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Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Zwischen alten NS-Netzwerken und linken Befreiungskämpfern: Karin Harrasser spürt transatlantischen Verbindungen in den Lebensgeschichten von Hans und Monika Ertl nach.
Am Morgen des 1. April 1971 erschoss eine junge Frau den bolivianischen Generalkonsul Roberto Quintanilla in seinem Hamburger Büro. Bei einem Handgemenge mit dessen Gattin verlor die Täterin ihre Perücke, ihre Handtasche und den Revolver, konnte aber entkommen. Die Polizei fand am Tatort einen Zettel mit den Worten "Sieg oder Tod!". Das war die Parole der linken bolivianischen Guerilla-Gruppe ELN (Ejército de Liberación Nacional/Nationale Befreiungsarmee). Die Waffe gehörte, wie sich bald herausstellte, dem italienischen Millionär, Verleger und Linksextremisten Giangiacomo Feltrinelli. Wer den Mord begangen hatte, wurde nie mit letzter Gewissheit aufgeklärt, aber alles deutet auf die Deutsch-Bolivianerin Monika Ertl. Die Tochter des Bergsteigers und Dokumentarfilmers Hans Ertl kam zwei Jahre später bei einem Feuergefecht mit Sicherheitskräften in La Paz ums Leben.
Monika Ertl hatte starke politische und persönliche Motive für die Tat. Quintanilla war vor seinem Konsulatsposten als Geheimdienstchef für die Folter und Hinrichtung etlicher linker Untergrundkämpfer verantwortlich gewesen. Auf sein Konto ging auch die Ermordung des verwundet gefangen genommenen ELN-Chefs Ernesto "Che" Guevara, dem er nach seinem Tod die Hände abschneiden ließ, um seine Identität zu belegen. Monika Ertl, die sich zuvor in den gehobenen Kreisen der deutschen Kolonie in Bolivien und Chile bewegt hatte, schloss sich nach Guevaras Tod dem ELN an und begann eine Liebesbeziehung mit dessen Nachfolger Inti Peredo. 1969 wurde auch er unter Quintanillas Leitung festgenommen, gefoltert und ermordet.
Monika Ertls Leben und das Attentat in Hamburg sind in den vergangenen Jahrzehnten mehrfach dargestellt worden; die gründlichste Recherche bietet ein vor dreizehn Jahren erschienenes Buch des Journalisten Jürgen Schreiber. Das Buch der Kulturwissenschaftlerin Karin Harrasser bringt keine neuen Fakten, die die noch bestehenden Lücken füllen. Das ist allerdings auch nicht das Ziel der Autorin. Sie möchte stattdessen anhand der Lebensgeschichten von Monika und Hans Ertl die transatlantischen Netzwerke ausleuchten, die auf der rechten wie der linken Seite des politischen Spektrums zwischen Europa, vor allem Deutschland, und Lateinamerika bestanden, und zudem herausarbeiten, welchen Beitrag Frauen zu den Aufständen um 1968 leisteten.
In der Familie Ertl lassen sich die Beziehungen, die in jenen Jahren zwischen den politischen Polen, den Geschlechtern und den Generationen bestanden, wie unter einem Brennglas studieren. Hans Ertl, der nach dem Zweiten Weltkrieg nach Bolivien auswanderte und dort später eine Hazienda betrieb, war als Kameramann Leni Riefenstahls und Filmer im Dienst der Wehrmacht zwar kein Nationalsozialist gewesen, wohl aber Nutznießer und propagandistischer Helfer des Regimes. Der von ihm verachteten Bundesrepublik warf er vor, ihm die schuldige Anerkennung als Filmkünstler vorzuenthalten. Ertl drehte in den Fünfzigerjahren dokumentarische und semidokumentarische Filme im südamerikanischen Dschungel. "Surazo", den Titel seines letzten, vor der Fertigstellung verloren gegangenen Films, hat Harrasser für ihr Buch übernommen: Es ist der Name eines kalten Südwindes, der hier zugleich für die mentale Kälte stehen soll, die Hans Ertls Lebensführung bestimmte.
Monika, Ertls Lieblingstochter, begleitete ihren Vater auf seinen Urwaldexpeditionen und lernte dort vieles, was ihr später im Untergrundkampf nützte. Dazu gehörte, dass sie schießen konnte "wie ein Kerl", wie ihr Vater stolz bemerkte. Anhand der Selbstzeugnisse und Filme Hans Ertls und von Interviews mit Menschen, die ihn kannten, gelingt Harrasser ein vielschichtiges Porträt dieses Mannes, dessen Filme zwischen großartigen Naturaufnahmen und archaisierendem Ethnokitsch oszillieren. Ertl wird hier kenntlich als eine Art identitärer Hippie, eine Kreuzung aus Abenteurer, Freigeist, Sonderling und Paranoiker mit einem Hang zur Gewalt. Zu seinem weitgespannten Bekanntenkreis in der deutschen Kolonie gehörten auch NS-Verbrecher wie der Gestapo-Chef von Lyon Klaus Barbie, der sich in Bolivien als "Altmann" tarnte.
"Onkel Klaus", wie die kleine Monika ihn nannte, betätigte sich dort als Berater rechter Militärregierungen und Mittelsmann zu Drogenkartellen und Waffenhändlern. Ertls freundschaftlich verbundener Nachbar war der bolivianische Diktator Hugo Banzer. Zu den erhellenden Hintergrundinformationen, die Harrasser liefert, gehört, dass Ertls Filme mit ihrer Idealisierung der "urwüchsigen" indigenen Kulturen durchaus in das Programm von Banzer und anderen rechten Regierungen passten. In Bolivien waren sie es, die sich zuerst für den Erhalt indianischer Traditionen einsetzten, nicht die linken Parteien, die sich auf Arbeiterrechte und Verstaatlichung konzentrierten. Eine starke Verknüpfung indigener Identitätspolitik mit sozialistischer Programmatik fand erst während der Präsidentschaft von Evo Morales statt.
Verglichen mit ihrem Vater bleibt Monika Ertl in Harrassers Darstellung blass, was vor allem daran liegt, dass die Quellen weniger reichhaltig sind. Neben Monikas Auftritten vor der Kamera ihres Vaters und einer Reihe von Fotos handelt es sich vor allem um Zeugnisse ihrer Geschwister und Freunde, unter ihnen Régis Debray, der Monika Ertl in seinem Roman "Ein Leben für ein Leben" porträtierte und überhöhte. Unter den wenigen Selbstzeugnissen sind einige Gedichte, in denen Monika Ertl ihrem ermordeten Geliebten Inti Peredo christusähnliche Züge verleiht. Es sind solche Dokumente und Ertls tiefe Religiosität, die frühere Autoren veranlassten, in ihrem Partisanenkampf vor allem den Ausfluss einer persönlichen Passion und schwärmerischer Erlösungshoffnungen zu sehen.
Harrasser kritisiert das als männlich verzerrten Blick, der das Engagement Monika Ertls, aber auch anderer Guerilleras entpolitisiert und auf ein Stereotyp weiblicher Emotionalität reduziert. Diesem Bild setzt sie allerdings keine historischen Fakten entgegen, sondern fiktive Szenen. Eingeleitet durch Formulierungen wie "Ich stelle mir vor, dass . . . ", "Warum sollten nicht . . . ?", Gut möglich, dass . . . ", stellt sich die Autorin Monika Ertl und ihre Genossinnen bei politischen Diskussionen und Aktivitäten vor. Das geht einher mit einem betont subjektiven Stil, der das Buch grundiert und des Öfteren in Selbstbespiegelungen mündet.
Ein anderes Problem des Buchs liegt in seiner Struktur. Harrasser montiert reportageartige Reiseberichte und historische Informationen, Gesprächsausschnitte, eigene Kindheitserinnerungen, Filmbeschreibungen und politische Reflexionen und springt zwischen Zeiten, Orten und Perspektiven hin und her. Dem liegt offenbar die Vorstellung zugrunde, man müsse die Illusion historischer Objektivität dadurch zerstören, dass man die Heterogenität der Fakten und die Vielfalt der Blickwinkel nicht nur offenlegt, sondern auch in einer zersplitterten Darstellung spiegelt. Darauf deutet jedenfalls Harrassers Anmerkung: "Die Tektoniken der Verwerfungen des 20. Jahrhunderts lassen sich nicht im Überblick sehen." Dem Leser beschert das eine Lektüre, die zwar abwechslungsreich ist, aber mühsam für jeden, der Zusammenhänge nachvollziehen und Prozesse verstehen möchte.
Dass sie vielleicht "zu viele Geschichten mit offenem Ende aufgestapelt" habe, räumt die Autorin am Ende des Buches selbst ein. Zugleich bleibt aber eines ihrer zentralen Themen - die Verbindungen zwischen den Linken Europas und Lateinamerikas - unterbelichtet. Kaum eine Rolle spielt die Europa-Reise, die Monika Ertl Jürgen Schreibers Recherchen zufolge 1968 unternahm und die sie in Deutschland in Kontakt mit linken Kommunarden und Apo-Vertretern brachte. Dabei scheint es, dass ihr Entschluss, in ihrer Heimat den Kampf gegen Unterdrückung und soziale Ungerechtigkeit aufzunehmen, hier ideologisch unterfüttert wurde, bevor sie im Jahr darauf nach Bolivien zurückkehrte und in den Untergrund ging.
Man fragt sich, wie die transatlantischen Begegnungen eigentlich verliefen zwischen denen, die wie Monika Ertl gegen einen real existierenden Faschismus kämpften, und denen, die ihn herbeifantasierten, wie viele Vertreter der bundesdeutschen 68er-Bewegung. Und was besagte es andererseits über die Neue Linke in Westeuropa und ihr politisches Verständnis von Südamerika, dass sie in "Che" einen Stalin-Verehrer verehrte, der nach der kubanischen Revolution Hunderte von tatsächlichen oder vermeintlichen Feinden hinrichten oder in Arbeitslager einweisen ließ? Das Verdienst des Buches liegt nicht darin, dass es darauf Antworten gibt, sondern dass seine Lektüre solche Fragen provoziert. Die Geschichte von Hans und Monika Ertl und die vielen Geschichten, mit denen sie verwoben ist, sind noch nicht zu Ende erzählt. WOLFGANG KRISCHKE.
Karin Harrasser: "Surazo". Monika und Hans Ertl: Eine deutsche Geschichte in Bolivien.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2022. 270 S., Abb., geb., 26,- Euro.
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