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Norwegischer Sonderling: Dag Solstads Roman "T. Singer", endlich auf Deutsch
So ganz allmählich, wenn auch mit großem Abstand zur Erstveröffentlichung, werden die Werke Dag Solstads bei uns zum Begriff. Fünf seiner aktuell achtzehn Romane gibt es auf Deutsch - darunter jetzt auch "T. Singer", ein in Norwegen 1999 erschienenes Buch, das von den lähmenden Gedankenschleifen eines Bibliothekars in Notodden und später Oslo erzählt. Klingt gähnend langweilig. Ist aber genau das Richtige für die gezielte Depression zwischendurch.
Singer ist der Protagonist der Geschichte. Der Verzicht auf den Vornamen deutet auf einen Menschen, der Distanz sucht und erwartet, und tatsächlich ist der Mann der Inbegriff der Schamhaftigkeit: Bereits die Erinnerung an Jahre zurückliegende Missgeschicke wie ein "forciertes, aufgesetztes Lachen", das ihm beim Besuch eines Spielzeugladens als Kind entfleuchte und hochnotpeinlich war, weil das Ganze von seinem Onkel beobachtet wurde, lässt Singer erstarren und "nein, nein" murmelnd im Boden versinken.
Für Außenstehende ist das nicht zu bemerken: Singer gilt als umgänglich. Trotzdem lebt er ständig in Furcht vor der nächsten Entlarvung eines Fehltritts - was heutige Leser (aber wer gibt das zu, während er sich in den sozialen Medien selbstinszeniert wie verlangt?) eigentlich noch viel besser verstehen müssten als Leser kurz vor der Jahrtausendwende.
Damals war vom politischen Autor Solstad kaum mehr übrig als Kulturpessimismus und Resignation. Dag Solstad schrieb existentialistische Bücher über einen Stadtkämmerer, der sich in einen Rollstuhl setzt, ohne gelähmt zu sein ("Elfter Roman, achtzehntes Buch"), einen frustrierten Lehrer ("Scham und Würde"), einen Intellektuellen in der Krise ("Professor Andersens Nacht"). Männer am Rande des Sinnzusammenbruchs.
Und eben über Singer, auch der "eine Art Intellektueller, aus Veranlagung". Als wir Singer kennenlernen, im Jahr 1983, ist der Vierunddreißigjährige gerade guter Hoffnung, die adäquate Lebensform für sich gefunden zu haben. Die Anstellung als Bibliothekar in einer Kleinstadt soll "die vollständige Anonymität" bringen und das "Taugenichts"-Dasein beenden, in dem sich der ewige Student noch für einen geborenen Schriftsteller hielt, obwohl sein Werk nicht über einen jahrelang gekauten Eröffnungssatz hinauskam. Verflucht ist, wer jedes Wort hin- und herdreht.
Singer zieht also um. Er gelangt in einen Ort, der nie in der prächtigen Zukunft ankam, die ihm beim Einstieg ins Industriezeitalter vorhergesagt wurde, legt sich Alltagsroutinen zu, die ihn schützen, versteckt sich möglichst oft im Keller der Bibliothek und gibt sich bei den Kollegen als Sozialdemokrat aus: "Ja, Singer tat so, als wäre er Sozialdemokrat, das lohnte sich, dann hatte er seine Ruhe und konnte sich in sich selbst zurückziehen, wenn die anderen über Politik diskutierten."
Aber dann ist da eine Frau, die alleinerziehende Merete. Die beiden heiraten und führen ein Reihenhausleben, das Singers Bedürfnis, "spurlos vor allen und allem verschwunden" zu sein, "vor denen oder dem er verschwinden wollte", zunächst durchaus entspricht.
Erst als die Töpferin Merete bei einem Autounfall stirbt, setzt sich Singers Gedankenkarussell durch seine "spezielle Form von Schamgefühl" wieder schlimm in Bewegung: Er trauert, wie es Freunde und Familie erwarten, besteht aus Imagegründen darauf, dass Meretes sechsjährige Tochter bei ihm bleibt - und unterschlägt, dass die Ehe durch seine unentwegte Geistesabwesenheit und Passivität längst angezählt war.
Wie peinlich! Meint jedenfalls Singer und steigert sich in die Vorstellung hinein, irgendwer könne vom Zustand der Ehe gewusst haben und ihn entlarven: "Wovor er sich fürchtete, war das Gerede, dass sie über ihn sprachen, über ihn und sein Verhältnis zu seiner verstorbenen Frau und seiner Stieftochter, an vielen Orten, an denen Singer selbst nicht war und von denen er nichts wusste." Der einzige Ausweg scheint ihm ein neuer Ortswechsel zu sein: Singer flieht mit Meretes Tochter in die "Anonymität der Großstadt" Oslo. Was aber natürlich auch nur eine Weile gutgeht.
Soweit zur Handlung. Sie läuft auf keinen wirklichen Höhepunkt zu, selbst die Liebe zu Merete, ihr Autounfall und die Verprellung seines einzigen Freundes ereignen sich wie nebenher. "Wir müssen zugeben", schreibt Solstad, "dass es zu diesem Zeitpunkt in der Erzählung rätselhaft anmuten kann, dass Singer in irgendeinem Roman eine Hauptfigur sein könnte, unabhängig vom Niveau, wir können aber darüber informieren, dass eben dieses Rätselhafte das Thema des zu realisierenden Romans ist."
Doch genau so muss es sein: Dag Solstad untersucht das Innenleben eines Mannes, der allenfalls Beobachter des eigenes Daseins sein will und die Gesellschaft um ihn herum so wenig begreift wie sich selbst. Er kann nichts mit dem Kapitalisten Adam Eyde anfangen, einem märchenhaft auftretenden "Norsk-Hydro"-Direktor ohne Selbstzweifel, der eine Aktentasche voller Champagner herumträgt, das Leben feiert und fette Spuren zu hinterlassen versucht. Oder mit den Warenhäusern in Oslo. Oder mit den Fernsehshows, in die sein einziger Freund und seine Stieftochter vernarrt sind.
Es ist eine Gesellschaft, die ihm innerlich leer scheint und gleichgültig ist - und in der er sich trotz der ersehnten Abkapselung bewegen und seine Rollen spielen muss. Das macht Singer, diesen Sonderling, der keiner ist, zu einer tragischen Figur. "T. Singer" ist ein Roman über Rollen und Identität, geschrieben in einem eigenwilligen, ironisch-distanzierten Stil und mit der Grandezza eines Autors, der als Autor bei Erscheinen 1999 bereits seit Jahrzehnten etabliert war. Er heimste für das Buch zum dritten Mal seit seinem Debüt 1969 den "Kritikerprisen" ein.
Bis heute gilt jeder neue Solstad als Großereignis. Das wird auch im Herbst so sein, wenn der dann 78 Jahre alte Schriftsteller, der einmal spitz als "Norwegens größter Nationalpark" bezeichnet worden ist, als geschütztes Gelände also, seinen 19. Roman vorlegen wird. Bis wir den in deutscher Übersetzung zu Gesicht bekommen - der jüngste Solstad, der auf Deutsch vorliegt, ist der nur aus Fußnoten bestehende Titel "Armand V" aus dem Jahr 2006 -, wird es noch etwas dauern. Aber eins nach dem anderen.
MATTHIAS HANNEMANN
Dag Solstad:
"T. Singer".
Roman.
Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger. Dörlemann Verlag, Zürich 2019. 288 S., geb., 22,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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