Eva und Simon haben ein schönes und erfülltes Leben: ein großes Haus, drei erwachsene Töchter, verdienter Ruhestand nach erfolgreichen Karrieren als Lehrerin und Arzt. Doch als Simon aufhört zu sprechen, beginnt die Vergangenheit an Eva zu nagen. Bedingt durch die Stille, die mit Simons Rückzug entsteht, macht sie sich auf die Suche im Gespräch mit sich selbst nach den erschwiegenen Flecken in ihren beiden Leben. Sie versucht sich zu öffnen, sich der Isolation und Stille zu entziehen, in der sie schon viel länger leben, als sie es sich eingestehen will. Sie sucht das Gespräch mit dem örtlichen Priester, arbeitet allein an ihrer Erinnerung und plötzlich tauchen einzelne Bilder auf, werden für sie wieder greifbar: der mysteriöse Einbrecher damals, als die Kinder noch klein waren, die jähe Entlassung der ehemaligen Hausangestellten, die ihnen doch beiden so nah stand. Doch während Eva ihrer eigenen Lebensgeschichte näher kommt, verschwindet Simon in sich selbst, verstummt zusehends, bis er fast kein Wort mehr herausbringt. Eva beginnt zu verstehen, dass seine Erinnerungen andere sind als ihre. Ein für die Poetik seiner Sprache mit dem Kritikerprisen 2011 und dem Literaturpreis des Nordischen Rates 2012 ausgezeichneter Roman, der zwischen Erinnerung und Vergessen oszilliert. Ein Buch über das Schweigen und die Liebe zweier Menschen, die sich am Ende eingestehen müssen, dass es Dinge gibt, die vielleicht immer unaussprechlich bleiben.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.10.2019Bitternis
und Spannung
Merethe Lindstrøms Roman
„Tage in der Geschichte der Stille“
Der Anfangssatz, ein Schock: „Ich habe ihn selbst hereingelassen.“ Das Kopfkino springt an, obwohl noch gar nichts von dem gewusst ist, was diesem bedrohlichen Einstieg folgen könnte. Auch der Schlusssatz des fett-, kitsch- und gefühligkeitsfreien schmalen Romans von Merethe Lindstrøm, die 1963 in Bergen geboren wurde, Sängerin einer Rockband war und seit 1983 Erzählungen und Romane schreibt, hat diese absolute Härte: „Ich habe ihn nie wieder gesehen.“
„Tage in der Geschichte der Stille“ (überzeugend ins Deutsche gebracht von Elke Ranzinger) ist die Geschichte eines alt gewordenen Ehepaars, bei dem sich der Mann Simon ins Schweigen zurückzieht. Seine Frau, die Ich-Erzählerin beginnt nun in ihrer zunehmend stiller werdenden Welt Spuren in die Erinnerung aufzunehmen. Wie war diese Liebesgeschichte mit Simon, wie jener fast tödliche Schrecken, als der Eindringling, dem sie selbst die Tür geöffnet hatte, plötzlich in der Wohnung stand. Weshalb brach die sich bis zur Vertrautheit erwärmende Beziehung zur Haushaltshilfe Marija plötzlich ab? Während die beiden Töchter ungehalten sind, dass die Alten Marija weggeschickt haben, denkt sie auch über jenen Jungen nach, den sie als 17-jährige bekam und schon nach einem halben Jahr zur Adoption freigab. Eine Tat, die bei Simon, der einst Familienmitglieder in Theresienstadt verloren hat, dann tiefes Unverständnis hervorrief, als er noch nicht anhaltend schwieg.
So behutsam wie unausweichlich wird in all diesen Suchbewegungen, in den Selbstbefragungen und manchmal ruckartig einsetzenden Klärungen die innere Verschiedenheit der beiden deutlich: Simons Weg ins Schweigen und ihre Versuche, das zu begreifen. Lindstrøms Erzählstil bleibt dabei von einer Konzentration des Unmerklichen beherrscht, die einen staunen lässt über so viel schriftstellerische Disziplin. Gerade die Sparsamkeit und Gefasstheit in Ton und Duktus lockt ins Innere dieser so bitteren wie spannenden Geschichte einer Entfremdung.
HARALD EGGEBRECHT
Merethe Lindstrøm: Tage in der Geschichte der Stille. Aus dem Norwegischen von Elke Ranzinger. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2019. 222 Seiten, 22 Euro.
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und Spannung
Merethe Lindstrøms Roman
„Tage in der Geschichte der Stille“
Der Anfangssatz, ein Schock: „Ich habe ihn selbst hereingelassen.“ Das Kopfkino springt an, obwohl noch gar nichts von dem gewusst ist, was diesem bedrohlichen Einstieg folgen könnte. Auch der Schlusssatz des fett-, kitsch- und gefühligkeitsfreien schmalen Romans von Merethe Lindstrøm, die 1963 in Bergen geboren wurde, Sängerin einer Rockband war und seit 1983 Erzählungen und Romane schreibt, hat diese absolute Härte: „Ich habe ihn nie wieder gesehen.“
„Tage in der Geschichte der Stille“ (überzeugend ins Deutsche gebracht von Elke Ranzinger) ist die Geschichte eines alt gewordenen Ehepaars, bei dem sich der Mann Simon ins Schweigen zurückzieht. Seine Frau, die Ich-Erzählerin beginnt nun in ihrer zunehmend stiller werdenden Welt Spuren in die Erinnerung aufzunehmen. Wie war diese Liebesgeschichte mit Simon, wie jener fast tödliche Schrecken, als der Eindringling, dem sie selbst die Tür geöffnet hatte, plötzlich in der Wohnung stand. Weshalb brach die sich bis zur Vertrautheit erwärmende Beziehung zur Haushaltshilfe Marija plötzlich ab? Während die beiden Töchter ungehalten sind, dass die Alten Marija weggeschickt haben, denkt sie auch über jenen Jungen nach, den sie als 17-jährige bekam und schon nach einem halben Jahr zur Adoption freigab. Eine Tat, die bei Simon, der einst Familienmitglieder in Theresienstadt verloren hat, dann tiefes Unverständnis hervorrief, als er noch nicht anhaltend schwieg.
So behutsam wie unausweichlich wird in all diesen Suchbewegungen, in den Selbstbefragungen und manchmal ruckartig einsetzenden Klärungen die innere Verschiedenheit der beiden deutlich: Simons Weg ins Schweigen und ihre Versuche, das zu begreifen. Lindstrøms Erzählstil bleibt dabei von einer Konzentration des Unmerklichen beherrscht, die einen staunen lässt über so viel schriftstellerische Disziplin. Gerade die Sparsamkeit und Gefasstheit in Ton und Duktus lockt ins Innere dieser so bitteren wie spannenden Geschichte einer Entfremdung.
HARALD EGGEBRECHT
Merethe Lindstrøm: Tage in der Geschichte der Stille. Aus dem Norwegischen von Elke Ranzinger. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2019. 222 Seiten, 22 Euro.
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»Dieser Roman ist das beeindruckende Porträt einer alternden Frau, in der sich Erinnerungen, Emotionen und Bedürfnisse auf komplexe Weise ineinander verhaken.« Jan Wilm Republik (CH) 20191016