Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, HR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Kat Kaufmanns Debüt "Superposition" erzählt von einer russischstämmigen Musikerin in Berlin, die eine Heimat sucht und nicht findet.
Authentizität ist nicht mehr nur das Zauberwort der Stunde, sondern schon seit geraumer Zeit ein Pfund, mit dem auf dem Buchmarkt gewuchert wird, gerade dort, wo es um die Entdeckung des literarischen Nachwuchses geht. Wenn schon nicht die große literarische Form, dann doch von den Jungen bitte wenigstens etwas vom Geruch der Straße. Oder noch besser: vom Geschmack der Drogen, die auf engen Toiletten konsumiert werden, oder vom Schweiß, der an den Wänden der Clubs hinunterrinnt, in die der gemeine Leser selbst sich bedauerlicherweise nicht mehr vorwagt. Eine Prise Schlüsselloch-Exotismus, verquirlt mit einem Schlag Provokation (dass sich so etwas überhaupt Literatur nennen darf!). Das Dumme ist nur, dass diese Welt, die in der Regel in Berlin ansässig ist, sich hinter all der propagierten Abgründigkeit oft als sterbenslangweilig entpuppt.
Das soeben mit dem "aspekte"-Literaturpreis ausgezeichnete Romandebüt der 1981 in St. Petersburg geborenen Kat Kaufmann, deren Kurzvita darüber informiert, dass sie mittlerweile als Schriftstellerin, Komponistin und Fotografin in Berlin lebt, mag sich dem ersten Anschein nach wunderbar diesem Authentizitätspostulat beugen. Izy Lewin ist sechsundzwanzig, spielt in einer Jazzband, gerade hat sie ihre erste Auftragsarbeit für ein Theater komponiert und muss sich nun mit den tumben Annäherungen des feisten Regisseurs herumschlagen. Sie ist, versteht sich, umwerfend schön, obwohl sie sich meist nur in ausgeleierte Jogginghosen und halbzerrissene T-Shirts kleidet, sie geht auch schon mal mit einer Frau ins Bett, etwa mit ihrer noch viel verführerischen Freundin Fili, und sie trinkt Unmengen hartes Zeug. Auf der ersten Party, auf der wir sie treffen, katapultiert sie sich innerhalb kürzester Zeit mit Wodka in die Besinnungslosigkeit.
Hinter diesem nicht lediglich symbolisch vollzogenen Selbstzerstörungsversuch, der kaum ihr einziger sein wird, steckt mehr als das Unglück über die nur zum Teil erfüllte Liebe zu Timur Hertz, obgleich diese nur sporadisch befriedigte Leidenschaft sie beständig beschäftigt. Der begehrenswerte junge Mann mit dem sprechenden Namen beschert Izy zwar Bekenntnisse in Sachen Seelenverwandtschaft und den vermeintlich einzig wahren Sex. Seine Beziehung zu Astrid, die Izy und mit ihr der Leser sich als eine kaltherzige, herrische und spießige Person vorstellt, will er aber dennoch nicht aufgeben.
"Wir sind ein Blut", schreibt Izy am Ende ihrer Wodka-Orgie an Timur. In dieser Nachricht, so pathetisch und wodkaselig sie klingen mag, offenbart sich der Kern von Izys Sehnsucht, die eben nicht nur die nach dem Ausbruch aus unspezifischem Weltschmerz oder selbstverschuldeter Sinnleere ist.
"Wenn du hier wärst", so und ähnlich denkt sie immer wieder über Timur, "würde der Wodka anders schmecken. Nach Steppe, und Tundra, und Taiga, und Märchen am Ofen, und nach zu Hause. Wenn du da bist, ist es, als wäre es portabel - überall, wo du bist, ist es zu Hause."
Izys Eltern sind russische Juden, die mit ihr als Kind nach Deutschland gekommen sind. Die quälenden Sprachbarrieren der ersten Monate, die Schikanen durch Mitschüler werden als bruchstückhafte Erinnerungen hochgespült. Timur hat dieselben Wurzeln wie Izy, blickt auf eine ähnliche Geschichte. Deshalb wird der Wunsch, mit ihm zusammenzugehören, nicht nur zur fixen Idee, sondern wahrhaft zu einer Vorstellung von Erlösung.
Nun könnten Skeptiker Kat Kaufmann auch in dieser Hinsicht vorwerfen, dass Geschichten über Menschen mit Migrationshintergrund, umso mehr, wenn sie von Autoren mit ebendiesem Hintergrund erzählt werden, ebenfalls Konjunktur haben. "VORDERGRUND" würde die Izy an dieser Stelle zum einen brüllen, "MigrationsVOR-DER-GRUND!". Zudem aber würden Vorbehalte dieser Art einigermaßen plump über die melancholischen Tiefen von "Superposition" hinwegtrampeln. Eine Melancholie, die auf einen tatsächlichen Verlust zurückgeht und die ihre Gründe, wenngleich nicht beständig reflektiert, aber doch immer wieder hinterfragt, ohne sich darin zu aalen.
"Warum definiert dich deine Herkunft so sehr, dass du - obgleich da niemand mehr ist - nicht loslassen kannst? Vielleicht ja genau deshalb. Weil niemand mehr da ist." Dabei leben Izys Eltern, sogar ihre sieche Großmutter, ebenfalls in Berlin, man trifft sich, isst und redet zusammen - wie Izy es beschreibt - nach russischer Sitte. Die ganze Nacht hindurch werden die Köstlichkeiten verzehrt, die ihre Mutter zubereitet hat, die keine Müdigkeit kennt in dieser Hinsicht. Die deutsche oder vermeintlich typisch deutsche Lebensweise, das Maßvolle, Reglementierte, ist für Izys immer noch das andere, in das sie nicht hineinpasst, auch gar nicht hineinpassen will, weil sie sich dort nicht aufgehoben fühlt. Izys Sehnsucht nach Verschmelzung rührt aus dem Verlust einer Heimat, der gleichbedeutend ist mit dem Verlust einer basalen Sicherheit: der des Dazugehörens.
Als Izy von einem offenbar geistesgestörten Mann in der S-Bahn angeschossen wird und verletzt ins Krankenhaus gebracht wird, mutet diese brutale Zäsur einerseits wie die Bestätigung des Empfindens an, in dieser Gesellschaft nicht aufgehoben zu sein. Zugleich scheint sich die Tür in Richtung Erlösung, zumindest im Kleinen, einen Spalt breit zu öffnen. Izy schleicht sich, wenngleich unter Schmerzen, aus dem Krankenhaus, weil ihr Freund Len ihre engsten Freunde, darunter auch Timur, zu Izys Ehren in die zwischenzeitlich leerstehende Villa eines Professors eingeladen hat. Die Freunde vereint, auch das ist ein oft formulierter Wunsch der jungen Frau.
Wie sie aber nun da miteinander sitzen, essen, trinken, teure Zigarren rauchen, relativ angestrengt oberflächliches Zeug plappern, Timur schließlich auch noch vor Izys Augen mit deren schöner Freundin schläft, ist einigermaßen ernüchternd und nicht viel mehr als ein Twenty-Something-Szenario, wie man es schon unzählige Male gelesen hat. Ein Szenario, das schwerwiegend sein will und doch nicht viel mehr ist als Pose. Das soll also nun die Geborgenheit sein, die Izy ersehnt hat?
Die Doppelbödigkeit von "Superposition" aber besteht darin, dass dieses Treffen, wie nach und nach klar zu werden scheint, gar nicht stattfindet. Die Flucht aus dem Krankenhaus scheint der Beginn eines Traumes, und zumindest in der Schwebe bleibt, ob es sich um einen schönen oder nicht doch um einen einigermaßen fatalen, weil hellsichtigen Traum handelt. Ähnlich ambivalent bleibt das eigentliche Ende des Romans, das an dieser Stelle nicht verraten werden soll, obgleich es so fernliegend gar nicht ist.
Gerade in den Passagen, in denen Kat Kaufmann ihre Szenen sukzessive ins Surreale hinüberwechseln lässt, ohne dass man es sofort bemerken mag, liegt die Stärke dieses Debüts, das eben nicht nur authentisch, hart und gegenwärtig sein will, sondern dem es gelingt, die Innerlichkeit der Protagonistin immer wieder in Bilder zu überführen, die in einer ganz eigenen, poetischen Tonlage gehalten sind. Zugleich gründen diese Bilder auf einer wesentlichen Erfahrung, der wir derzeit allenthalben begegnen, ohne sie womöglich immer ganz zu verstehen. So eigenwillig ihre Protagonistin auch sein mag, Kat Kaufmanns Roman trägt dennoch dazu bei, sich dem Verständnis dieser Erfahrung ein Stück weit anzunähern. Das entschädigt dann auch für das Geplapper drum herum.
WIEBKE POROMBKA
Kat Kaufmann: "Superposition". Roman.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2015. 272 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH