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Diagramme und Bilder müssen in der Wissenschaft der Neuzeit für Ordnung sorgen: Steffen Siegel hat dafür faszinierende Beispiele zur Hand.
In den Kulturwissenschaften ist viel von "Wissen" die Rede. Wissen wird dabei nicht als kohärenter Korpus wahrer Meinungen verstanden, nicht als Erkenntnis, sondern als vielfältig artikulierter Bestand an Informationen und Verhaltensweisen, der einer Epoche zur Verfügung steht und von ihr hervorgebracht wird. Wissen wird, so Foucault, in diskursiven Praktiken generiert und stellt eine Vorbedingung für Erkenntnis dar. Der Kulturwissenschaftler untersucht, wie der Wissensbestand geordnet wird. Insbesondere der frühen Neuzeit stellte sich angesichts eines durch Entdeckungen und Buchdruck drohenden "informational overload" diese Frage nach der Ordnung des Wissens in verschärfter Weise. Während etwa der Cartesianer mit dem großen Wegwerfen beginnt, macht sich der Enzyklopädist daran, überkommenes und neues Wissen zu ordnen. Seine emphatische Forderung - und Überforderung - lautet: Das ganze Wissen auf einen Blick!
In der damit anvisierten synoptischen Totale spielt Sichtbarkeit eine herausragende Rolle. Steffen Siegel situiert seine kunstwissenschaftliche Studie über "Figuren der Ordnung um 1600" im Umkreis der Wissensgeschichte. Die Arbeit achtet nicht nur auf die Wissensordnung, sondern auch auf den damit erhobenen Anspruch auf Vollständigkeit und Verbindlichkeit. Siegels Augenmerk richtet sich auf Bilder, Tafeln, Rahmen und Diagramme als Visualisierungen dieses Anspruchs. Ihn interessiert das "Zusammenspiel sichtbarer und lesbarer Zeichen" um 1600. Die Zeitangabe ist großzügig gemeint, finden sich doch in diesem reich bebilderten und von der Graphik-Designerin Petra Florath attraktiv gestalteten Buch Bildund Textzeugnisse aus rund zweihundert Jahren.
Buchstäblich im Zentrum steht das aus neununddreißig Tafeln bestehende enzyklopädische Werk "Tableaux accomplis de tous les arts libéraux" (1587) des Christophe de Savigny: Auf je sechzehn Bild- und Texttafeln, allesamt hervorragend reproduziert, werden die Künste und Wissenschaften dargestellt, von der grundlegenden Grammatik bis zur krönenden Theologie. Auf einen Blick erfasst der Betrachter die Ordnung der Disziplinen. Jede Bildtafel besteht aus einem gleichbleibenden ornamentalen Außen- und einem variablen mit Schrift- oder Bildelementen ausgestatteten Innenrahmen, die zusammen ein Oval umfassen. In den Ovalen werden die Unterbereiche der Disziplinen von links nach rechts in binären Verzweigungen stichwortartig in sprechblasengleichen Zellen aufgefächert. Die Ovale der visuell attraktivsten unter den Bildtafeln enthalten piktorale Elemente, die Bild und Text vereinen.
Der Autor verortet Savignys Werk im Kontext der frühneuzeitlichen Wissensexplosion und stellt die Tafeln in die Tradition allegorischer Darstellungen des Wissensbaums. Der diagrammatischen Gestalt der Bildtafeln wird gemäß der Forderung, das Diagramm als eigenständige Form jenseits von Text und Bild zu betrachten, besonderes Gewicht gegeben. Die Kombination von Bildern und Texten wird im Anschluss an P. Wagner als "Ikonotext", die Eigenständigkeit der Rahmungen im Anschluss an Derrida als "Parerga", die Visualisierung von Wissen im Anschluss an R. Campe als "Verfahren der Evidenzherstellung" betrachtet.
Siegels Tabula ist, wie Savignys Tableaux, ein Buch aus sicht- und lesbaren Zeichen. Gut ist es um die Sichtbarkeit bestellt. Weniger gut um die Lesbarkeit. Die vielen Anschlüsse deuten es an: Anders als der visuellen fehlen der intellektuellen Gestaltung Eigenständigkeit und Trennschärfe. Theoretische Fragen - nach dem Verhältnis von Bild und Argument, Bild und Text, Bild und Diagramm - werden angeschnitten, nicht zerlegt. Das Vokabular passiert unreflektiert. Die Beschreibungen von Savignys Bildtafeln sind zwar immer wieder erhellend, doch finden sich auch Repetition und bemühte Deskription.
Nun formuliert Siegel aber doch gleich eingangs diese Thesen: "Die Ordnung des Wissens wird durch die Ordnung visueller Zeichen legitimiert", und die "Ordnung visueller Zeichen macht die Aporien der Versuche, Ordnungen des Wissens zu konstruieren, sichtbar." Ach ja, diese Doppelthesen, die etwas zugleich zur Bedingung der Möglichkeit und der Unmöglichkeit von etwas machen! Man fragt sich, was nun in diesem Zusammenhang Legitimation heißen soll, wenn visuelle Zeichen eine Wissensordnung zugleich legitimieren und in die Aporie führen.
Glücklicherweise nimmt der Autor die zweite These im Verlauf des Buchs gar nicht mehr explizit auf. Die erste These scheint sagen zu wollen: Eine Wissensordnung muss sich als "notwendig rechtfertigen", sie darf kein beliebiges Konstrukt, sondern muss der Ordnung der Schöpfung selbst abgeschaut sein. Es vermag aber kaum zu überzeugen, dass allein der Bezug auf die Tradition allegorischer Baumdarstellungen die damit insinuierte Natürlichkeit in die von baummimetischen Bezügen völlig freien Diagramme Savignys zu transportieren vermag. Beim schließlichen Comeback der These am Ende des Buchs werden visuelle Mittel denn auch gar nicht mehr zur Legitimation eingesetzt, sondern dienen "dem Aufweis und der Stabilisierung einer als gültig genommenen Ordnung des Wissens".
Doch wird diese Ordnung ganz unabhängig von genuin visuellen Mitteln als gültig genommen, kann sie zwar mit Bild und Diagramm illustriert, nicht aber legitimiert werden. Nein, damit soll nicht gesagt sein, dass Bildern kein eigener Gehalt zukomme. Doch Siegel gelingt es nicht, plausibel zu machen, dass Bildelemente epistemische Eigenständigkeit erhalten. Dass Bild und Diagramm eine autonome argumentative Funktion übernehmen, wird nicht aufgewiesen, nur mitgeführt.
Es will sich, trotz der vielfältig erhellenden Bezüge, kein rechtes Gleichgewicht zwischen dem Fokus auf Savigny und der Materialaufbereitung herstellen. Man könnte meinen, der Autor habe sich letztlich nicht recht entscheiden können, ob er eine Arbeit über Savigny schreiben oder dessen Tableaux als exemplarisches Werk für Wissensordnung um 1600 präsentieren soll. Wer sich für die historischen, pragmatischen und philosophischen Aspekte der herrlichen Tableaux interessiert, insbesondere für die von Siegel vernachlässigten Texttafeln, kann übrigens auf zwei fast gleichzeitig erschienene Bände der Philosophiehistorikerin Annarita Angelini, "Metodo ed enciclopedia nel Cinquecento francese", zurückgreifen. Der zweite Band ist den Tafeln Savignys gewidmet.
MARKUS WILD.
Steffen Siegel: "Tabula". Figuren der Ordnung um 1600. Akademie Verlag, Berlin 2009. 213 S., 62 s/w- und 39 Farb-Abb., geb., 39,80 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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