Starkes Stück - ein ergreifendes Frauenleben im 19. Jahrhundert: die Liebesgeschichte von Theodor Storm und Doris Jensen, seiner langjährigen Geliebten und späteren Ehefrau, erzählt vom Storm-Biographen und Sprachzauberer Jochen Missfeldt. Kurz nachdem Theodor Storm seine Verlobte Constanze Esmarch 1846 geheiratet hat, geht er eine leidenschaftliche Liebesbeziehung mit der achtzehnjährigen Doris Jensen ein. Sie stammt wie er aus Husum, ist die Tochter des wohlhabenden Holzhändlers und Senators Peter Jensen. Dessen Familie zählt, wie auch Storms Familie mütterlicherseits, zum Husumer Patriziat: Man besucht sich, trinkt Tee und Punsch und spielt Whist und L'Hombre. Die Liebe der beiden ist für Storms junge Ehe eine schwere Belastung. Erst im Jahr 1848, Constanze ist im dritten Monat schwanger, geht Doris - wahrscheinlich auf Druck der Familienoberen - von Husum fort. Für sie beginnt eine fünfzehn Jahre währende Odyssee, eine Zeit des Lernens und der Selbstbehauptung. Doch das Liebesverhältnis dauert an, und als Constanze nach der Geburt ihres siebten Kindes überraschend stirbt, finden die beiden endlich zueinander. Um diese bewegende Geschichte eines Frauenlebens im 19. Jahrhundert zu erzählen, stützt sich Jochen Missfeldt auf sein großes Wissen als Storm-Biograph - auf Briefe, Novellen und Gedichte, auf Zeitungsmeldungen, Lebenszeugnisse, historische Quellen überhaupt. Aber noch mehr beruht auf Erfindung, Nachempfindung, Phantasie. So kann er beides sein, faktengetreu und unverwechselbarer Romancier, ja er kann seiner vielgerühmten lyrischen Sprachmacht freien Lauf lassen. Landschaft, Wetter und Meer, die er meisterlich beschreibt, grundieren das Ganze, verleihen ihm Sinnlichkeit und Poesie. «Sturm und Stille» ist die Geschichte einer Liebe - und das Porträt einer Frau, die allen gesellschaftlichen Konventionen zum Trotz ihre eigenen Wege geht.
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Rezensent Carsten Otte ist einfach hingerissen von Jochen Missfeldts Roman über die Liebesbeziehung zwischen dem verheirateten Dichter Theodor Storm und der elf Jahre jüngeren, damals 18-jährigen Dorothea Jensen. Missfeldt erzählt die Geschichte, so Otte, ganz aus der Perspektive der jungen Frau, die hier keineswegs als Opfer erscheine, sondern sehr selbstbewusst erst die Affäre eingeht und dann, als es zum Skandal zu kommen droht, weggeht und ihr Brot als Kellnerin und Hausmädchen verdient. Erst 15 Jahre später, nach dem Tod Constanze Storms, heiraten die beiden. Otte ist beeindruckt, wie einfühlsam Missfeldt die Geschichte erzählt, wie gut er sich in die junge Frau und überhaupt in die Verhältnisse im 19. Jahrhundert hineinversetzen kann. Und dass Missfeldt selbst aus dem Norden Deutschlands kommt, ist eh ein Glücksfall, freut sich der Rezensent, der auf eine Verfilmung des Romans hofft.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.10.2017Wie lebt sich's wohl bei Pastor Plagemann?
Im Licht der aktuellen biographischen Forschung: Jochen Missfeldts Roman "Sturm und Stille" über Theodor Storm und seine Frauen verleiht einer bislang stummen Geliebten eine Stimme.
Wahre Liebe, heißt es, könne warten. Eine Geduldsprobe von zwanzig Jahren dürfte allerdings die meisten Leidenschaften verschleißen. Doris Jensen war jedoch eine Langstreckenläuferin der Liebe. Der Geliebten Theodor Storms und ihrer Passionsgeschichte hat der Schriftsteller und ehemalige Bundeswehrpilot Jochen Missfeldt ("Sollsbüll" und "Gespiegelter Himmel" sind seine bekanntesten Werke) im Storm-Jubiläumsjahr nun einen biographischen Roman gewidmet.
In einem rückblickenden Bekenntnis-Brief aus dem Jahr 1866 hat Storm geschildert, wie er von der Liebe zu der elf Jahre Jüngeren ergriffen wurde. Er hielt die 1828 geborene Doris für dreizehn; sie war fünfzehn. Zweifellos ein Lolita-Moment der deutschen Literaturgeschichte: "Aber bei jenem Kinde . . . da war jene berauschende Atmosphäre, der ich nicht widerstehen konnte."
Theodor Storm war ein Erotiker; seine Liebesgedichte gehören zu den schönsten, ergreifendsten der deutschen Literatur. Nicht wenige von ihnen verdanken sich der Leidenschaftserfahrung mit Doris Jensen. Auch wenn die Dokumente sonst spärlich sind - mit diesem lyrischen Material kann Jochen Missfeldt, der bereits eine große Biographie Storms geschrieben hat und sich auf die Hintergründe dieses Lebens versteht, gut arbeiten und erzählen. Auch atmosphärische Reize - Heideduft, Sommerluft, Laufkäfer im Gesträuch - entnimmt Missfeldt der Lyrik Storms.
Viele Figuren, Anekdoten und Motive seines Buchs bezieht er dagegen aus Storms Novellen. Einfühlung und intertextuelles Spiel sind die Erzählstrategien dieses Romans. Bei der ersten intimen Begegnung etwa (Doris war achtzehn und Storm bereits mit seiner späteren Frau Constanze verlobt) zitiert Missfeldt eine Liebesszene aus der Novelle "Aquis submersus". Die sympathische Figur des Hegereiters Erichsen wiederum, bei dem das Paar später eine Zuflucht findet, hat ihr Vorbild in der Figur des "Vetters" aus Storms Erzählung "Eine Halligfahrt".
"Sturm und Stille" ist eine große Liebes- und Entsagungsgeschichte, auch wenn die Leidenschaft in Missfeldts Prosa gedimmt bleibt, was auch daran liegt, dass er Doris aus dem abgeklärten Rückblick erzählen lässt. Bei der Schilderung eines Frauenlebens aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts besteht die Gefahr, die Ich-Erzählerin zu sehr aus heutiger Sicht denken zu lassen, als hätten die jungen Damen um 1850 schon die Sehnsucht nach der Geschlechterordnung von 2017 gehabt. Missfeldt lässt seine Heldin zwar durchaus mit den Beschränkungen der damaligen Frauenexistenz hadern, aber er verleiht ihr zugleich ein glaubwürdiges zeitgenössisches weibliches Selbstverständnis. Leidensfähigkeit wurde als Tugend begriffen; sie war auch gefordert angesichts der lebensgefährlichen Schwangerschaften. Tief eingeprägt haben sich Doris die Maximen der Madame Frisé aus Flensburg ("Geradität und Selbstbeherrschung") und die fatalistische Lebensweisheit ihrer Mutter: "Es muss gegangen sein."
Die Erziehung junger Frauen hatte der Vorbereitung auf die Ehe zu dienen. Als Storms Schwester Cäcilie erwägt, Lehrerin zu werden, warnt der Vater: "Wenn du Lehrerin werden willst, kriegst du keinen Mann - gelehrt ist verkehrt." Ein großes Stigma bestand darin, "eine Sitzengebliebene" zu sein, eine "Mamsell" und "alte Jungfer". Noch heikler war es allerdings, zu den zu früh Aufgestandenen zu gehören. Auch wenn die Sehnsucht zu ihrem Grundgefühl wird, ist Doris in Missfeldts Darstellung nicht auf Depression und Seufzerton gestimmt, sondern auf die Bewältigung ihres Paria-Lebens. Die Husumer Gesellschaft verbannt sie, weil Storm nicht von ihr lassen kann und sie nicht von ihm. Um den guten Ruf des Anwalts und dessen Ehe mit Constanze zu retten, muss Doris verschwinden.
Die darauf folgende Odyssee wird in der zweiten Hälfte des Romans beschrieben. Doris schlägt sich als Haushaltshilfe fern in der Provinz durch. Dabei gewinnt sie ein ums andere Mal Einblicke in menschliche Abgründe. Die schwarze Komik à la Wilhelm Busch hat ihre erste Station beim Pastor Petrus Plagemann. In dessen Haus ist der Tag streng eingeteilt, von der ersten Morgenandacht bis zur abendlichen "Generalbuße". Im nördlichen Fobeslet erlebt Doris das tödliche Ehedrama von Schloss Holkenis aus unmittelbarer Nähe mit, von dem Fontane im Roman "Unwiederbringlich" erzählt. Nach dem Selbstmord der Gräfin zieht Dorothea nach Flensburg, wo sie es mit einer weiteren Außenseiterin und Entsagenden zu tun bekommt: der uralten, steinreichen Botilla Jansen, die sich in ihrem Haus von der Außenwelt abgekapselt hat - Storm-Leser erkennen sie als Hauptfigur der dunklen Novelle "Im Nachbarhause links" wieder. Von der unheimlichen Wildheit, Verzweiflung und Paranoia der Alten bleibt bei Missfeldt allerdings wenig, wenn Botilla und Doris gemeinsam die Obsternte zu Marmelade und Kompott verarbeiten.
Sie habe sich immer zu helfen gewusst, resümiert Doris; in schweren Stunden sei sie auf den Deich gegangen, habe übers Meer geschaut und ihren Trüb- und Tiefsinn "in die Wellen der Nordsee gejagt". Die Tendenz ist deutlich. In der neueren Storm-Forschung, schreibt Missfeldt im Nachwort, werde Doris Jensen zu einseitig als Opfer und Leidende gesehen; die wenigen Lebenszeugnisse aber brächten eher ihre grundsätzliche "Lebenszuversicht" und ihren "Sinn fürs Praktische" zum Ausdruck, beides Voraussetzungen dafür, dass nach dem Tod Constanzes doch noch eine glückliche Ehe mit Storm möglich wurde.
Die realen Hintergründe des Romans lassen sich vertiefen im neuen Storm-Handbuch, dessen mehr als sechzig Mitarbeiter die reichhaltige neuere Storm-Forschung repräsentieren. Ausführungen über Storms Wissen, seine dichten Bezüge zur zeitgenössischen Medizin und Biowissenschaft, seine aufgeklärten politisch-gesellschaftlichen Auffassungen sowie über seine Rechtspoetik (immer wieder juristische Probleme und Kriminalfälle in den Erzählungen!) entrücken den Autor dem überkommenen Bild des norddeutschen Heimatschriftstellers und zeigen ihn als intellektuell wachen Protagonisten der Vormoderne, anschlussfähig zudem an heutige Diskurse der Literaturwissenschaft. Wobei der Abschnitt über Sex und Gender in Storms "Codierungen des Geschlechtlichen" vielleicht doch ein wenig übers Ziel hinausschießt. Die inzwischen selbst stereotyp und klischeehaft gewordene Terminologie grenzt hier in Anwendung auf ein Erzählwerk des neunzehnten Jahrhunderts an unfreiwillige Parodie, wenn etwa versichert wird, dass die Figuren in Storms späten Texten vom "hegemonialen, bipolaren Geschlechtermodell abweichen und marginalisierte Männlichkeiten repräsentieren". So die neue Einsicht einer Wissenschaft, die Hauke Haien vor zwei Generationen noch als "nordisch gestaltete Führerpersönlichkeit" begreifen wollte. "Gelehrt ist verkehrt", möchte man da seufzen.
Hiervon abgesehen, bietet der Band jedoch eine Fülle von Storm-Informationen. Die rund fünfzig Novellen werden ausführlich einzeln vorgestellt, in die Werkzusammenhänge eingeordnet und interpretiert: eine ungemein anregende Handreichung für alle, die das grandiose und komplexe Prosawerk Storms auch jenseits des "Schimmelreiters" erkunden möchten.
WOLFGANG SCHNEIDER
Jochen Missfeldt: "Sturm und Stille". Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2017. 352 S., geb., 22,- [Euro].
Christian Demandt, Phlipp Theisohn (Hrsg.): "Storm Handbuch". Leben - Werk - Wirkung.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2017. 424 S., geb., 89,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Im Licht der aktuellen biographischen Forschung: Jochen Missfeldts Roman "Sturm und Stille" über Theodor Storm und seine Frauen verleiht einer bislang stummen Geliebten eine Stimme.
Wahre Liebe, heißt es, könne warten. Eine Geduldsprobe von zwanzig Jahren dürfte allerdings die meisten Leidenschaften verschleißen. Doris Jensen war jedoch eine Langstreckenläuferin der Liebe. Der Geliebten Theodor Storms und ihrer Passionsgeschichte hat der Schriftsteller und ehemalige Bundeswehrpilot Jochen Missfeldt ("Sollsbüll" und "Gespiegelter Himmel" sind seine bekanntesten Werke) im Storm-Jubiläumsjahr nun einen biographischen Roman gewidmet.
In einem rückblickenden Bekenntnis-Brief aus dem Jahr 1866 hat Storm geschildert, wie er von der Liebe zu der elf Jahre Jüngeren ergriffen wurde. Er hielt die 1828 geborene Doris für dreizehn; sie war fünfzehn. Zweifellos ein Lolita-Moment der deutschen Literaturgeschichte: "Aber bei jenem Kinde . . . da war jene berauschende Atmosphäre, der ich nicht widerstehen konnte."
Theodor Storm war ein Erotiker; seine Liebesgedichte gehören zu den schönsten, ergreifendsten der deutschen Literatur. Nicht wenige von ihnen verdanken sich der Leidenschaftserfahrung mit Doris Jensen. Auch wenn die Dokumente sonst spärlich sind - mit diesem lyrischen Material kann Jochen Missfeldt, der bereits eine große Biographie Storms geschrieben hat und sich auf die Hintergründe dieses Lebens versteht, gut arbeiten und erzählen. Auch atmosphärische Reize - Heideduft, Sommerluft, Laufkäfer im Gesträuch - entnimmt Missfeldt der Lyrik Storms.
Viele Figuren, Anekdoten und Motive seines Buchs bezieht er dagegen aus Storms Novellen. Einfühlung und intertextuelles Spiel sind die Erzählstrategien dieses Romans. Bei der ersten intimen Begegnung etwa (Doris war achtzehn und Storm bereits mit seiner späteren Frau Constanze verlobt) zitiert Missfeldt eine Liebesszene aus der Novelle "Aquis submersus". Die sympathische Figur des Hegereiters Erichsen wiederum, bei dem das Paar später eine Zuflucht findet, hat ihr Vorbild in der Figur des "Vetters" aus Storms Erzählung "Eine Halligfahrt".
"Sturm und Stille" ist eine große Liebes- und Entsagungsgeschichte, auch wenn die Leidenschaft in Missfeldts Prosa gedimmt bleibt, was auch daran liegt, dass er Doris aus dem abgeklärten Rückblick erzählen lässt. Bei der Schilderung eines Frauenlebens aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts besteht die Gefahr, die Ich-Erzählerin zu sehr aus heutiger Sicht denken zu lassen, als hätten die jungen Damen um 1850 schon die Sehnsucht nach der Geschlechterordnung von 2017 gehabt. Missfeldt lässt seine Heldin zwar durchaus mit den Beschränkungen der damaligen Frauenexistenz hadern, aber er verleiht ihr zugleich ein glaubwürdiges zeitgenössisches weibliches Selbstverständnis. Leidensfähigkeit wurde als Tugend begriffen; sie war auch gefordert angesichts der lebensgefährlichen Schwangerschaften. Tief eingeprägt haben sich Doris die Maximen der Madame Frisé aus Flensburg ("Geradität und Selbstbeherrschung") und die fatalistische Lebensweisheit ihrer Mutter: "Es muss gegangen sein."
Die Erziehung junger Frauen hatte der Vorbereitung auf die Ehe zu dienen. Als Storms Schwester Cäcilie erwägt, Lehrerin zu werden, warnt der Vater: "Wenn du Lehrerin werden willst, kriegst du keinen Mann - gelehrt ist verkehrt." Ein großes Stigma bestand darin, "eine Sitzengebliebene" zu sein, eine "Mamsell" und "alte Jungfer". Noch heikler war es allerdings, zu den zu früh Aufgestandenen zu gehören. Auch wenn die Sehnsucht zu ihrem Grundgefühl wird, ist Doris in Missfeldts Darstellung nicht auf Depression und Seufzerton gestimmt, sondern auf die Bewältigung ihres Paria-Lebens. Die Husumer Gesellschaft verbannt sie, weil Storm nicht von ihr lassen kann und sie nicht von ihm. Um den guten Ruf des Anwalts und dessen Ehe mit Constanze zu retten, muss Doris verschwinden.
Die darauf folgende Odyssee wird in der zweiten Hälfte des Romans beschrieben. Doris schlägt sich als Haushaltshilfe fern in der Provinz durch. Dabei gewinnt sie ein ums andere Mal Einblicke in menschliche Abgründe. Die schwarze Komik à la Wilhelm Busch hat ihre erste Station beim Pastor Petrus Plagemann. In dessen Haus ist der Tag streng eingeteilt, von der ersten Morgenandacht bis zur abendlichen "Generalbuße". Im nördlichen Fobeslet erlebt Doris das tödliche Ehedrama von Schloss Holkenis aus unmittelbarer Nähe mit, von dem Fontane im Roman "Unwiederbringlich" erzählt. Nach dem Selbstmord der Gräfin zieht Dorothea nach Flensburg, wo sie es mit einer weiteren Außenseiterin und Entsagenden zu tun bekommt: der uralten, steinreichen Botilla Jansen, die sich in ihrem Haus von der Außenwelt abgekapselt hat - Storm-Leser erkennen sie als Hauptfigur der dunklen Novelle "Im Nachbarhause links" wieder. Von der unheimlichen Wildheit, Verzweiflung und Paranoia der Alten bleibt bei Missfeldt allerdings wenig, wenn Botilla und Doris gemeinsam die Obsternte zu Marmelade und Kompott verarbeiten.
Sie habe sich immer zu helfen gewusst, resümiert Doris; in schweren Stunden sei sie auf den Deich gegangen, habe übers Meer geschaut und ihren Trüb- und Tiefsinn "in die Wellen der Nordsee gejagt". Die Tendenz ist deutlich. In der neueren Storm-Forschung, schreibt Missfeldt im Nachwort, werde Doris Jensen zu einseitig als Opfer und Leidende gesehen; die wenigen Lebenszeugnisse aber brächten eher ihre grundsätzliche "Lebenszuversicht" und ihren "Sinn fürs Praktische" zum Ausdruck, beides Voraussetzungen dafür, dass nach dem Tod Constanzes doch noch eine glückliche Ehe mit Storm möglich wurde.
Die realen Hintergründe des Romans lassen sich vertiefen im neuen Storm-Handbuch, dessen mehr als sechzig Mitarbeiter die reichhaltige neuere Storm-Forschung repräsentieren. Ausführungen über Storms Wissen, seine dichten Bezüge zur zeitgenössischen Medizin und Biowissenschaft, seine aufgeklärten politisch-gesellschaftlichen Auffassungen sowie über seine Rechtspoetik (immer wieder juristische Probleme und Kriminalfälle in den Erzählungen!) entrücken den Autor dem überkommenen Bild des norddeutschen Heimatschriftstellers und zeigen ihn als intellektuell wachen Protagonisten der Vormoderne, anschlussfähig zudem an heutige Diskurse der Literaturwissenschaft. Wobei der Abschnitt über Sex und Gender in Storms "Codierungen des Geschlechtlichen" vielleicht doch ein wenig übers Ziel hinausschießt. Die inzwischen selbst stereotyp und klischeehaft gewordene Terminologie grenzt hier in Anwendung auf ein Erzählwerk des neunzehnten Jahrhunderts an unfreiwillige Parodie, wenn etwa versichert wird, dass die Figuren in Storms späten Texten vom "hegemonialen, bipolaren Geschlechtermodell abweichen und marginalisierte Männlichkeiten repräsentieren". So die neue Einsicht einer Wissenschaft, die Hauke Haien vor zwei Generationen noch als "nordisch gestaltete Führerpersönlichkeit" begreifen wollte. "Gelehrt ist verkehrt", möchte man da seufzen.
Hiervon abgesehen, bietet der Band jedoch eine Fülle von Storm-Informationen. Die rund fünfzig Novellen werden ausführlich einzeln vorgestellt, in die Werkzusammenhänge eingeordnet und interpretiert: eine ungemein anregende Handreichung für alle, die das grandiose und komplexe Prosawerk Storms auch jenseits des "Schimmelreiters" erkunden möchten.
WOLFGANG SCHNEIDER
Jochen Missfeldt: "Sturm und Stille". Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2017. 352 S., geb., 22,- [Euro].
Christian Demandt, Phlipp Theisohn (Hrsg.): "Storm Handbuch". Leben - Werk - Wirkung.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2017. 424 S., geb., 89,95 [Euro].
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Es ist wahrlich eine schrecklich schöne Geschichte, die der Herr Storm sich da erlaubt hat, jedenfalls wenn sie so erzählt wird, wie Jochen Missfeldt es kann. Jochen Jung Die Zeit