Das große Standardwerk über die Geschichte der SA Dies ist die erste umfassende Geschichte der SA. Daniel Siemens, einer der renommiertesten deutschen Historiker der jüngeren Generation, beschreibt darin den Aufstieg der Ordnertruppe, die für die Hitlerbewegung den Straßenkampf gegen die politischen Feinde ausfocht. Bis zu den frühen dreißiger Jahren verwandelte sich die SA dann von einer Schlägertruppe zum entscheidenden Faktor bei der Machteroberung der Nationalsozialisten. In seinem Standardwerk zeigt Daniel Siemens zudem, wie sogar nach den Säuberungen beim "Röhm-Putsch" 1934 die SA eine überraschend aktive Rolle in der nationalsozialistischen Eroberungs- und Vernichtungspolitik und dem Holocaust spielte.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.12.2019Aus diesen Reihen kamen versierte Gewaltexperten
Eine totale Organisation im Dienste des Nationalsozialismus: Daniel Siemens' Geschichte der SA überzeugt für die Jahre ab 1934
Die 1920/21 in München gegründete "Sturmabteilung" zählt zu den gut erforschten NS-Organisationen. Über die Ideologie, Symbolik und Mentalität ihrer Mitglieder ist ebenso viel bekannt wie über die Gewaltformen dieser Straßenkämpfer. Auch die soziale Zusammensetzung einer zu mehr als der Hälfte aus Arbeitern und unteren Mittelschichtlern bestehenden SA, die durch die Zugehörigkeit zur Kriegsjugendgeneration geprägt war, hat große wissenschaftliche Aufmerksamkeit gefunden. Die Integrationskraft einer nahezu totalen Organisation, die durch ihre eigenen Gewalttaten zusammengekittet war, ist in den letzten Jahren ausführlich erforscht worden. Vielbeachtete Arbeiten untersuchten die militante Männlichkeit und Kameraderie, aber auch die wichtigsten gesellschaftlichen Bedingungen für den Aufstieg der SA, die Anfang 1933 zu einer Massenorganisation mit rund 450 000 Mitgliedern aufgestiegen war.
Nach der 1989 von Peter Longerich vorgelegten Gesamtdarstellung "Die braunen Bataillone" hat Daniel Siemens nun eine zweite Überblicksdarstellung publiziert. Dass er damit keine Forschungslücke schließt, merkt man der ersten Hälfte seines Buches deutlich an. So bietet die Darstellung über den Aufstieg von SA und NSDAP nicht mehr als eine gut geschriebene Erzählung sattsam bekannter Entwicklungen. Neue Akzente setzt er nicht, auch wenn er die Forschungen anderer Autoren zuweilen als eigene Erkenntnisse zu camouflieren sucht.
Das ändert sich in den hinteren Abschnitten des Buches. Einige Passagen, die sich mit der Gewaltorgie der SA in der Zeit von 1933 bis Mitte 1934 befassen, schildern zunächst wieder hinlänglich Bekanntes. So ist von den "wilden Konzentrationslagern" die Rede, in denen 80 000 linke Regimegegner und rassistisch Verfolgte interniert und gefoltert wurden. Die SA, so ergänzt Siemens das bekannte Bild, verschaffte sich auf dem Höhepunkt ihrer Macht- und Gewaltentfaltung aber nicht nur kurzfristig einen "rechtsfreien Raum", sondern strebte sogar eine eigene, parallele Gerichtsbarkeit an. Zugleich zweigte sie rund 72 Millionen Reichsmark aus der Staatskasse für die eigene Organisation ab.
Nach der Ermordung der SA-Spitze um Ernst Röhm Mitte 1934, so die gängige Erzählung, war die SA nicht mehr als eine bedeutungslose, weil "gezähmte Parteiarmee". Dieser Interpretation widerspricht Siemens entschieden, auch wenn zwischen Sommer 1934 und April 1938 jeder zweite SA-Mann die Sturmabteilung verließ. Gleichwohl hat es durchaus Sinn, den, so Siemens, "nachhaltigen Einfluss" der SA nachzuweisen. Denn tatsächlich gehörte auch nach 1934 die antisemitische SA-Gewalt zum Alltagsbild der NS-Gesellschaft: ob durch Boykottaktionen, nächtliche Prügel betrunkener SA-Leute oder durch antijüdische Prangeraktionen. Diese Gewalt reichte bis zum systematischen Pogrom vom November 1938, bei dem die in Zivilkleidung auftretende SA die führende Rolle bei den Verwüstungen und der Zerstörung von Synagogen, bei zahllosen Misshandlungen und Zehntausenden von Verhaftungen übernahm.
Darüber hinaus, und hier betritt der Autor weniger gut gesichertes Gelände, begleiteten die paramilitärischen Tätigkeiten der SA die territorialen Expansionen bis in das Jahr 1939, wie den "Anschluss" Österreichs, die Wiedereingliederung des Memelgebietes oder die "Zerschlagung" der Tschechoslowakei 1938/39. In den entsprechenden Gebieten erfreuten sich diese gewaltbereiten "Grenzland"-Truppen freilich vor allem bei den als "volksdeutsch" ausgewiesenen Gruppierungen einer gewissen Beliebtheit.
Ein gelungenes Kapitel zum "Lebensraum im Osten" widmet sich sodann dem Beitrag der SA zu der breitgefächerten Siedlungs- und Germanisierungspolitik der Nationalsozialisten. Die SA plante, aus dem Kreis ihrer Mitglieder "Wehrbauern" als Träger "wertvollen Erbgutes" in die Ostgebiete zu entsenden. Letztlich blieben diese Pläne des beauftragten SA-Obergruppenführers Siegfried Kasche weitgehend auf dem Papier und wurden 1943 zugunsten der Konkurrenz des mächtigen SS-Rivalen Heinrich Himmler endgültig begraben. Das war anders bei den sogenannten "SA-Diplomaten", also den fünf oberen SA-Führern, die nach Kriegsbeginn die Interessen des Nationalsozialismus in den annektierten südosteuropäischen Gebieten vertraten. Im krassen Gegensatz zu ihren gering ausgeprägten diplomatischen Fähigkeiten unterstützten diese SA-Generäle als "versierte Gewaltexperten" die NS-Politik der Vernichtung der Juden in der Slowakei, Kroatien oder Rumänien.
Im Zweiten Weltkrieg wiederum öffneten sich für die 1939 rund 1,3 Millionen SA-Mitglieder neue Handlungsfelder: von der vormilitärischen Ausbildung, in der ganze Kohorten in "Wehrmannschaften" für den Krieg fit gemacht wurden, bis hin zur Kriegsbeteiligung verschiedener SA-Einheiten. Das Vorhaben, eine militärische Großformation unter eigenem Kommando zu errichten, scheiterte jedoch schon früh. Wichtiger war der Beitrag der SA zur ideologischen Mobilisierung der Wehrmacht. Darüber hinaus erfüllten die "Wehrmannschaften" der SA in den besetzten Gebieten Hilfspolizeifunktionen und wurden für die Bewachung von KZ-Insassen sowie bei Aufräumarbeiten nach Luftangriffen eingesetzt. Im langen "Endkampf" des Jahres 1945 stellte die SA den paramilitärisch geschulten Kern des "Volkssturms", der nunmehr Jagd auf "Defätisten" des Regimes machte. Damit wurde die SA in gewisser Weise wieder zurückgeführt zu ihrer ursprünglichen Gewaltfunktion.
Insgesamt vermisst man im ersten Teil der erzählerisch gelungenen Darstellung analytische Tiefe und innovative Interpretationen. Wenig erfährt man über die SA-Einheiten auf dem Land und nahezu nichts über den europäischen Charakter des Paramilitarismus vor 1933. Im zweiten Teil wird man für die bis dahin eher geringe Originalität entschädigt. So hat Siemens erstmals das Tagebuch von Viktor Lutze ausgewertet, keinen Geringeren als dem 1934 neu ernannten Stabschef der SA. Insgesamt wird für die Jahre von 1934 bis 1945 mit neuen Quellen und Belegen die Ideologisierungs- und Militarisierungsfunktion der SA innerhalb der nationalsozialistischen "Volksgemeinschaft" überzeugend herausgearbeitet. Während für die Jahre bis 1934 Longerichs klassische Studie immer noch mit Gewinn gelesen werden kann, könnte Daniel Siemens' Darstellung für die Jahre ab 1934 zu einem Standardwerk werden.
SVEN REICHARDT
Daniel Siemens: "Sturmabteilung". Die Geschichte der SA.
Aus dem Englischen von Karl Heinz Siber. Siedler Verlag, München 2019. 592 S., geb., 36,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine totale Organisation im Dienste des Nationalsozialismus: Daniel Siemens' Geschichte der SA überzeugt für die Jahre ab 1934
Die 1920/21 in München gegründete "Sturmabteilung" zählt zu den gut erforschten NS-Organisationen. Über die Ideologie, Symbolik und Mentalität ihrer Mitglieder ist ebenso viel bekannt wie über die Gewaltformen dieser Straßenkämpfer. Auch die soziale Zusammensetzung einer zu mehr als der Hälfte aus Arbeitern und unteren Mittelschichtlern bestehenden SA, die durch die Zugehörigkeit zur Kriegsjugendgeneration geprägt war, hat große wissenschaftliche Aufmerksamkeit gefunden. Die Integrationskraft einer nahezu totalen Organisation, die durch ihre eigenen Gewalttaten zusammengekittet war, ist in den letzten Jahren ausführlich erforscht worden. Vielbeachtete Arbeiten untersuchten die militante Männlichkeit und Kameraderie, aber auch die wichtigsten gesellschaftlichen Bedingungen für den Aufstieg der SA, die Anfang 1933 zu einer Massenorganisation mit rund 450 000 Mitgliedern aufgestiegen war.
Nach der 1989 von Peter Longerich vorgelegten Gesamtdarstellung "Die braunen Bataillone" hat Daniel Siemens nun eine zweite Überblicksdarstellung publiziert. Dass er damit keine Forschungslücke schließt, merkt man der ersten Hälfte seines Buches deutlich an. So bietet die Darstellung über den Aufstieg von SA und NSDAP nicht mehr als eine gut geschriebene Erzählung sattsam bekannter Entwicklungen. Neue Akzente setzt er nicht, auch wenn er die Forschungen anderer Autoren zuweilen als eigene Erkenntnisse zu camouflieren sucht.
Das ändert sich in den hinteren Abschnitten des Buches. Einige Passagen, die sich mit der Gewaltorgie der SA in der Zeit von 1933 bis Mitte 1934 befassen, schildern zunächst wieder hinlänglich Bekanntes. So ist von den "wilden Konzentrationslagern" die Rede, in denen 80 000 linke Regimegegner und rassistisch Verfolgte interniert und gefoltert wurden. Die SA, so ergänzt Siemens das bekannte Bild, verschaffte sich auf dem Höhepunkt ihrer Macht- und Gewaltentfaltung aber nicht nur kurzfristig einen "rechtsfreien Raum", sondern strebte sogar eine eigene, parallele Gerichtsbarkeit an. Zugleich zweigte sie rund 72 Millionen Reichsmark aus der Staatskasse für die eigene Organisation ab.
Nach der Ermordung der SA-Spitze um Ernst Röhm Mitte 1934, so die gängige Erzählung, war die SA nicht mehr als eine bedeutungslose, weil "gezähmte Parteiarmee". Dieser Interpretation widerspricht Siemens entschieden, auch wenn zwischen Sommer 1934 und April 1938 jeder zweite SA-Mann die Sturmabteilung verließ. Gleichwohl hat es durchaus Sinn, den, so Siemens, "nachhaltigen Einfluss" der SA nachzuweisen. Denn tatsächlich gehörte auch nach 1934 die antisemitische SA-Gewalt zum Alltagsbild der NS-Gesellschaft: ob durch Boykottaktionen, nächtliche Prügel betrunkener SA-Leute oder durch antijüdische Prangeraktionen. Diese Gewalt reichte bis zum systematischen Pogrom vom November 1938, bei dem die in Zivilkleidung auftretende SA die führende Rolle bei den Verwüstungen und der Zerstörung von Synagogen, bei zahllosen Misshandlungen und Zehntausenden von Verhaftungen übernahm.
Darüber hinaus, und hier betritt der Autor weniger gut gesichertes Gelände, begleiteten die paramilitärischen Tätigkeiten der SA die territorialen Expansionen bis in das Jahr 1939, wie den "Anschluss" Österreichs, die Wiedereingliederung des Memelgebietes oder die "Zerschlagung" der Tschechoslowakei 1938/39. In den entsprechenden Gebieten erfreuten sich diese gewaltbereiten "Grenzland"-Truppen freilich vor allem bei den als "volksdeutsch" ausgewiesenen Gruppierungen einer gewissen Beliebtheit.
Ein gelungenes Kapitel zum "Lebensraum im Osten" widmet sich sodann dem Beitrag der SA zu der breitgefächerten Siedlungs- und Germanisierungspolitik der Nationalsozialisten. Die SA plante, aus dem Kreis ihrer Mitglieder "Wehrbauern" als Träger "wertvollen Erbgutes" in die Ostgebiete zu entsenden. Letztlich blieben diese Pläne des beauftragten SA-Obergruppenführers Siegfried Kasche weitgehend auf dem Papier und wurden 1943 zugunsten der Konkurrenz des mächtigen SS-Rivalen Heinrich Himmler endgültig begraben. Das war anders bei den sogenannten "SA-Diplomaten", also den fünf oberen SA-Führern, die nach Kriegsbeginn die Interessen des Nationalsozialismus in den annektierten südosteuropäischen Gebieten vertraten. Im krassen Gegensatz zu ihren gering ausgeprägten diplomatischen Fähigkeiten unterstützten diese SA-Generäle als "versierte Gewaltexperten" die NS-Politik der Vernichtung der Juden in der Slowakei, Kroatien oder Rumänien.
Im Zweiten Weltkrieg wiederum öffneten sich für die 1939 rund 1,3 Millionen SA-Mitglieder neue Handlungsfelder: von der vormilitärischen Ausbildung, in der ganze Kohorten in "Wehrmannschaften" für den Krieg fit gemacht wurden, bis hin zur Kriegsbeteiligung verschiedener SA-Einheiten. Das Vorhaben, eine militärische Großformation unter eigenem Kommando zu errichten, scheiterte jedoch schon früh. Wichtiger war der Beitrag der SA zur ideologischen Mobilisierung der Wehrmacht. Darüber hinaus erfüllten die "Wehrmannschaften" der SA in den besetzten Gebieten Hilfspolizeifunktionen und wurden für die Bewachung von KZ-Insassen sowie bei Aufräumarbeiten nach Luftangriffen eingesetzt. Im langen "Endkampf" des Jahres 1945 stellte die SA den paramilitärisch geschulten Kern des "Volkssturms", der nunmehr Jagd auf "Defätisten" des Regimes machte. Damit wurde die SA in gewisser Weise wieder zurückgeführt zu ihrer ursprünglichen Gewaltfunktion.
Insgesamt vermisst man im ersten Teil der erzählerisch gelungenen Darstellung analytische Tiefe und innovative Interpretationen. Wenig erfährt man über die SA-Einheiten auf dem Land und nahezu nichts über den europäischen Charakter des Paramilitarismus vor 1933. Im zweiten Teil wird man für die bis dahin eher geringe Originalität entschädigt. So hat Siemens erstmals das Tagebuch von Viktor Lutze ausgewertet, keinen Geringeren als dem 1934 neu ernannten Stabschef der SA. Insgesamt wird für die Jahre von 1934 bis 1945 mit neuen Quellen und Belegen die Ideologisierungs- und Militarisierungsfunktion der SA innerhalb der nationalsozialistischen "Volksgemeinschaft" überzeugend herausgearbeitet. Während für die Jahre bis 1934 Longerichs klassische Studie immer noch mit Gewinn gelesen werden kann, könnte Daniel Siemens' Darstellung für die Jahre ab 1934 zu einem Standardwerk werden.
SVEN REICHARDT
Daniel Siemens: "Sturmabteilung". Die Geschichte der SA.
Aus dem Englischen von Karl Heinz Siber. Siedler Verlag, München 2019. 592 S., geb., 36,- [Euro].
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»Die beste Darstellung von Hitlers Braunhemden, die es gibt.« Robert Gerwarth