Er hat auch bereits Inhaftierungen und eilige Fluchten hinter sich, als obrigkeitliche Strafen für jene Art von Texten, die ihm nicht zuletzt den Nachruhm sichern werden, wenn seine Bühnenstücke und sein Versepos "L'Henriade" bloß noch Spezialisten der Literaturgeschichte beschäftigen.
Wie etwa die "Philosophischen Briefe", deren erste, am königlichen Zensor vorbeipublizierte Ausgabe sofort verboten wurde. Was ihren Autor kaum verwundern konnte, der sich allenfalls halbherzig darum bemüht hatte, seine kritischen Spitzen zu bemänteln. Das Lob Englands, der politischen, gesellschaftlichen wie philosophisch-wissenschaftlichen Verhältnisse auf der "Insel der Vernunft", war eine klare Breitseite gegen einige tief verankerte Ordnungsvorstellungen der französischen Monarchie. Voltaires Begeisterung für den englischen Empirismus und die Feier Newtons sollte überdies Schule machen, und als ob sie nicht bereits deutlich genug die Stoßrichtung anzeigten, knüpfte er daran noch seine Abrechnung mit Pascal: der Mann des vernünftigen Fortschritts avant la lettre gegen den theologisch voreingenommenen Miesepeter.
Mit der nun erschienenen Neuausgabe der Übersetzung von Rudolf von Bitter sind die "Briefe" wieder lieferbar, nunmehr mit literarisiertem Titel (und immer noch steht da für die "révolution" der cartesischen Wirbel und der Planeten nicht etwa "Umdrehung" und "Umlauf", sondern allen Ernstes "Wende"). Ungleich ambitionierter aber ist eine neue Übersetzung, die zum Dramatiker zurückführt, also zu jenem Voltaire, der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts endgültig von der Bildfläche verschwand, obgleich er für seine Zeitgenossen zu den erfolgreichsten Bühnenautoren klassischer Tradition gezählt hatte.
Der junge Berliner Lyriker, Übersetzer und Literaturwissenschaftler Tobias Roth hat Voltaires Tragödie "Le Fanatisme ou Mahomet le Prophète" aus dem Jahr 1741 ins Deutsche gebracht: Weder in Prosa noch gemildert zum ungereimten Blankvers, wie bei einem berühmten anderen Übersetzer und Bearbeiter dieses Stücks, Johann Wolfgang von Goethe, sondern an den gereimten Alexandrinern entlang, und das mit beeindruckendem Geschick.
Dazu kommen ein kenntnisreiches Nachwort und weitere Texte, die Voltaire einer einige Jahre nach der Fertigstellung der ersten Fassung erschienenen Buchausgabe seiner Tragödie beigab: die "Predigt der Fünfzig", eine Fundamentalkritik an der biblischen Überlieferung von Juden und Christen, dito gegen den Islam unter dem Titel "Von dem Korane und dem Mahomed" (in der Übersetzung Gotthold Ephraim Lessings), ein Widmungsbrief an Friedrich den Großen, der zu den ersten Lesern und Hörern des Dramas zählte und der größtenteils von Voltaire gefälschte briefliche Austausch über den "Mahomet" mit dem literarischen Connaisseur Papst Benedikt XIV. Lambertini.
Die beigegebenen Texte unterstreichen, was der Titel des Stücks ohnehin zum Ausdruck bringt: Voltaire nimmt den religiösen Fanatismus aufs Korn. Im dramatischen Gewand bedeutet das: Der mit seinen Truppen nach Mekka zurückkehrende Mohammed lässt seinen von Voltaire erfundenen Widersacher, den dem alten Glauben anhängenden Statthalter Zopire, umbringen. Damit sich aber der tragische Knoten ganz eng schlingt und die Skrupellosigkeit des Religionsstifters ins Auge sticht, muss es Zopires eigener, dem Propheten blind ergebener Sohn Seïde sein, der diese Tat vollbringt - um anschließend von Mohammed mit Gift aus dem Weg geräumt zu werden. Während Palmire, des unglücklichen Statthalters Tochter, auch sie Mohammed ergeben, dessen Tücke zuletzt erkennt, sich den Tod gibt und dadurch den glühenden Liebesgelüsten des Propheten entgeht.
Was aber der Verschlingungen nicht alle sind, denn Palmire und Seïde wurden von Mohammed als Kinder entführt, erfahren erst kurz vor ihrem Ende, dass der sterbende Zopire ihr Vater ist und sie selbst, das Liebespaar der Tragödie, Geschwister sind - was auch bedeutet, dass der Prophet mit dem zum Vatermörder gemachten Seïde auch einen jungen Rivalen beseitigt. Das nützt ihm zwar nichts, weil Palmire am Ende tot ist, gibt aber Voltaire Gelegenheit, Mohammed in einem Schlusswort noch einmal als Strategen der Gewalt erscheinen zu lassen: "Nun auf, zurück ans Werk! Die Menschen sollen knien / Vor den Altären, die wir uns mit Gewalt verdienen. / Die große Macht der Liebe, wir weisen sie zurück, / Auch Reue und Gewissen, das uns nicht bedrückt."
Man liest das als Erinnerung an eine historische Dramenform: So sah Mitte des achtzehnten Jahrhunderts die hohe französische Schule der Tragödie aus, die mit ein paar Adaptionen und Garrick als Mahomet sogar den Engländern imponierte. Und man fragt sich, wie Goethe dazu kam, diese kaum auf seiner Linie liegende Darstellung des Propheten, die ihm einen bloß strategischen Gebrauch der religiösen Botschaft unterstellt, für das Weimarer Theater einzurichten. Dass er Mohammed "nie als einen Betrüger hatte ansehen" können, ist im vierzehnten Buch von "Dichtung und Wahrheit" nachzulesen, wo Goethe von seinen frühen Plänen zu einem "Mahomet" für die Bühne berichtet. Nicht um einen zynischen Machtpolitiker geht es da, der mit der Religion betrügt, sondern um ein religiöses Genie, das durch die "rohe Welt", die zu missionieren ist, korrumpiert wird.
Eine Einschätzung, die Goethe nicht etwa widerrief. Bloß wünschte sich im Jahr 1799 Herzog Carl August eine deutsche Fassung von Voltaires "Mahomet". Goethe fühlte sich in der Pflicht, milderte da und dort Voltaires Schärfe, wertete Palmire auf, setzte insbesondere im Finale durch einen naheliegenden Strich einen anderen Akzent und legte sich die ganze Angelegenheit mit der Begründung zurecht, die Weimarer Schauspieler wieder zu strenger Form erziehen zu müssen (tatsächlich übersetzte er dann noch eine zweite Tragödie Voltaires). Was das Publikum allerdings nicht überzeugte. Schiller so wenig wie den bei der Premiere anwesenden Jean Paul, der über die "grausam unpoetische Zeremonialbühne der Gallier" fluchte.
Nun also kann man den "Mahomet" auf Deutsch ohne Weimarer Bearbeitung lesen. Beiläufig ist die Wahl ausgerechnet dieser Tragödie Voltaires, die zu seinen Lebzeiten zu den erfolgreichen Stücken zählte, sicherlich nicht. Statt sich im Nachspann über diese Wahl selbst auszusprechen, überlässt Tobias Roth dort Emil Cioran das letzte Wort, mit einer Passage aus der "Lehre vom Zerfall", die gegen die eifernden "Götzendiener aus Instinkt" angeht und die Fatalität all ihrer Glaubenssätze. Sie hat den Vorteil, mit ihrer Kritik so tief anzusetzen, dass sie die Neigung zu religiösem Fanatismus auf allen Seiten meint - in dieser Hinsicht tatsächlich wie Voltaire, der sich im "Mahomet" zwar an den Propheten hielt, aber abseits davon religiösen Fanatismus als solchen im Visier hatte - was den kirchentreuen Gegnern des Stücks nicht entging.
Auf die Bühne wird es Voltaires Prophet nicht mehr bringen, Theaterhistorie gibt noch kein Repertoire. Jean Goldzink, der vor einigen Jahren eine Taschenbuchausgabe mit vier Stücken herausbrachte, erwähnt den Versuch, das Stück zu Voltaires dreihundertstem Geburtstag im Jahr 1994 in Genf zu inszenieren. Die muslimische Gemeinde gab sich schockiert, die Genfer Stadtoberen strichen dem Regisseur daraufhin die Finanzierung. Da bliebe dann als politisch korrekter Grund für eine Aufführung nur noch die Erinnerung an Weimar um 1800: zum Zwecke der Erziehung tragisch verwahrloster Schauspieler.
HELMUT MAYER
Voltaire: "Stürmischer als das Meer". Briefe aus England.
Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Rudolf von Bitter. Diogenes Verlag, Zürich 2017. 368 S., geb., 18,- [Euro].
Voltaire: "Der Fanatismus oder Mohammed".
Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Tobias Roth. Verlag Das Kulturelle Gedächtnis, Berlin 2017. 160 S., geb., 20,- [Euro].
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»Ich halte Sie für das größte Genie, das die Welt hervorgebracht hat.« Friedrich der Große