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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Die Aufdeckung der Untertöne: Ulrike Draesners neuer Gedichtband "Subsong" geht der Sprache unter die Melodiehaut.
Wie reizend ist es doch, wenn die lieben Kleinen das Sprechen lernen! Ihre entzückenden sprachlichen Leistungen und Fehlleistungen werden in vielen Familien zu lebenslang repetierten Redensarten und Merkversen. "Schlaf, Kindelein, süße! Die Engländer lassen dich grüßen", sang unsere kleine Schwester nach dem Krieg - wir lebten in der britischen Besatzungszone. Und als das Kita-Kind, von dem Ulrike Draesner in einem ihrer Gedichte spricht, endlich das "r" benutzen kann und neben das neuerworbene Wort "Paprika" die "Mamrika" stellt, erfinden die Erwachsenen und das Kind gemeinsam eine Sprache, in der der Buchstabe "l" durch den Buchstaben "r" ersetzt wird: man geht "farradkringer kaufen zur berohnung" - ach, "herrrich war / das reben in diesem herbst".
Ist das schon Poesie? Das Gedicht steht im ersten Abschnitt ("vokabeltrainer") des neuen Gedichtbandes von Ulrike Draesner mit dem Zusatz "(einsingen)": Es dient der Eingewöhnung und Einübung in eine neue, unerhörte Sprache, in eine Sprache, die unterhalb (sub) der konventionellen Sprache von jedem, der sie benutzt, schon immer mitgehört wird, die aufgedeckt, aber auch erfunden werden kann. Ulrike Draesner sucht, nach eigener Bekundung, "das Lied unter dem Lied". Sie sucht es dort, sagt sie, "wo die Bedeutungsebenen der Sprache durch meine Art und Weise, mir ihr umzugehen, sich lockern - so dass die Bedeutungen, die Gefühlsvalenzen von Lauten, von Konsonanten und Vokabeln, ihren Kombinationen und Variationen hörbar werden". Das nennt sie "Subsong".
Subsong ist ein Begriff aus der Ornithologie. Er bezeichnet den Gesang von Jungvögeln, der als zwar leise, aber sehr individuell und besonders schön gilt. Diesen Sängern und diesen Klangfolgen geht die Dichterin Draesner nach, übt sich darin, sie zu entdecken, zu beobachten, zu unterscheiden und ihrem Tirili Buchstaben und Bedeutungsfelder zuzuordnen. "Ohne es zu bemerken, beobachtet man Poesie" - so kommentiert die Verfasserin den Lexikonartikel über die Subsongs der Vögel, den sie ihrem Gedichtband vorangestellt hat. Eine phonetische Umschrift der Vogellaute gibt sie mehreren ihrer 21 Vogelgedichte gleichsam als Motto bei. "Ich mache Vogelgedichte, indem ich sie hör-spreche." Auf diese Weise entsteht im Zentrum dieses Buches so etwas wie ein ornithologisches Bestiarium, in dem unter anderen der Reiher, die Elster, das Hausrotschwänzchen, die Amsel, der Papagei und der Zaunkönig ihren Auftritt haben, ebenso wie der Prachtleierschwanz: "weißschenklig stülpt / sekundenschnell hahn sich schwanz / übern kopf stelzt sprühender phallus / der statt zu dringen fluoresziert / konvulsierende schönheit / party im blitz".
Das ist aber noch längst nicht alles. Das Prinzip "Subsong", das man pauschal als die Aufdeckung der Untertöne unterhalb der jeweils gehörten Melodie bezeichnen könnte, regiert auch die anderen Teile des Gedichtbandes. Da gibt es beispielsweise "subsongs vom berg", die sich auf Petrarcas Liebesgedichte beziehen; sie erscheinen hier als Figurengedichte, die - was sonst? - einen Lorbeerbaum, also Laura, figürlich darstellen, und der Grund und Boden, auf dem sie stehen, wird mit dem Verweis auf einzelne Sonette Petrarcas gefestigt, die man, falls zur Hand, unbedingt nachlesen sollte. Die Texte der Beatles-Songs dagegen (im Abschnitt "beatles-subsongs") werden im englischen Original geboten, damit das ganze Ausmaß ihrer begeisterten Aneignung durch das elfjährige deutsch-bayrische Mädchen Ulrike ausgekostet werden kann, das sie damals (1973) nach- oder mitsang: "In den Au'n, wo ich war Sporn, / Mann im Lift ,hu!' sagte ,sieh!' / tollte uns sein Leben vor / tief im Land der Suppmarie" - das ist, selbst für hartnäckige Beatles-Ignoranten, leicht als "Yellow Submarine" wiederzuerkennen. "Heute rettet mich die Melodie davor, den Text ,richtig' zu verstehen. Kaum erklingen die ersten Takte gewisser Beatles-Songs, rutscht mein Gehirn, als könne es nicht anders (es kann nicht anders), in sein kindliches Hören zurück", heißt es in den Anmerkungen.
Und ganz am Ende, im dritten und letzten Gedicht des Abschnitts "subsub ,p' (what is poetry)", dort also, wo man vielleicht die bilanzierende Summe aller poetischen Bemühungen erwartet und wo auch der potenzierende Titel dieses Abschnitts die ultimative Auskunft der Dichterin über ihre Art, Poesie zu machen, und das uneingeschränkte Bekenntnis zu ihr verspricht, da geht es über fast alle Verse hinweg um nichts anderes als um die alltäglichen Verrichtungen einer Hausfrau mit Kind und Mann: "putzen staubsaugen rotz abwischen geschürftes knie / bauch streicheln zum einschlafen oder wenn er wehtut". Bis endlich, wenn auch nur für Sekunden, im Gartenteich das eigene Spiegelbild mit Kind auftaucht. Es "weiß ... mehr über dich als dir recht / sein kann es sagt: ich liebe / dich tiefer als einen wald // es sagt: dunkel ist das innere des mundes / und alles was denkt".
Alle bisherigen Gedichtbände der Ulrike Draesner besitzen Projektcharakter. Man könnte sie als lyrische Untersuchungsreihen betrachten, die dazu einladen, die vielfältigen Ergebnisse staunend zur Kenntnis zu nehmen und die Methoden nachzuprüfen, durch die sie zustande kommen. Die Subsongs nehmen in der Folge dieser Untersuchungsreihen zweifellos den Spitzenplatz ein.
WULF SEGEBRECHT
Ulrike Draesner: "Subsong". Gedichte.
Luchterhand Literaturverlag, München 2014. 240 S., geb., 18,99 [Euro].
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