Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, HR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Mehr Wohlstand durch Minuswachstum: Kohei Saito legt sich den späten Marx als Theoretiker eines ökologisch unumgänglichen Systemwandels zurecht.
Der Triumph von Demokratie und Kapitalismus, von dem viele nach dem Zusammenbruch des Sowjetsystems gemeint hatten, er sei irreversibel, ist in die Jahre gekommen - nicht nur, weil das chinesische System im "globalen Süden" inzwischen eine größere Attraktivität besitzt als Demokratie und Marktwirtschaft, sondern auch, weil in den westlichen Demokratien selbst die Anzahl ihrer Skeptiker und Gegner im steten Wachsen begriffen ist und so mancher dem kapitalistischen System nicht mehr zutraut, Lösungen für die dringlichsten Herausforderungen zu bieten. Das Problem der Skeptiker und Gegner von Demokratie und Kapitalismus ist freilich, dass sie keine überzeugenden Alternativen anzubieten haben und deswegen im Bannkreis des Kritisierten verbleiben: Wie soll die Erderhitzung ohne ein Ende des Wirtschaftswachstums begrenzt werden? Und wie kann demokratische Zustimmung zu Wirtschaftsschrumpfung erlangt werden, wenn diese mit gravierenden Wohlstandseinbußen für einen Großteil der Bevölkerung verbunden ist? Das Spektrum der Antworten reicht von der Herrschaft ökologisch aufgeklärter Eliten bis zur Vorstellung, durch die Forcierung technologischer Entwicklungen doch noch Chancen zur Verbindung von Wohlstandssteigerung und Ressourcenschonung zu bekommen.
Der japanische Philosoph Kohei Saito hat sich die Vorschläge zu einer Rettung der Natur und der Menschheit vorgenommen und deren innere Widersprüche herausgearbeitet. Mit der Darlegung (oder auch Konstruktion) von Widersprüchen hat sich Saito, er versteht sich selbst als Marxist, ganz in die marxsche Tradition gestellt, wonach dem äußeren Anschein nach stabile Systeme schließlich daran zugrunde gehen, dass sich in ihrem Innern antagonistische Kräfte entwickeln, die das System sprengen und eine neue Ordnung schaffen. Marx zufolge war das der Gegensatz von Kapital und Arbeit; Saito setzt an die Stelle dieses soziopolitischen Gegensatzes die Naturschranke, die sich in der Begrenztheit der Rohstoffe sowie dem infolge Erderhitzung Unbewohnbarwerden ganzer Regionen zeigt. Die Kraft, die vonnöten ist, um diesen Widerspruch in einen politischen Konflikt zu verwandeln, identifiziert er in den diversen Ökologiebewegungen und dem "globalen Süden", der sich gegen seine Ausplünderung und Nutzung als Sammelplatz von Schadstoffen zu wehren beginnt.
So weit, so wenig überraschend. Wie aber soll aus der Summierung der Unzufriedenen und von CO2-Emissionen Bedrohten eine politische Bewegung werden, die in der Lage ist, den Kapitalismus zu stürzen und ihn durch eine gänzlich andere soziale und wirtschaftliche Ordnung zu ersetzen? Um das zu erklären, bringt Saito eine neue Sicht auf Marx und seine Theorie ins Spiel. Dieser neu interpretierte Marx ist das eigentliche Gelenkstück seines Buches, sozusagen die Gewähr dafür, dass aus den im ersten Teil des Buchs ob ihrer Widersprüchlichkeit kritisierten Theorien einer ökologisch-ökonomischen Wende am Schluss ein Konzept wird, das die Perspektive auf den "Systemsturz" eröffnet und diesen als ebenso erforderlich wie politisch möglich darstellt.
Das Problem dieser "Neuinterpretation" der marxschen Theorie ist jedoch, dass Saito aus verstreuten Notizen, einzelnen Gedanken und dem Umstand, dass Marx die Weiterarbeit am "Kapital", seinem Hauptwerk, nach Publikation des ersten Bandes nur noch dilatorisch betrieb, eine Kehrtwende des späten Marx konstruiert, die es so nicht gegeben hat. Es ist eher ein Hineinprojizieren gegenwärtiger Fragen in die Arbeiten des späten Marx als die Entdeckung einer Neuausrichtung der Theorie durch diesen selbst. Saito hat einige Exzerpte von Marx, an deren Edition er mitgearbeitet hat, als fundamentale Wende von Marx' Denken überinterpretiert.
Marx hatte sich nach der intensiven Beschäftigung mit ökonomischen Theorien einigen ethnographischen Schriften zugewandt, unter anderem auch Georg von Maurers "Geschichte der Dorfverfassung in Deutschland", und war dabei auch auf das Institut der Allmende gestoßen, des von der Gemeinschaft kollektiv genutzten Bodens, das im Prozess der "ursprünglichen Akkumulation" in Privateigentum überführt worden war. Darauf nahm Marx auch Bezug, als er Wera Sassulitsch antwortete, die ihn gefragt hatte, ob in Russland ein Übergang von der Dorfgemeinde in die sozialistische Gesellschaft ohne kapitalistisches Zwischenstadium möglich sei. Marx wollte das in seiner Antwort nicht ausschließen, blieb aber insgesamt sehr zurückhaltend: Er schrieb mehrere Fassungen eines Antwortbriefes und schickte dann die vorsichtigste von ihnen ab.
Von einer theoretischen Wende, in deren Verlauf er vom Progressisten zum Anhänger einer Rückorientierung auf vergangene Wirtschaftsverfassungen geworden wäre, kann keine Rede sein. Genau das aber behauptet Saito und stützt darauf seine gesamte Theorie des "degrowing", der Vorstellung, durch einen Rückbau der Wirtschaftstätigkeit die Probleme der Naturübernutzung lösen zu können, ohne dabei auf die demokratische Unterstützung einer Mehrheit der Menschen verzichten zu müssen - nicht zuletzt deswegen, weil nach dem Ende des Kapitalismus als einer, wie er meint, an bedingungslosem Wachstum ausgerichteten Wirtschaftsverfassung die Produktion unnötiger und unnützer Statusgüter entfalle und die Menschen sehr viel mehr Zeit für die freie Gestaltung ihres Lebens hätten. Mehr Wohlstand durch Minuswachstum.
Träfe Saitos Marx-Interpretation zu, wäre Marx in den letzten Jahren seines Lebens zum Konservativen geworden, der sich jedoch nicht traute, das offen einzugestehen, und deswegen die Folgebände des "Kapitals" nicht fertigstellte. Das ist eine Überinterpretation von Marx' ethnographischem Interesse, die durch die Quellenlage auch der Neuedition von Marx' Werk nicht gedeckt ist. Und gegen Saitos Gesamtkonzeption ist geltend zu machen, dass sie mit allzu harmonischen Antworten auf die durchaus divergenten Herausforderungen der Gegenwart aufwartet. Eine Idealisierung des einfachen Lebens, Idyllen der Vergangenheit - etwa die absurde Behauptung, den Sklaven der Antike sei es materiell besser gegangen als den Arbeitern der heutigen Zeit - und die Vorstellung, der sozioökonomische Gegensatz zwischen Norden und Süden lasse sich im Zeichen der Ökologie überwinden, weisen Saito als politischen Romantiker aus, der sämtliche Interessengegensätze zum Verschwinden bringt, indem er den Kapitalismus zur Ursache aller Verwerfungen und Probleme stilisiert. Bedürftigen Seelen spendet das Buch Trost; zur Lösung ökonomisch-ökologischer Probleme trägt es wenig bei. HERFRIED MÜNKLER
Kohei Saito: "Systemsturz". Der Sieg der Natur über den Kapitalismus.
Aus dem Japanischen von Gregor Wakounig. dtv Verlag, München 2023.
320 S., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main