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Die Staublaus nicht vergessen! Dave Goulson versteht es exzellent, für die Insekten und ihren Beitrag zu Ökosystemen zu interessieren.
Von Petra Ahne
Es empfiehlt sich, ein suchmaschinenkompatibles Gerät neben sich zu haben, wenn man Dave Goulsons "Stumme Erde" liest. Man will doch wissen, wie sie aussehen: der Nachtfalter, der mit seinem Rüssel salzige Tränen unter den Augenlidern schlafender Vögel hervorholt. Die weibliche Staublaus mit dem Spermien einsaugenden Penis. Die Blattschneiderameise, die auf ihren Artgenossen reitet und von da oben Feinde abwehrt. Am Ende jedes Kapitels steht ein kleines Insektenporträt, was sowohl von der Größe des Projekts zeugt, das sich Goulson vorgenommen hat, als auch vom Geschick, mit dem er es umsetzt. Zunächst geht es um das große, erschreckende, mit eindrücklichen Zahlen belegte Ganze: dass seit den Siebzigerjahren fünfzig bis neunzig Prozent der Insekten verschwunden sind; dass von den fünf Millionen Insektenarten vier Fünftel noch nicht einmal beschrieben sind, aber jeden Tag Hunderte Arten aussterben; dass 87 Prozent aller Pflanzen darauf angewiesen sind, von Insekten bestäubt zu werden, auch die, an denen Obst und Gemüse wachsen. Dass das Verschwinden der Gliederfüßer Nahrungsketten zusammenbrechen, Schädlinge sich ausbreiten und Böden unaufgelockert lässt.
Goulson weigert sich aber, das Existenzrecht von Insekten an ihre Ökosystemleistungen zu knüpfen. Die Natur mit Preisschildern zu versehen soll in letzter Zeit helfen, die Unabdingbarkeit von Naturschutz zu beweisen. Doch auch der Ökonom Partha Dasgupta, der den fundiertesten Bericht darüber vorgelegt hat, wie der Rückgang der Biodiversität der Wirtschaft schadet, sieht solche Berechnungen nur als Hilfsmittel, über dem der Wert der Natur an sich nicht vergessen werden darf.
Goulson, Biologe, Hummelexperte und Professor an der Universität Sussex, möchte auch die schiere Begeisterung für Insekten teilen, die sein Leben bestimmt, seit er mit sechs Jahren Raupen in seine Schulbrotdose packte und nach Hause trug. Seine griffigen Beschreibungen machen die abstrakt durch das Buch wimmelnde Insektenschar konkret, wir begegnen Charakteren, denen die Evolution aus Menschensicht wunderliche Verhaltensweisen verpasst hat. Da sind Honigtopfameisen, die sich fast bis zum Platzen mit Nektar füllen und anderen Ameisen als lebende Vorratsgefäße dienen. Wespen, die ihre Eier in Raupen injizieren, welche dann von den Wespenlarven verspeist werden. Termiten, die sich im Kampf gegen Eindringlinge selbst in die Luft sprengen.
Diese Dramen spielen sich auf wenigen Quadratzentimetern ab, Insekten sind tendenziell klein bis winzig. Von vielen Menschen werden sie entweder übersehen oder als krabbelnde, stechende Belästigung wahrgenommen. Um sich auf sie einzulassen, braucht es den Willen zum Perspektivwechsel. Das ist auch gleich das Problem von Goulsons Buch, in dessen Titel Rachel Carsons "Der stumme Frühling" nachhallt: Wer sich noch nie über einen dunklen Fleck auf dem Boden gebeugt hat und sich davon faszinieren ließ, wie er zu einem feingliedrigen Lebewesen wird, wird sich kaum ein ganzes Buch über Insekten vornehmen. Goulson ist sich dieser Hürde bewusst und gibt alles, um auch die beiläufigsten Leser zu gewinnen. Wie nicht wenigen Wissenschaftlern aus Bereichen, in denen sich Erkenntnisse über Klimawandel und Artenschwund häufen, ist ihm die Kommunikation dieser Erkenntnisse Mission geworden. Er ist der Erzähler unter den Insektenforschern, spannt einen gekonnten Bogen von den Urmeeren, in denen die schon vierhundert Millionen Jahre währende Erfolgsgeschichte der Insekten begann, zu Agrarlandschaften, die hohe Erträge produzieren, aber umweltfeindlich sind.
Mit einigen Studien, die die alarmierende Lage der Insekten ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt haben, hatte Goulson unmittelbar zu tun: 2015 kontaktierte ihn der Entomologische Verein Krefeld und bat ihn um Hilfe bei der Sichtung von Daten. Die als Krefelder Studie bekannt gewordene Untersuchung belegt einen Rückgang der Insekten seit den Achtzigerjahren um 75 Prozent. Goulson beschreibt nicht nur die Ergebnisse, sondern auch die laut gewordenen Zweifel an deren Belastbarkeit, zum Beispiel, weil der Rückgang anhand der Biomasse in den aufgestellten Fallen belegt wurde, was theoretisch auch am Verschwinden nur einiger Arten mit größerem Körpergewicht hätte liegen können. Inzwischen wird weltweit nach Langzeit-Datenreihen gesucht, die sich manchmal in alten Excel-Tabellen verbergen. Es bleiben Wissenslücken, doch Auswertungen bestätigen mittlerweile das Ergebnis der deutschen Studie.
Es gibt mehrere Gründe für das Insektensterben: den Klimawandel, durch globalen Handel eingeschleppte Parasiten und vor allem den Verlust von Lebensraum: Habitate, die zu Straßen, Siedlungen oder Ackerflächen werden, welche der Einsatz von Düngemitteln und Pestiziden zu Monokulturen macht, auf denen Insekten keine Chance haben. Dass in Europa zumindest Neonicotinoide nun weitgehend verboten sind, ist Goulson und seinem Team zu verdanken: Sie wiesen nach, dass das Insektizid nicht in den Pflanzen bleibt, die es vor Schädlingsbefall schützen soll, sondern von Wildblumen und Heckenpflanzen und über sie auch von Bienen aufgenommen wird, die es orientierungslos werden lässt.
"Stumme Erde" macht eindringlich klar, dass der Verlust der Biodiversität ein ebenso drängendes Problem ist wie die Erderwärmung. Anders als beim Klimawandel kann jeder sich das tröstende Gefühl verschaffen, dass ein Umsteuern noch möglich ist. Wie das geht, hat Goulson in seinem vorletzten Buch beschrieben, "Wildlife Gardening". Es genügen ein Balkon, ein paar insektenfreundliche Pflanzen und die Bereitschaft, genau hinzusehen.
Dave Goulson: "Stumme Erde". Warum wir die Insekten retten müssen.
Aus dem Englischen von Sabine Hübner. Carl Hanser Verlag, München 2022. 368 S., geb., 25,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
"Dave Goulsons 'Stumme Erde' ist eine Exkursion in die verborgene Magie unserer nächsten Umgebung. Naturbücher boomen, aber dieses ist außergewöhnlich." Susanne Wiborg, Tagesspiegel, 21.5.22
"Der britische Biologe Dave Goulson schildert eindrücklich das stille Drama des Insektensterbens." Burkhard Müller, Süddeutsche Zeitung, 30.04.22
"Ein Buch, das schockiert - und Faszination für das Gewimmel weckt." Die Zeit, 31.03.22
"Was Goulson als Autor auszeichnet, ist sein Geschick, Zusammenhänge anschaulich und anhand konkreter Beispiele zu erklären. ... Seiner fundierten Argumentation kann man gut folgen, zugleich liest sich das Buch unterhaltsam dank vielen Anekdoten." Andrea Lüthi, NZZ Bücher am Sonntag, 27.03.22
"Nirgendwo sonst erhält man derart kompakte Informationen über die Zusammenhänge zwischen Agrochemie, Landwirtschaft und Wissenschaft. ... Ein wichtiges Buch, es zeigt sehr eindringlich, dass die Rettung der Insekten ein Fundamentalanliegen der Landwirtschaft und von uns allen sein muss, das nicht mehr auf später verschoben werden kann." Brigitte Neumann, Deutschlandfunk Andruck, 21.03.22
"Der prominente Insektenforscher setzt sich wortgewaltig für ihren Schutz ein - begeistert, kämpferisch und faktenreich. ... Sein Buch ist nicht nur Weckruf, sondern auch eine gute Anleitung zur Eigeninitiative. ... Dave Goulson besticht doch wieder einmal mit seiner Begeisterung und seinem Wissen." Johannes Kaiser, Deutschlandfunk Kultur, 18.03.22
"Ebenso gut lesbar wie prall an Fakten. ... Politiker sollten dieses Buch lesen." Gerlinde Pölsler, Falter, 16.03.22
"Dave Goulson versteht es exzellent, für die Insekten und ihren Beitrag zu Ökosystemen zu interessieren ... 'Stumme Erde' macht eindringlich klar, dass der Verlust der Biodiversität ein ebenso drängendes Problem ist wie die Erderwärmung." Petra Ahne, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.03.22