Ein Buch, das unsere Annahmen über Gleichberechtigung erschüttern wird. „Souverän, scharfsinnig, lustig und analytisch“ Theresia Enzensberger
Plötzlich sind alle Feminist*innen. Bloß kann von echter Gleichberechtigung keine Rede sein. Warum wirken überholte Strukturen fort? Wie lassen sie sich abwracken? Ann-Kristin Tlusty betrachtet die inneren und äußeren Zwänge, die das Leben von Frauen auch heute prägen: Noch immer wird ihnen abverlangt, „sanft“ die Sorgen und Bedürfnisse der Gesellschaft aufzufangen. Jederzeit sollen sie dabei auf „süße“ Weise sexuell verfügbar erscheinen, gern auch unter feministischem Vorzeichen. Und bei alldem angenehm „zart“ niemals zu viel Mündigkeit beanspruchen. Klug und persönlich, befreiend und neu: Diese Streitschrift wirbelt die Geschlechterordnung für immer durcheinander. Enjoy, Sweethearts!
Plötzlich sind alle Feminist*innen. Bloß kann von echter Gleichberechtigung keine Rede sein. Warum wirken überholte Strukturen fort? Wie lassen sie sich abwracken? Ann-Kristin Tlusty betrachtet die inneren und äußeren Zwänge, die das Leben von Frauen auch heute prägen: Noch immer wird ihnen abverlangt, „sanft“ die Sorgen und Bedürfnisse der Gesellschaft aufzufangen. Jederzeit sollen sie dabei auf „süße“ Weise sexuell verfügbar erscheinen, gern auch unter feministischem Vorzeichen. Und bei alldem angenehm „zart“ niemals zu viel Mündigkeit beanspruchen. Klug und persönlich, befreiend und neu: Diese Streitschrift wirbelt die Geschlechterordnung für immer durcheinander. Enjoy, Sweethearts!
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Julia Bähr schätzt es zwar, dass die Journalistin Ann-Kristin Tlutsy mit ihrem Buch gegen das "Pfirsich"-Image der Frauen - sanft, süß, zart, so Tlutsys Kategorisierung im Buch - anschreibe, findet ihre Ausführungen aber oft zu einseitig. So hält sie beispielsweise Tlutsys Behauptung, das "Ja heißt ja"-Konzept würde binäre Rollenmuster fortschreiben, für zu kurz gedacht und die affirmativen Überlegungen der Autorin zu einem "Vielleicht" für falsch, denn "vielleicht" heißt für die Kritikerin ganz klar "nein". Interessanter findet sie da die Stellen zu Beate Zschäpe, die von der Presse zunächst als "unschuldige Frau" rezipiert worden sei. Denn hier wird für Bähr ein anderer Aspekt der Problematik aufgeworfen, der der gesamten Gesellschaft schadet, nämlich, dass Frauen von diskriminierenden Ansichten auch profitieren können.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.11.2021Sexismus? Hier bei uns?
Ann-Kristin Tlusty analysiert die anhaltende Macht von vermeintlich veralteten Rollenbildern
Deutschland im Jahr 2021: Paradies des Feminismus? Na gut: Eine Fortschrittsgesellschaft, die das Ideal der Gleichberechtigung, wenn nicht perfekt, doch respektabel umgesetzt hat – sodass die Zeit nun reif ist, einmal innezuhalten und einander auf die Schultern zu klopfen? Nicht, wenn es nach der Journalistin und Kulturwissenschaftlerin Ann-Kristin Tlusty geht.
Wir sind längst nicht so weit, wie viele glauben wollen: Von dieser – nicht vollends verblüffenden – Diagnose nimmt ihr feministisches Sachbuch „Süß“ seinen Ausgang. Die Fakten sind deutlich: Frauen verdienen in Deutschland laut den Erhebungen des Statistischen Bundesamtes 18 Prozent weniger als Männer, verrichten dafür anderthalb Mal so viel unbezahlte Sorgearbeit. Vier von fünf Gewalttätern in Partnerschaften sind männlich und verantwortlich für insgesamt 116 000 Delikte im vergangenen Jahr.
Tlusty nähert sich dem Missstand, indem sie untersucht, welche gesellschaftlich tradierten Bilder von – insbesondere weiblichen – Geschlechterrollen ihm einen Nährboden geben. Sie schreibt eine psychosoziale Typologie sexistischer Habitusformen. Dabei konzentriert sich ihre Analyse in drei zentralen Figuren: der sanften, der süßen und der zarten Frau.
Die sanfte Frau ist nachgiebig, wirkt ausgleichend und nimmt so stillschweigend wie selbstverständlich den Großteil aller Fürsorgearbeit auf sich: vom Wäschewaschen über die Kindererziehung – ohne jegliche Entlohnung. Die süße Frau gibt sich kokett, sexuell stets verfügbar, wimpernklimpernd. Und die zarte Frau repräsentiert jene fragilen Wesen, die aus so manchem Modekatalog mit großen Augen in die Ferne starren – erfüllt von Sehnsucht nach dem starken Mann an ihrer Seite, der ihre Existenz erst vollwertig macht.
Man könnte diese Figuren als Stereotypen abtun. Doch Tlusty setzt sie mit philosophischer wie historischer Sensibilität und statistischem Ehrgeiz als Brenngläser ein. So destilliert sie aus ihren Beobachtungen – im privaten Umfeld wie im gesellschaftlichen Kontext – eine Analyse, die Probleme schärfer sichtbar macht.
Zwar scheint der Zusammenhang zwischen dem Rollenbild der sanften Frau und dem Gender Pay Gap in der Theorie augenfällig. Wie kann es aber sein, dass ihnen heute noch derartige Wirkmacht zukommt? Hier lenkt die 28-jährige Publizistin Tlusty den Blick auf die Machtstrukturen, die im Alltag auch die reflektierten Menschen oft fest im Griff haben.
In Deutschland dürfen Frauen inzwischen seit mehr als einem Jahrhundert wählen und seit über 40 Jahren ohne Einwilligung ihres Ehemannes einer Lohnarbeit nachgehen. Vergewaltigung in der Ehe ist seit bald 25 Jahren ein Straftatbestand. Anhand dieser reichlich verspäteten Selbstverständlichkeiten den juristischen Status Quo zu rühmen, wäre zynisch genug. Doch jener, mahnt Tlusty, ist höchstens die halbe Wahrheit: „Herrschaft bleibt auch dann bestehen, wenn sie rechtlich schon lange abgeschafft ist.“
So kommt sie mit dem Begriff des „Phantombesitzes“ einem Muster männlichen Dominanzgebarens und weiblicher Fügsamkeit auf die Spur – das eine ihrer Freundinnen besonders eindrucksvoll benennt: „Manchmal ist es einfach der leichteste Weg, mit einem Mann nach Hause zu gehen, statt zu erklären, warum man lieber allein schlafen möchte.“
Die Lösungswege sind dabei komplexer als man meinen könnte: Tlusty erteilt dem Lean-in-Feminismus, den sie „Potenzfeminismus“ nennt, eine unmissverständliche Absage. Der wolle die Frauen bloß zu besseren Männern machen. Selbstbestimmt das Glück in die eigene Hand zu nehmen, in Wahrheit aber zwischen Karriere, Windeln und Freizeitstress im Dreieck zu springen – feministischer Individualismus dieser Art verleugne, so Tlusty, seinem Anspruch nach die fatale strukturelle Stabilität des Sexismus.
Letztere offenbarte ihre Untiefen etwa in der „Lohn für Hausarbeit“-Kampagne der Siebzigerjahre: Habe diese nicht vor allem zur Institutionalisierung weiblicher Care-Arbeit geführt? Auch in Sachen libidinöser Gleichstellung entfalte Fortschritt dann Rückstoßwirkungen, wenn „sexuelle Befreiung“ in einen Druck zu „Sexpositivität“ umschlage. Zwischen Fremdbestimmung und zweifelhafter Autarkie geht es Tlusty stattdessen um einen Zwischenraum für eine realistische Utopie: Sex dürfe nicht bloß als Konsens-Fragebogen begriffen werden, sondern vielmehr als echtes „Gespräch“ zweier Gleichberechtigter in der Offenheit des „Vielleicht“ – und in Freude am Erkunden der Gemeinsamkeit.
Denn eben diese Gemeinsamkeit, so Tlustys Botschaft an Männer wie an Frauen, ist das Ziel am Horizont der Kämpfe und Kontroversen: „Wie müsste eine Welt aussehen, in der alle Menschen sanft, süß und zart sein können?“
NIKLAS ELSENBRUCH
Im Mittelpunkt
der Analyse stehen
drei zentrale Figuren:
die sanfte, die süße und
die zarte Frau
Ann-Kristin Tlusty:
Süß.
Eine feministische Kritik.
Hanser, München 2021.
208 Seiten, 18 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Ann-Kristin Tlusty analysiert die anhaltende Macht von vermeintlich veralteten Rollenbildern
Deutschland im Jahr 2021: Paradies des Feminismus? Na gut: Eine Fortschrittsgesellschaft, die das Ideal der Gleichberechtigung, wenn nicht perfekt, doch respektabel umgesetzt hat – sodass die Zeit nun reif ist, einmal innezuhalten und einander auf die Schultern zu klopfen? Nicht, wenn es nach der Journalistin und Kulturwissenschaftlerin Ann-Kristin Tlusty geht.
Wir sind längst nicht so weit, wie viele glauben wollen: Von dieser – nicht vollends verblüffenden – Diagnose nimmt ihr feministisches Sachbuch „Süß“ seinen Ausgang. Die Fakten sind deutlich: Frauen verdienen in Deutschland laut den Erhebungen des Statistischen Bundesamtes 18 Prozent weniger als Männer, verrichten dafür anderthalb Mal so viel unbezahlte Sorgearbeit. Vier von fünf Gewalttätern in Partnerschaften sind männlich und verantwortlich für insgesamt 116 000 Delikte im vergangenen Jahr.
Tlusty nähert sich dem Missstand, indem sie untersucht, welche gesellschaftlich tradierten Bilder von – insbesondere weiblichen – Geschlechterrollen ihm einen Nährboden geben. Sie schreibt eine psychosoziale Typologie sexistischer Habitusformen. Dabei konzentriert sich ihre Analyse in drei zentralen Figuren: der sanften, der süßen und der zarten Frau.
Die sanfte Frau ist nachgiebig, wirkt ausgleichend und nimmt so stillschweigend wie selbstverständlich den Großteil aller Fürsorgearbeit auf sich: vom Wäschewaschen über die Kindererziehung – ohne jegliche Entlohnung. Die süße Frau gibt sich kokett, sexuell stets verfügbar, wimpernklimpernd. Und die zarte Frau repräsentiert jene fragilen Wesen, die aus so manchem Modekatalog mit großen Augen in die Ferne starren – erfüllt von Sehnsucht nach dem starken Mann an ihrer Seite, der ihre Existenz erst vollwertig macht.
Man könnte diese Figuren als Stereotypen abtun. Doch Tlusty setzt sie mit philosophischer wie historischer Sensibilität und statistischem Ehrgeiz als Brenngläser ein. So destilliert sie aus ihren Beobachtungen – im privaten Umfeld wie im gesellschaftlichen Kontext – eine Analyse, die Probleme schärfer sichtbar macht.
Zwar scheint der Zusammenhang zwischen dem Rollenbild der sanften Frau und dem Gender Pay Gap in der Theorie augenfällig. Wie kann es aber sein, dass ihnen heute noch derartige Wirkmacht zukommt? Hier lenkt die 28-jährige Publizistin Tlusty den Blick auf die Machtstrukturen, die im Alltag auch die reflektierten Menschen oft fest im Griff haben.
In Deutschland dürfen Frauen inzwischen seit mehr als einem Jahrhundert wählen und seit über 40 Jahren ohne Einwilligung ihres Ehemannes einer Lohnarbeit nachgehen. Vergewaltigung in der Ehe ist seit bald 25 Jahren ein Straftatbestand. Anhand dieser reichlich verspäteten Selbstverständlichkeiten den juristischen Status Quo zu rühmen, wäre zynisch genug. Doch jener, mahnt Tlusty, ist höchstens die halbe Wahrheit: „Herrschaft bleibt auch dann bestehen, wenn sie rechtlich schon lange abgeschafft ist.“
So kommt sie mit dem Begriff des „Phantombesitzes“ einem Muster männlichen Dominanzgebarens und weiblicher Fügsamkeit auf die Spur – das eine ihrer Freundinnen besonders eindrucksvoll benennt: „Manchmal ist es einfach der leichteste Weg, mit einem Mann nach Hause zu gehen, statt zu erklären, warum man lieber allein schlafen möchte.“
Die Lösungswege sind dabei komplexer als man meinen könnte: Tlusty erteilt dem Lean-in-Feminismus, den sie „Potenzfeminismus“ nennt, eine unmissverständliche Absage. Der wolle die Frauen bloß zu besseren Männern machen. Selbstbestimmt das Glück in die eigene Hand zu nehmen, in Wahrheit aber zwischen Karriere, Windeln und Freizeitstress im Dreieck zu springen – feministischer Individualismus dieser Art verleugne, so Tlusty, seinem Anspruch nach die fatale strukturelle Stabilität des Sexismus.
Letztere offenbarte ihre Untiefen etwa in der „Lohn für Hausarbeit“-Kampagne der Siebzigerjahre: Habe diese nicht vor allem zur Institutionalisierung weiblicher Care-Arbeit geführt? Auch in Sachen libidinöser Gleichstellung entfalte Fortschritt dann Rückstoßwirkungen, wenn „sexuelle Befreiung“ in einen Druck zu „Sexpositivität“ umschlage. Zwischen Fremdbestimmung und zweifelhafter Autarkie geht es Tlusty stattdessen um einen Zwischenraum für eine realistische Utopie: Sex dürfe nicht bloß als Konsens-Fragebogen begriffen werden, sondern vielmehr als echtes „Gespräch“ zweier Gleichberechtigter in der Offenheit des „Vielleicht“ – und in Freude am Erkunden der Gemeinsamkeit.
Denn eben diese Gemeinsamkeit, so Tlustys Botschaft an Männer wie an Frauen, ist das Ziel am Horizont der Kämpfe und Kontroversen: „Wie müsste eine Welt aussehen, in der alle Menschen sanft, süß und zart sein können?“
NIKLAS ELSENBRUCH
Im Mittelpunkt
der Analyse stehen
drei zentrale Figuren:
die sanfte, die süße und
die zarte Frau
Ann-Kristin Tlusty:
Süß.
Eine feministische Kritik.
Hanser, München 2021.
208 Seiten, 18 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.12.2021Bei Weltraumflügen darf Schokolade nicht fehlen
Sanft, süß und zart: Ann-Kristin Tlusty nimmt die Geschlechterordnung in den Blick und kritisiert gängige Rollenmuster
Wenn über Frauen gesprochen und geschrieben wird, klingt das oft, als ginge es um Elfen oder Pfirsiche. Lieblich sei die Frau, hilfreich und gut. Die Journalistin Ann-Kristin Tlusty unterteilt dieses Phänomen in ihrem Buch "Süß" in drei Kategorien - sanft, süß, zart - und stellt klar: "Wenn ich hier von Frauen schreibe, werde ich (. . .) Weiblichkeit zunächst einmal als den erlernten und oft sicherlich unbewussten Impuls auffassen, eigene Bedürfnisse zu verleugnen und denen anderer Raum zu geben, den Impuls also, zu antizipieren, was gewünscht ist - oder auch schlichtweg keine andere Wahl zu haben." Tlusty zeigt mithin etwas auf, das sich nicht ignorieren lässt, wenn man Fiktion konsumiert: Dort sind die Rollen, die sie beschreibt, allgegenwärtig. Ob in der Oper oder auf RTL.
Diese Fiktion wiederum findet nicht im luftleeren Raum statt. Sie geht auf eine gesellschaftliche Erwartung zurück, und sie prägt die Mädchen und Frauen, die sie anschauen, anhören oder lesen. Ein extremes Beispiel hierfür ist die japanische Kawaii-Kultur, die Niedlichkeit propagiert und sich damit nicht nur, aber vor allem an Frauen richtet. Die Gesellschaft prägt die Kultur, und die Kultur prägt die nächsten Generationen.
Aber Tlusty geht auf solche Phänomene nicht weiter ein, es geht ihr nicht um die Ursachen der Rollen, sondern um ihre Auswirkungen. Zunächst widmet sie sich der sanften Frau: "Selbstlos nimmt sie sich all jener an, die dringend eine sanfte Schulter brauchen - und meistert selbstverständlich und mit mildem Lächeln die unzähligen Herausforderungen des Alltags, für die Frauen angeblich nun mal prädestiniert sind." Das Problem dabei sei die mangelnde Wertschätzung, wie die Autorin feststellt. Sanftheit gilt schließlich als Eigenschaft und nicht als Leistung, also liegen alle Leistungen dahinter eben in der Natur der Frau. Sie kümmert sich immer um alles und jammert nie? Da muss man sich nicht bedanken, das entspricht einfach ihrem Naturell.
Der zweite Teil meint süß nicht im Sinne von niedlich, sondern: die Frau als süße Verlockung, als passives Objekt der Begierde, "sexuell allzeit bereit - und das teils auch unter feministischen Vorzeichen". Vieles in diesem Kapitel ist bedenkenswert. Aber die Autorin scheint ungezielt auf das Thema zu feuern und trifft dabei etliches, was nicht dazugehört. So führt sie etwa als problematisch an, dass sie selbst als junge Frau in einem Onlineprofil eine Vorliebe für Schokolade stehen hatte und die iranische Geschäftsfrau Anousheh Ansari in Vorbereitung auf ihren Weltraumflug sagte, ihr sei egal, was es auf der ISS zu essen gebe, Hauptsache, Schokolade sei an Bord. Allerdings hat Schokolade nichts mit der Rolle zu tun, die sie vorher zu beschreiben versuchte. Es ist nicht antifeministisch, zu einer Vorliebe für Süßwaren zu stehen - es kann im Gegenteil sogar emanzipatorisch sein, weil das öffentliche Essen von Schokolade für dicke Menschen Selbstbewusstsein erfordert.
Das ist nur eine von mehreren Stellen, die Ausweis von Denkfaulheit sind. Tlusty schreibt etwa über vertikale Diskriminierung, bei der wohlhabende Frauen ärmere Frauen ausbeuten, indem sie ihnen die Hausarbeit überlassen. Keine Rede ist von der Möglichkeit, Haushaltshilfen fair oder gut zu bezahlen. Später geht es um Sexualität und die Regel "Ja heißt Ja", die geschaffen wurde, um Vergewaltigungen und sexuelle Übergriffe zu verhindern.
Tlusty behauptet, diese Methode sei nicht so "geschlechtsneutral", wie es zunächst scheine: "Indem das Zustimmungsprinzip von einer Person, die fragt, und einer Person, die antwortet, von einer Person, die initiiert, und einer Person, die reagiert, von einer starken und von einer schwachen Position ausgeht, werden binäre Rollenzuschreibungen fortgeschrieben." Die Autorin geht davon aus, dass "weiterhin" die Männer fragen und die Frauen zustimmen. Selbst wenn das stimmen sollte: Die Annahme, dass der Fragende in der schwachen Position sei, ist zu einseitig.
Mit Sexualität geht es weiter, denn Tlusty fehlen Zwischenkategorien: "Was ist denn, wenn man nicht Ja, aber auch nicht Nein sagen möchte? (. . .) Wo bleibt Raum für das Vielleicht, für Unsicherheiten und Ambivalenzen, die einer lustvollen Sexualität doch innewohnen?" Das wiederum ist nicht simpel genug gedacht, denn ganz simpel heißt "Vielleicht": "Nicht Ja". Also erst mal "Nein". "Vielleicht" ist verwandt mit so aufgeladenen Formulierungen wie "Nicht hier" und "Noch nicht". Jede und jeder darf "Vielleicht" sagen, aber niemand darf es als "Ja" auffassen. Tlusty verkennt hier die Ernsthaftigkeit der Debatte, die über kichernde Vielleichts hinausgeht.
Interessant sind wiederum ihre Ausführungen zur Rezeption von Beate Zschäpe als zarte, unschuldige Frau. Journalisten warfen früh die Frage auf, ob Zschäpe von den Morden etwas wusste. "Konnte sie nicht auch vierzehn Jahre lang mit zwei Mitgliedern der größten Terrorzelle der deutschen Nachkriegszeit gefrühstückt - aber von deren Verbrechen rein gar nichts mitbekommen haben?" Hier fällt auf, dass die Klischees nicht nur den Frauen schaden oder aber: den Frauen nicht nur schaden. Manche profitieren davon, dass sie sogar mit Straftaten eher durchkommen, wenn man sie für ein zartes Wesen hält. Und so schaden die Klischees auch der Gesellschaft: indem sie den Blick auf Frauen verschleiern. JULIA BÄHR
Ann-Kristin Tlusty: "Süß". Eine feministische Kritik.
Hanser Verlag, München 2021. 208 S., geb., 18,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sanft, süß und zart: Ann-Kristin Tlusty nimmt die Geschlechterordnung in den Blick und kritisiert gängige Rollenmuster
Wenn über Frauen gesprochen und geschrieben wird, klingt das oft, als ginge es um Elfen oder Pfirsiche. Lieblich sei die Frau, hilfreich und gut. Die Journalistin Ann-Kristin Tlusty unterteilt dieses Phänomen in ihrem Buch "Süß" in drei Kategorien - sanft, süß, zart - und stellt klar: "Wenn ich hier von Frauen schreibe, werde ich (. . .) Weiblichkeit zunächst einmal als den erlernten und oft sicherlich unbewussten Impuls auffassen, eigene Bedürfnisse zu verleugnen und denen anderer Raum zu geben, den Impuls also, zu antizipieren, was gewünscht ist - oder auch schlichtweg keine andere Wahl zu haben." Tlusty zeigt mithin etwas auf, das sich nicht ignorieren lässt, wenn man Fiktion konsumiert: Dort sind die Rollen, die sie beschreibt, allgegenwärtig. Ob in der Oper oder auf RTL.
Diese Fiktion wiederum findet nicht im luftleeren Raum statt. Sie geht auf eine gesellschaftliche Erwartung zurück, und sie prägt die Mädchen und Frauen, die sie anschauen, anhören oder lesen. Ein extremes Beispiel hierfür ist die japanische Kawaii-Kultur, die Niedlichkeit propagiert und sich damit nicht nur, aber vor allem an Frauen richtet. Die Gesellschaft prägt die Kultur, und die Kultur prägt die nächsten Generationen.
Aber Tlusty geht auf solche Phänomene nicht weiter ein, es geht ihr nicht um die Ursachen der Rollen, sondern um ihre Auswirkungen. Zunächst widmet sie sich der sanften Frau: "Selbstlos nimmt sie sich all jener an, die dringend eine sanfte Schulter brauchen - und meistert selbstverständlich und mit mildem Lächeln die unzähligen Herausforderungen des Alltags, für die Frauen angeblich nun mal prädestiniert sind." Das Problem dabei sei die mangelnde Wertschätzung, wie die Autorin feststellt. Sanftheit gilt schließlich als Eigenschaft und nicht als Leistung, also liegen alle Leistungen dahinter eben in der Natur der Frau. Sie kümmert sich immer um alles und jammert nie? Da muss man sich nicht bedanken, das entspricht einfach ihrem Naturell.
Der zweite Teil meint süß nicht im Sinne von niedlich, sondern: die Frau als süße Verlockung, als passives Objekt der Begierde, "sexuell allzeit bereit - und das teils auch unter feministischen Vorzeichen". Vieles in diesem Kapitel ist bedenkenswert. Aber die Autorin scheint ungezielt auf das Thema zu feuern und trifft dabei etliches, was nicht dazugehört. So führt sie etwa als problematisch an, dass sie selbst als junge Frau in einem Onlineprofil eine Vorliebe für Schokolade stehen hatte und die iranische Geschäftsfrau Anousheh Ansari in Vorbereitung auf ihren Weltraumflug sagte, ihr sei egal, was es auf der ISS zu essen gebe, Hauptsache, Schokolade sei an Bord. Allerdings hat Schokolade nichts mit der Rolle zu tun, die sie vorher zu beschreiben versuchte. Es ist nicht antifeministisch, zu einer Vorliebe für Süßwaren zu stehen - es kann im Gegenteil sogar emanzipatorisch sein, weil das öffentliche Essen von Schokolade für dicke Menschen Selbstbewusstsein erfordert.
Das ist nur eine von mehreren Stellen, die Ausweis von Denkfaulheit sind. Tlusty schreibt etwa über vertikale Diskriminierung, bei der wohlhabende Frauen ärmere Frauen ausbeuten, indem sie ihnen die Hausarbeit überlassen. Keine Rede ist von der Möglichkeit, Haushaltshilfen fair oder gut zu bezahlen. Später geht es um Sexualität und die Regel "Ja heißt Ja", die geschaffen wurde, um Vergewaltigungen und sexuelle Übergriffe zu verhindern.
Tlusty behauptet, diese Methode sei nicht so "geschlechtsneutral", wie es zunächst scheine: "Indem das Zustimmungsprinzip von einer Person, die fragt, und einer Person, die antwortet, von einer Person, die initiiert, und einer Person, die reagiert, von einer starken und von einer schwachen Position ausgeht, werden binäre Rollenzuschreibungen fortgeschrieben." Die Autorin geht davon aus, dass "weiterhin" die Männer fragen und die Frauen zustimmen. Selbst wenn das stimmen sollte: Die Annahme, dass der Fragende in der schwachen Position sei, ist zu einseitig.
Mit Sexualität geht es weiter, denn Tlusty fehlen Zwischenkategorien: "Was ist denn, wenn man nicht Ja, aber auch nicht Nein sagen möchte? (. . .) Wo bleibt Raum für das Vielleicht, für Unsicherheiten und Ambivalenzen, die einer lustvollen Sexualität doch innewohnen?" Das wiederum ist nicht simpel genug gedacht, denn ganz simpel heißt "Vielleicht": "Nicht Ja". Also erst mal "Nein". "Vielleicht" ist verwandt mit so aufgeladenen Formulierungen wie "Nicht hier" und "Noch nicht". Jede und jeder darf "Vielleicht" sagen, aber niemand darf es als "Ja" auffassen. Tlusty verkennt hier die Ernsthaftigkeit der Debatte, die über kichernde Vielleichts hinausgeht.
Interessant sind wiederum ihre Ausführungen zur Rezeption von Beate Zschäpe als zarte, unschuldige Frau. Journalisten warfen früh die Frage auf, ob Zschäpe von den Morden etwas wusste. "Konnte sie nicht auch vierzehn Jahre lang mit zwei Mitgliedern der größten Terrorzelle der deutschen Nachkriegszeit gefrühstückt - aber von deren Verbrechen rein gar nichts mitbekommen haben?" Hier fällt auf, dass die Klischees nicht nur den Frauen schaden oder aber: den Frauen nicht nur schaden. Manche profitieren davon, dass sie sogar mit Straftaten eher durchkommen, wenn man sie für ein zartes Wesen hält. Und so schaden die Klischees auch der Gesellschaft: indem sie den Blick auf Frauen verschleiern. JULIA BÄHR
Ann-Kristin Tlusty: "Süß". Eine feministische Kritik.
Hanser Verlag, München 2021. 208 S., geb., 18,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Ein scharfsinniges und erhellendes Plädoyer dafür, dass wir nicht nur individuell die eingefahrenen Strukturen zu überwinden versuchen, sondern nach gemeinsamen gesellschaftlichen Lösungen suchen sollten." Nicola Steiner, SRF Kultur, 23.05.22
"Eine beeindruckende, fundierte und schlüssige Gesellschaftsanalyse." Judith Reinbold, SWR2, 17.01.21
"Man könnte diese Figuren als Stereotypen abtun. Doch Tlusty setzt sie mit philosophischer wie historischer Sensibilität und statistischem Ehrgeiz als Brenngläser ein. So destilliert sie aus ihren Beobachtungen - im privaten Umfeld wie im gesellschaftlichen Kontext - eine Analyse, die Probleme schärfer sichtbar macht." Niklas Elsenbruch, Süddeutsche Zeitung, 30.11.21
"Gekonnt führt die Kulturwissenschaftlerin popkulturelle Phänomene mit wissenschaftlichen Diskursen zusammen ... Sehr erfrischend ist Tlustys Art, Witze einzubauen ... und das selbstkritische Hinterfragen eigener Denkweisen. Die feministische Kritik ist intersektional und schafft es, das nicht wie eine woke Pflicht abzutun ... In den Schilderungen von Tlusty ... ist es herrlich leicht, sich wiederzuerkennen und vor Augen zu führen, dass Feminismus doch noch gebraucht wird." Pia Benthin, Tagesspiegel, 20.10.21
"Tlustys Kritik ist erfrischend und genau das, was der aktuelle Diskurs braucht." Yasmine M'Barek
"Dieses Buch ist souverän und scharfsinnig, lustig und analytisch, nur eins ist es ganz bestimmt nicht: süß." Theresia Enzensberger
"Ann-Kristin Tlusty gelingt in diesem Essay alles. Die fein gezeichneten Porträts, die großen gesellschaftlichen Linien und der unwiderstehliche Ausblick auf Verhältnisse, in denen Frauen nicht mehr sanft, süß und zart sein müssen, weil die Welt nicht mehr hart, bitter und grob ist." Eva von Redecker
"Dieses Buch verdeutlicht, warum wir einen Feminismus brauchen, dem es um eine Gesellschaft ohne Ausbeutung geht - eine Gesellschaft, in der weibliche Personen sanft, zart und süß und alles zugleich sein können, ohne an dem zerstörerischen Zucker kapitalistischer, vergeschlechtlichter Ordnungszwänge kleben zu bleiben." Seyda Kurt
"Gerade erscheinen ununterbrochen Feminismus-Bücher, so viele, dass man nicht weiß, wo man anfangen soll. Das hier ist jedenfalls absolut lesenswert. Warum ist die Existenz süßer Frauen für den Kapitalismus so komfortabel, wer hat etwas davon und warum wollen Frauen trotzdem so sein? Darüber denkt Ann-Kristin Tlusty nach, klug und präzise." Antonia Baum
"Eine beeindruckende, fundierte und schlüssige Gesellschaftsanalyse." Judith Reinbold, SWR2, 17.01.21
"Man könnte diese Figuren als Stereotypen abtun. Doch Tlusty setzt sie mit philosophischer wie historischer Sensibilität und statistischem Ehrgeiz als Brenngläser ein. So destilliert sie aus ihren Beobachtungen - im privaten Umfeld wie im gesellschaftlichen Kontext - eine Analyse, die Probleme schärfer sichtbar macht." Niklas Elsenbruch, Süddeutsche Zeitung, 30.11.21
"Gekonnt führt die Kulturwissenschaftlerin popkulturelle Phänomene mit wissenschaftlichen Diskursen zusammen ... Sehr erfrischend ist Tlustys Art, Witze einzubauen ... und das selbstkritische Hinterfragen eigener Denkweisen. Die feministische Kritik ist intersektional und schafft es, das nicht wie eine woke Pflicht abzutun ... In den Schilderungen von Tlusty ... ist es herrlich leicht, sich wiederzuerkennen und vor Augen zu führen, dass Feminismus doch noch gebraucht wird." Pia Benthin, Tagesspiegel, 20.10.21
"Tlustys Kritik ist erfrischend und genau das, was der aktuelle Diskurs braucht." Yasmine M'Barek
"Dieses Buch ist souverän und scharfsinnig, lustig und analytisch, nur eins ist es ganz bestimmt nicht: süß." Theresia Enzensberger
"Ann-Kristin Tlusty gelingt in diesem Essay alles. Die fein gezeichneten Porträts, die großen gesellschaftlichen Linien und der unwiderstehliche Ausblick auf Verhältnisse, in denen Frauen nicht mehr sanft, süß und zart sein müssen, weil die Welt nicht mehr hart, bitter und grob ist." Eva von Redecker
"Dieses Buch verdeutlicht, warum wir einen Feminismus brauchen, dem es um eine Gesellschaft ohne Ausbeutung geht - eine Gesellschaft, in der weibliche Personen sanft, zart und süß und alles zugleich sein können, ohne an dem zerstörerischen Zucker kapitalistischer, vergeschlechtlichter Ordnungszwänge kleben zu bleiben." Seyda Kurt
"Gerade erscheinen ununterbrochen Feminismus-Bücher, so viele, dass man nicht weiß, wo man anfangen soll. Das hier ist jedenfalls absolut lesenswert. Warum ist die Existenz süßer Frauen für den Kapitalismus so komfortabel, wer hat etwas davon und warum wollen Frauen trotzdem so sein? Darüber denkt Ann-Kristin Tlusty nach, klug und präzise." Antonia Baum