Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2012 Patrick Roth erzählt die unerhörte Geschichte des Joseph von Nazaret als die eines Zweifelnden, er erzählt von Josephs tiefem Glauben und seinem Ungehorsam wider Gott. Zugleich spürt "SUNRISE" der Möglichkeit eines Neuanfangs nach. Jerusalem im Jahre 70 nach Christus: Römische Truppen drohen die Schutzmauern zu durchbrechen. Die Belagerung der heiligen Stadt bildet den Ausgangspunkt dieses bildmächtigen Romans, dessen Bogen sich bis in die Zeit vor Jesu Geburt spannt. Im Mittelpunkt der Ereignisse steht Joseph, der Mann der Maria, von dem die Evangelien berichten, dass er Träumen gehorchte, als er Frau und Kind annahm. Patrick Roth entwirft ihm ein Leben voller Spannungen, ein Drama zwischen Mensch und dem Numinosen. Dreizehn Jahre nach Jesu Geburt fordert Gott ein äußerstes Opfer von Joseph. "Wo ist da Gerechtigkeit, dass ich's verstünde?" klagt er angesichts des ungründlichen Willens Gottes. Wird Joseph dieses Opfer wirklich auf sich nehmen können? In raffiniert ineinander verwobenen Passagen zwischen Traum und Realität dringt der Roman in Erfahrungsräume vor, in denen vermeintliche Gewissheiten brüchig werden. Patrick Roths Erzählkunst geht von existenziellen Erfahrungen aus und zeugt von einer außergewöhnlichen Sprachkraft. Ein ästhetisches Erlebnis.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.03.2012Schimmernder Dunst über Jesus-County
In Patrick Roths „Sunrise“ wird Joseph von Nazaret zum Verweigerer und Outlaw – und zum großen Traumdeuter
Heilsgeschichten – oder besser: die freundliche Übernahme biblischer Erlösungsphantasien – gehören zum Kerngeschäft der Kunst, gerade dann, wenn die Umwelt sich durch und durch säkularisiert gibt. Von Pasolini bis Pynchon spannt sich ein Bogen an Erweckungserlebnissen, die Ekstase in ein anderes Medium übersetzen: Der eine verfilmt das Matthäusevangelium, der andere lässt langhaarige Surfer jesusgleich über Wellen wandeln. Der deutsch-amerikanische Autor und Regisseur Patrick Roth aber – geboren 1953 in Freiburg, seit 1975 wohnhaft in L.A. – ist der inbrünstigste aller Heilsgeschichtenerzähler. Seit den neunziger Jahren wuchern biblische Legenden in seiner Prosa, die man im besten Sinne zwielichtig nennen könnte; etwas archaisch Predigerhaftes ist darin, aber auch etwas Psychedelisches, wenn diese Stoffe ins Kraut schießen.
„Sunrise“ erzählt die Geschichte des Joseph von Nazaret, wie sie noch nie erzählt wurde, was zum einen an den phantastischen Erlebnissen des Zimmermanns und Jesusziehvaters liegt, zum anderen aber am rhythmischen Dröhnen dieser Sprache. Die Rahmenerzählung spielt im Jerusalem des Jahres 70 nach Christus: Zwei Mitglieder einer urchristlichen Gemeinde sollen die Grabstätte Jesu vor den römischen Besatzern schützen und treffen dabei auf eine alte Ägypterin namens Neith, die Unglaubliches zu berichten hat. Warum sie Josephs Träume bis in die feinsten Verästelungen kennt, wird ganz am Ende deutlich; zunächst aber folgt man den Traumpfaden eines Mannes, der immer wieder schuldlos schuldig wird.
Joseph war vor Maria schon einmal verheiratet; er hatte einen Sohn namens Jesus, der bei einem Sturm im See ertrank. Der Vater, der den Säugling aus dem Boot fallen ließ, tauchte ihm nach, konnte ihn nicht retten – und sah eine ägyptische Unterwasserlandschaft, in der ein schwarzes Meer unter dem Meer quillt. Später rettet er einen ägyptischen Sklaven und gibt ihn in die Obhut seiner Verlobten Maria – die kurz darauf schwanger wird. Hier folgt ein Teil der bekannten Jesusgeschichte, die wiederum markant durchbrochen wird. Joseph soll nämlich wie Abraham den geliebten Sohn schlachten, widersetzt sich aber dem göttlichen Befehl.
Warum quält ihn der alttestamentarische Gott so sehr? „Drachengleich opfergefräßig, ausbruchsbereit, sah er IHN wüten im Innern des Berges.“ Die Verweigerung des Menschenopfers wirkt in „Sunrise“ allerdings nicht wie ein Befreiungsschlag, sondern wie eine unentrinnbare Schuldkette. Wie Patrick Roth diesen Frommen immer noch tiefer nach unten stößt, einen Untoten, einen Outlaw und sogar einen Wiedergänger des Gottessohnes aus ihm macht – das hat einen starken Schlag ins Filmische; wie schon in „Johnny Shines oder Die Wiedererweckung der Toten“, Roths Seelenwestern von 1993, sieht man einen Desperado im Staub kriechen.
Joseph simuliert seinen eigenen Tod – und man schiebt ihm eine zweite Leiche ins Felsengrab dazu. Er rettet sich, fällt in die Hände einer Räuberbande, tötet den Sohn des Anführers, der auch Jesus heißt – und fährt weiter hinab in die Tiefe der Schuldrechnungen. Patrick Roth hat sich in seinen Poetik-Vorlesungen mehrfach auf die Wirkungsmacht der C. G. Jung’schen Archetypen bezogen, und wenn sich in „Sunrise“ die Schuldkreise schließen, hat man den Verdacht, dass sich seine Figuren vor lauter symbolischer Schwerkraft immer nur nach unten, zu den Ahnen, absinken lassen können. Mensch und Gott bleiben ein Leidensgespann; und trotz Josephs Ausscheren steht die Kette der Erzväter am Ende wie ein Mann.
Entscheidend ist dabei der wuchtige Ton, den „Sunrise“ auf fünfhundert Seiten anschlägt: „Da erwachten in ihm die gefiederten Augen des prächtigen Vogels, die er zu sehen hinaufgestiegen. Und er, Joseph, reckte linkshin den Körper gebannt, dass er beim Erscheinen sehe den Vogel und sich ersehe nochmals die Augenpracht. Denn er wünschte sich heimlich und es hungerte Joseph: wiedergesehen zu werden von ihr.“ Manchmal rutscht diese Syntax ins Altertümelnde ab; über lange Strecken wird der kunstvolle Rhythmus aber gehalten. Ist das Überwältigungsprosa, zapft die Literatur hier religiöse Ergriffenheitsreservoirs an? Nein, dafür schlägt die biblische Desperadogeschichte viel zu bizarre Pfade ein: Die literarischen Wucherungen, die den Reiz des Romans ausmachen, führen weit ab vom Wort des lebendigen Gottes.
JUTTA PERSON
Auf bizarren Wegen
münden biblische Legenden
in literarisches Sandalenkino
Patrick Roth
Sunrise. Das Buch Joseph
Roman. Wallstein Verlag, Göttingen 2012. 510 Seiten, 24,90 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
In Patrick Roths „Sunrise“ wird Joseph von Nazaret zum Verweigerer und Outlaw – und zum großen Traumdeuter
Heilsgeschichten – oder besser: die freundliche Übernahme biblischer Erlösungsphantasien – gehören zum Kerngeschäft der Kunst, gerade dann, wenn die Umwelt sich durch und durch säkularisiert gibt. Von Pasolini bis Pynchon spannt sich ein Bogen an Erweckungserlebnissen, die Ekstase in ein anderes Medium übersetzen: Der eine verfilmt das Matthäusevangelium, der andere lässt langhaarige Surfer jesusgleich über Wellen wandeln. Der deutsch-amerikanische Autor und Regisseur Patrick Roth aber – geboren 1953 in Freiburg, seit 1975 wohnhaft in L.A. – ist der inbrünstigste aller Heilsgeschichtenerzähler. Seit den neunziger Jahren wuchern biblische Legenden in seiner Prosa, die man im besten Sinne zwielichtig nennen könnte; etwas archaisch Predigerhaftes ist darin, aber auch etwas Psychedelisches, wenn diese Stoffe ins Kraut schießen.
„Sunrise“ erzählt die Geschichte des Joseph von Nazaret, wie sie noch nie erzählt wurde, was zum einen an den phantastischen Erlebnissen des Zimmermanns und Jesusziehvaters liegt, zum anderen aber am rhythmischen Dröhnen dieser Sprache. Die Rahmenerzählung spielt im Jerusalem des Jahres 70 nach Christus: Zwei Mitglieder einer urchristlichen Gemeinde sollen die Grabstätte Jesu vor den römischen Besatzern schützen und treffen dabei auf eine alte Ägypterin namens Neith, die Unglaubliches zu berichten hat. Warum sie Josephs Träume bis in die feinsten Verästelungen kennt, wird ganz am Ende deutlich; zunächst aber folgt man den Traumpfaden eines Mannes, der immer wieder schuldlos schuldig wird.
Joseph war vor Maria schon einmal verheiratet; er hatte einen Sohn namens Jesus, der bei einem Sturm im See ertrank. Der Vater, der den Säugling aus dem Boot fallen ließ, tauchte ihm nach, konnte ihn nicht retten – und sah eine ägyptische Unterwasserlandschaft, in der ein schwarzes Meer unter dem Meer quillt. Später rettet er einen ägyptischen Sklaven und gibt ihn in die Obhut seiner Verlobten Maria – die kurz darauf schwanger wird. Hier folgt ein Teil der bekannten Jesusgeschichte, die wiederum markant durchbrochen wird. Joseph soll nämlich wie Abraham den geliebten Sohn schlachten, widersetzt sich aber dem göttlichen Befehl.
Warum quält ihn der alttestamentarische Gott so sehr? „Drachengleich opfergefräßig, ausbruchsbereit, sah er IHN wüten im Innern des Berges.“ Die Verweigerung des Menschenopfers wirkt in „Sunrise“ allerdings nicht wie ein Befreiungsschlag, sondern wie eine unentrinnbare Schuldkette. Wie Patrick Roth diesen Frommen immer noch tiefer nach unten stößt, einen Untoten, einen Outlaw und sogar einen Wiedergänger des Gottessohnes aus ihm macht – das hat einen starken Schlag ins Filmische; wie schon in „Johnny Shines oder Die Wiedererweckung der Toten“, Roths Seelenwestern von 1993, sieht man einen Desperado im Staub kriechen.
Joseph simuliert seinen eigenen Tod – und man schiebt ihm eine zweite Leiche ins Felsengrab dazu. Er rettet sich, fällt in die Hände einer Räuberbande, tötet den Sohn des Anführers, der auch Jesus heißt – und fährt weiter hinab in die Tiefe der Schuldrechnungen. Patrick Roth hat sich in seinen Poetik-Vorlesungen mehrfach auf die Wirkungsmacht der C. G. Jung’schen Archetypen bezogen, und wenn sich in „Sunrise“ die Schuldkreise schließen, hat man den Verdacht, dass sich seine Figuren vor lauter symbolischer Schwerkraft immer nur nach unten, zu den Ahnen, absinken lassen können. Mensch und Gott bleiben ein Leidensgespann; und trotz Josephs Ausscheren steht die Kette der Erzväter am Ende wie ein Mann.
Entscheidend ist dabei der wuchtige Ton, den „Sunrise“ auf fünfhundert Seiten anschlägt: „Da erwachten in ihm die gefiederten Augen des prächtigen Vogels, die er zu sehen hinaufgestiegen. Und er, Joseph, reckte linkshin den Körper gebannt, dass er beim Erscheinen sehe den Vogel und sich ersehe nochmals die Augenpracht. Denn er wünschte sich heimlich und es hungerte Joseph: wiedergesehen zu werden von ihr.“ Manchmal rutscht diese Syntax ins Altertümelnde ab; über lange Strecken wird der kunstvolle Rhythmus aber gehalten. Ist das Überwältigungsprosa, zapft die Literatur hier religiöse Ergriffenheitsreservoirs an? Nein, dafür schlägt die biblische Desperadogeschichte viel zu bizarre Pfade ein: Die literarischen Wucherungen, die den Reiz des Romans ausmachen, führen weit ab vom Wort des lebendigen Gottes.
JUTTA PERSON
Auf bizarren Wegen
münden biblische Legenden
in literarisches Sandalenkino
Patrick Roth
Sunrise. Das Buch Joseph
Roman. Wallstein Verlag, Göttingen 2012. 510 Seiten, 24,90 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Dirk Pilz zeigt sich schwer beeindruckt von Patrick Roths Roman "Sunrise", nicht nur wegen des Sujets sondern auch und vor allem wegen seiner Sprache. Ohne Angst vor Pathos und verwinkelter, am Altgriechischen geschulter Syntax, erzählt der Autor die Lebensgeschichte Josephs, des Ziehvaters Jesu, so der Rezensent bewundernd. Er attestiert dem Roman deshalb und wegen seiner suggestiven, filmisch wirkender Sprachbilder eine Sogwirkung, die dem Leser zwar einige "Geduld" abverlangen, dafür aber nie ins hohl Feierliche abdriften, wie er betont. Joseph ist bei Roth ein Zerrissener, Getriebener, der schon mal einen Sohn namens Jesus hatte, der ertrank, erfahren wir. Es geht in diesem Roman nicht um Bibeltreue, sondern um die "Wandlungen von Glaubensgeschichten" und um die Lebensgeschichte eines Verirrten, erklärt Pilz, der noch verrät, dass "Sunrise" für den Deutschen Buchpreis nominiert ist.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.05.2012Nicht das Wissen, nur die Erfahrung läutert
In der Bibel ist Joseph der Mann im Hintergrund, der an der Wiege die Laterne halten darf. Patrick Roth zeigt ihn nun als einen, der Gottes Plan zu durchschauen versucht.
Auf den ersten Blick ist dieser Roman eine Zumutung. Patrick Roth liebt Platon, Pindar, die griechische Syntax, die einen warten lässt auf das Genitivattribut. Er schätzt das damit einhergehende Gefühl einer existentiellen Feierlichkeit, die Abgründe ausleuchtet. Und so ist das, was er jetzt selbst für sein Buch über Joseph, den Ziehvater Jesu, mit diesem hohen Ton, dieser biblischen Sprache und ihren psalmischen, wuchtigen Szenen anstellt, eigentlich gar nicht überraschend. Hat man sich einmal darauf eingelassen, spürt man den radikalen Ernst, der den Stoff trägt. Die Lektüre fordert, überfordert, lässt rätseln und fesselt zunehmend, weil mit jedem Wissen in dieser metaphysisch organisierten Welt ein neuer, spitzer Splitter plaziert wird, mit jeder Antwort eine neue, widerspenstige Disharmonie.
Patrick Roth, 1953 in Freiburg geboren und seit 1975 in Los Angeles lebend, Drehbuchschreiber, Autor von Prosa, Theaterstücken, Hörspielen, ist in der deutschsprachigen Literaturlandschaft ein Solitär. Seine Affinität zu religiösen Stoffen ist vielen der Leser, die etwa sein Buch über Charlie Chaplin liebten, eher suspekt. Nach der Christus-Trilogie "Riverside" (1991), "Johnny Shines" (1993), "Corpus Christi" (1996) macht er jetzt in seinem bisher längsten Roman "Sunrise. Das Buch Joseph" eine biblische Randfigur zum Helden. Joseph kennt man als den Mann im Hintergrund. In der Heiligen Familie spielt er als Nährvater und Beschützer eine Rolle. An der Wiege darf er die Laterne halten. Klaglos verzichtet er nach Kenntnisnahme von Marias Schwangerschaft auf den männlichen Ehrenstandpunkt und die genealogische Fortsetzung seiner Linie. Was die Evangelisten übermitteln, sind seine Träume, kaum Fakten.
Hier setzt der an C. G. Jungs Lehre von der Archetypie alles Geträumten geschulte Patrick Roth an. Er zeigt einen hochmodernen Joseph, der nicht nur fähig ist, Träume zu empfangen und zu erinnern, sondern ihre Bildsprache, ihren schier unmenschlichen Auftrag auszuhalten, sogar in eine Handlung zu überführen. Er hört dem zwölf Jahre alten Jesus geduldig zu, als dieser ihm nach der bekannten Szene im Tempel von einem Traum erzählt. Er hakt nach, spekuliert, lässt Raum. Was für ein zugewandter Vater!
Gerade die Rolle als ahnender Mensch wird für Joseph aber zur eigentlichen Zumutung. Sie fordert ihn als Empathiker, als Zweifelnden, der jede Nuance Angst bis ins Mark spürt. Der Vorgang des Deutens wächst zu einem komplexen Ungetüm mit tausend Köpfen und Stimmen heran. Und so wird der Roman schließlich zu einem Netzwerk aus Zeichen. Gegenstände, die eine ganz eigene Geschichte erzählen, wie das Seil oder das Tuch, spielen eine wichtige leitmotivische Rolle. Das eigentlich Faszinierende aber sind die Räume, die Patrick Roth hier baut und die wir mit Joseph durchtaumeln: brennende Häuser, enge Felsspalten, schier unendliche Wüsten, eine vertrocknete Zisterne, aus der Ähren wachsen. Verbunden ist das mit einer sich stark vermittelnden körperlichen Verfasstheit. Joseph muss sich im Traum krümmen, um am Boden liegende Scherben zu entziffern. Er kriecht, er verstummt, er erblindet. Und sehr oft trägt er schwere Lasten: einen verwundeten Sklaven, der eine wichtige Rolle spielen wird; Maria, für die er den geretteten Sklaven ablegen muss. Joseph ist beladen, an der Wende seines Lebens wie tot, am Ende dieser Odyssee aber leicht wie ein Engel.
Das ist zunächst einmal also eine vertraute biblische Konstellation: Joseph als der bloße Mensch, der Gottes Plan und seine Orakel zu durchschauen versucht. Und Gott, der diesen Menschen bis aufs Messer prüft - keiner kann vom anderen lassen. Roth erzählt also Josephs Individuation unter einem die Transzendenz zulassenden Blickwinkel. Schon das gilt ja in der gegenwärtigen Literatur nicht gerade als Trend. Und natürlich denkt man an einen anderen großen Monolithen der Literaturgeschichte, Thomas Manns "Joseph und seine Brüder" über den anderen Joseph, den jüngsten Sohn Jakobs. Motive überschneiden sich. Und auch Roths Komposition ist als großes Beziehungsgeflecht angelegt. Beide Werke sind als moderne Auslegung von Mythologie zu lesen und verlängern alttestamentarisches Material in die Zukunft. Während aber Thomas Manns Figur mehr Intellektueller ist, wirkt der Rothsche Joseph im innersten Kern zerrieben und durchkreuzt. Um diesen nackten Helden zu spiegeln und vorzuführen, schmückt Roth aus und erfindet. Er verdichtet, beraubt die Bibel, tauscht einfach Namen und bekannte Geschichten aus und lässt sie Joseph zustoßen. So soll er beispielsweise Jesus opfern - wie in der Bibel Abraham seinen Sohn Isaak. Nicht Wissen, sondern Erfahrung läutert hier. Ergibt das Sinn?
Roth, für sein filmisches Erzählen bekannt, mischt alles zu einer archaischen Abenteuergeschichte mit historischen Orten, mit Schnitten, Rückblenden und wechselnd scharfen Perspektiven auf das bisweilen sehr handfeste und blutige Geschehen. Es beginnt in Jerusalem siebzig Jahre nach Christi Geburt. Die Stadt, von römischen Truppen belagert, ist im Ausnahmezustand, jeder seines Nächsten Feind. Hungernde klauben letzte Reste aus den Mündern Verstorbener. Tote säumen die Hänge des Kidrontals. Wir begleiten Männer, die sich in diese irdische Hölle eingeschleust haben, um das Grab Jesu zu suchen und zu schützen. Stattdessen treffen sie auf Neith, eine alte Frau und Weberin. In der Mythologie wird sie mit der Jagd und Wasser in Verbindung gebracht; hier erlebt man sie als begnadete Erzählerin. Wie sie ihre Stimme erhebt, ist von einschüchternder Prägnanz, und was sie zu berichten hat über Joseph, ihren Herrn, ist so ganz anders als alles, was die historische Figur preisgibt.
Neith zufolge hatte Joseph vor Maria schon mal Frau und Sohn, gleichfalls mit Namen Jesus. Bei einem Sturm glitt der damals einjährige Jesus seinem Vater Joseph aus der Hand ins Wasser. Joseph taucht hinterher, und bereits hier beginnt Roths großer Bildersturm, seine steile Hinabfahrt in den Orkus.
Roths rhythmische Sprache ist vergleichbar mit Psalmen. Es scheint, selbst die Syntax hat eine Art Wissen und stellt viel zu früh Informationen bereit, die erst im Blick auf die Gesamtkomposition verständlich werden. Gehalten wird diese Komposition durch Roths beherzten Zugriff auf alles, was auch Filme spannend macht: Raubüberfälle, Gewaltszenen, das Zaudern und Verschmerzen davor und danach. Ein Angriff etwa liest sich dann so: "Aus der Hocke heraus springt er hoch. Und wild drängt er nach hinten. Vorm Herankommenden weicht er, fällt auf den Boden, staucht blind, unterdrückt einen Schrei." Dann zieht es einen wieder weiter, mit Satzkaskaden, alle durch ein "und" miteinander verknüpft, als wären Josephs Erlebnisse zugleich historisch und ewig, als müsste es immer so weitergehen im Zwischentraumreich.
Was also macht Patrick Roth aus Joseph? Womöglich genau das, was Albrecht Koschorke in seinem klugen Buch über "Die Heilige Familie und ihre Folgen" herausarbeitet. Dieser sieht Joseph an der Schnittstelle zwischen Judentum und Christentum: Mit ihm werde die irdische Reihenfolge gekappt und Raum geschaffen für himmlische Genealogien. Außerdem reiße eine bestimmte Form von Lesbarkeit ab "zugunsten der Auferstehung des Sinns. Von nun an werden zentrale Instanzen nur noch in der Form der Doppelung kulturell verfügbar sein: der Vater (Joseph/Gott); der Mann (leiblicher Ausschluss/himmlische Ergießung); der Phallus (als Samen-/als Wortkanal); der Ursprung (durch Blutsverwandtschaft/spirituell)." Bei Roth kommt das alles irgendwie vor. Es zu ergründen bleibt Aufgabe der Literaturwissenschaftler oder Theologen. Für normal sterbliche Leser tritt einem Joseph als der große Aushalter entgegen, dessen Leben mit der Verkündigung umgewälzt wird. Das leuchtet ein und reißt mit.
ANJA HIRSCH.
Patrick Roth: "Sunrise". Das Buch Joseph.
Wallstein Verlag, Göttingen 2012. 510 S., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In der Bibel ist Joseph der Mann im Hintergrund, der an der Wiege die Laterne halten darf. Patrick Roth zeigt ihn nun als einen, der Gottes Plan zu durchschauen versucht.
Auf den ersten Blick ist dieser Roman eine Zumutung. Patrick Roth liebt Platon, Pindar, die griechische Syntax, die einen warten lässt auf das Genitivattribut. Er schätzt das damit einhergehende Gefühl einer existentiellen Feierlichkeit, die Abgründe ausleuchtet. Und so ist das, was er jetzt selbst für sein Buch über Joseph, den Ziehvater Jesu, mit diesem hohen Ton, dieser biblischen Sprache und ihren psalmischen, wuchtigen Szenen anstellt, eigentlich gar nicht überraschend. Hat man sich einmal darauf eingelassen, spürt man den radikalen Ernst, der den Stoff trägt. Die Lektüre fordert, überfordert, lässt rätseln und fesselt zunehmend, weil mit jedem Wissen in dieser metaphysisch organisierten Welt ein neuer, spitzer Splitter plaziert wird, mit jeder Antwort eine neue, widerspenstige Disharmonie.
Patrick Roth, 1953 in Freiburg geboren und seit 1975 in Los Angeles lebend, Drehbuchschreiber, Autor von Prosa, Theaterstücken, Hörspielen, ist in der deutschsprachigen Literaturlandschaft ein Solitär. Seine Affinität zu religiösen Stoffen ist vielen der Leser, die etwa sein Buch über Charlie Chaplin liebten, eher suspekt. Nach der Christus-Trilogie "Riverside" (1991), "Johnny Shines" (1993), "Corpus Christi" (1996) macht er jetzt in seinem bisher längsten Roman "Sunrise. Das Buch Joseph" eine biblische Randfigur zum Helden. Joseph kennt man als den Mann im Hintergrund. In der Heiligen Familie spielt er als Nährvater und Beschützer eine Rolle. An der Wiege darf er die Laterne halten. Klaglos verzichtet er nach Kenntnisnahme von Marias Schwangerschaft auf den männlichen Ehrenstandpunkt und die genealogische Fortsetzung seiner Linie. Was die Evangelisten übermitteln, sind seine Träume, kaum Fakten.
Hier setzt der an C. G. Jungs Lehre von der Archetypie alles Geträumten geschulte Patrick Roth an. Er zeigt einen hochmodernen Joseph, der nicht nur fähig ist, Träume zu empfangen und zu erinnern, sondern ihre Bildsprache, ihren schier unmenschlichen Auftrag auszuhalten, sogar in eine Handlung zu überführen. Er hört dem zwölf Jahre alten Jesus geduldig zu, als dieser ihm nach der bekannten Szene im Tempel von einem Traum erzählt. Er hakt nach, spekuliert, lässt Raum. Was für ein zugewandter Vater!
Gerade die Rolle als ahnender Mensch wird für Joseph aber zur eigentlichen Zumutung. Sie fordert ihn als Empathiker, als Zweifelnden, der jede Nuance Angst bis ins Mark spürt. Der Vorgang des Deutens wächst zu einem komplexen Ungetüm mit tausend Köpfen und Stimmen heran. Und so wird der Roman schließlich zu einem Netzwerk aus Zeichen. Gegenstände, die eine ganz eigene Geschichte erzählen, wie das Seil oder das Tuch, spielen eine wichtige leitmotivische Rolle. Das eigentlich Faszinierende aber sind die Räume, die Patrick Roth hier baut und die wir mit Joseph durchtaumeln: brennende Häuser, enge Felsspalten, schier unendliche Wüsten, eine vertrocknete Zisterne, aus der Ähren wachsen. Verbunden ist das mit einer sich stark vermittelnden körperlichen Verfasstheit. Joseph muss sich im Traum krümmen, um am Boden liegende Scherben zu entziffern. Er kriecht, er verstummt, er erblindet. Und sehr oft trägt er schwere Lasten: einen verwundeten Sklaven, der eine wichtige Rolle spielen wird; Maria, für die er den geretteten Sklaven ablegen muss. Joseph ist beladen, an der Wende seines Lebens wie tot, am Ende dieser Odyssee aber leicht wie ein Engel.
Das ist zunächst einmal also eine vertraute biblische Konstellation: Joseph als der bloße Mensch, der Gottes Plan und seine Orakel zu durchschauen versucht. Und Gott, der diesen Menschen bis aufs Messer prüft - keiner kann vom anderen lassen. Roth erzählt also Josephs Individuation unter einem die Transzendenz zulassenden Blickwinkel. Schon das gilt ja in der gegenwärtigen Literatur nicht gerade als Trend. Und natürlich denkt man an einen anderen großen Monolithen der Literaturgeschichte, Thomas Manns "Joseph und seine Brüder" über den anderen Joseph, den jüngsten Sohn Jakobs. Motive überschneiden sich. Und auch Roths Komposition ist als großes Beziehungsgeflecht angelegt. Beide Werke sind als moderne Auslegung von Mythologie zu lesen und verlängern alttestamentarisches Material in die Zukunft. Während aber Thomas Manns Figur mehr Intellektueller ist, wirkt der Rothsche Joseph im innersten Kern zerrieben und durchkreuzt. Um diesen nackten Helden zu spiegeln und vorzuführen, schmückt Roth aus und erfindet. Er verdichtet, beraubt die Bibel, tauscht einfach Namen und bekannte Geschichten aus und lässt sie Joseph zustoßen. So soll er beispielsweise Jesus opfern - wie in der Bibel Abraham seinen Sohn Isaak. Nicht Wissen, sondern Erfahrung läutert hier. Ergibt das Sinn?
Roth, für sein filmisches Erzählen bekannt, mischt alles zu einer archaischen Abenteuergeschichte mit historischen Orten, mit Schnitten, Rückblenden und wechselnd scharfen Perspektiven auf das bisweilen sehr handfeste und blutige Geschehen. Es beginnt in Jerusalem siebzig Jahre nach Christi Geburt. Die Stadt, von römischen Truppen belagert, ist im Ausnahmezustand, jeder seines Nächsten Feind. Hungernde klauben letzte Reste aus den Mündern Verstorbener. Tote säumen die Hänge des Kidrontals. Wir begleiten Männer, die sich in diese irdische Hölle eingeschleust haben, um das Grab Jesu zu suchen und zu schützen. Stattdessen treffen sie auf Neith, eine alte Frau und Weberin. In der Mythologie wird sie mit der Jagd und Wasser in Verbindung gebracht; hier erlebt man sie als begnadete Erzählerin. Wie sie ihre Stimme erhebt, ist von einschüchternder Prägnanz, und was sie zu berichten hat über Joseph, ihren Herrn, ist so ganz anders als alles, was die historische Figur preisgibt.
Neith zufolge hatte Joseph vor Maria schon mal Frau und Sohn, gleichfalls mit Namen Jesus. Bei einem Sturm glitt der damals einjährige Jesus seinem Vater Joseph aus der Hand ins Wasser. Joseph taucht hinterher, und bereits hier beginnt Roths großer Bildersturm, seine steile Hinabfahrt in den Orkus.
Roths rhythmische Sprache ist vergleichbar mit Psalmen. Es scheint, selbst die Syntax hat eine Art Wissen und stellt viel zu früh Informationen bereit, die erst im Blick auf die Gesamtkomposition verständlich werden. Gehalten wird diese Komposition durch Roths beherzten Zugriff auf alles, was auch Filme spannend macht: Raubüberfälle, Gewaltszenen, das Zaudern und Verschmerzen davor und danach. Ein Angriff etwa liest sich dann so: "Aus der Hocke heraus springt er hoch. Und wild drängt er nach hinten. Vorm Herankommenden weicht er, fällt auf den Boden, staucht blind, unterdrückt einen Schrei." Dann zieht es einen wieder weiter, mit Satzkaskaden, alle durch ein "und" miteinander verknüpft, als wären Josephs Erlebnisse zugleich historisch und ewig, als müsste es immer so weitergehen im Zwischentraumreich.
Was also macht Patrick Roth aus Joseph? Womöglich genau das, was Albrecht Koschorke in seinem klugen Buch über "Die Heilige Familie und ihre Folgen" herausarbeitet. Dieser sieht Joseph an der Schnittstelle zwischen Judentum und Christentum: Mit ihm werde die irdische Reihenfolge gekappt und Raum geschaffen für himmlische Genealogien. Außerdem reiße eine bestimmte Form von Lesbarkeit ab "zugunsten der Auferstehung des Sinns. Von nun an werden zentrale Instanzen nur noch in der Form der Doppelung kulturell verfügbar sein: der Vater (Joseph/Gott); der Mann (leiblicher Ausschluss/himmlische Ergießung); der Phallus (als Samen-/als Wortkanal); der Ursprung (durch Blutsverwandtschaft/spirituell)." Bei Roth kommt das alles irgendwie vor. Es zu ergründen bleibt Aufgabe der Literaturwissenschaftler oder Theologen. Für normal sterbliche Leser tritt einem Joseph als der große Aushalter entgegen, dessen Leben mit der Verkündigung umgewälzt wird. Das leuchtet ein und reißt mit.
ANJA HIRSCH.
Patrick Roth: "Sunrise". Das Buch Joseph.
Wallstein Verlag, Göttingen 2012. 510 S., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Reine Literatur, lebendiges Leben, phantastisch und existentiell.« (Carsten Hueck, Deutschlandradio Radiofeuilleton, 28.05.2012) »Ein spannender Plot nach allen Regeln orientalischer Erzählkunst. Patrick Roths neuer Roman fügt der Bibel neue Geschichten hinzu.« (Eckhard Nordhofen, Die ZEIT, 06.06.2012) »Die Lektüre fordert, überfordert, lässt rätseln und fesselt zunehmend« (Anja Hirsch, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.05.2012) »Mit über 500 Seiten repräsentiert »Sunrise« in jeder Hinsicht das Opus magnum Roths.« (Uwe Schütte, Wiener Zeitung, 26./27.05. 2012) »SUNRISE erzählt die Geschichte des Joseph von Nazaret, wie sie noch nie erzählt wurde.« (Jutta Person, Süddeutsche Zeitung, 13.03.2012)
'Die Literatur darf das Erhabene und das Pathos reiten wie ein Sternenross - wenn sie kann. Und Roth kann es wie niemand sonst.'Hubert Winkels, Die ZEIT