Ulla Hahn wagt sich an eine große Frage: Warum zerstört die Menschheit, was sie liebt, wider alles bessere Wissen, und wie könnte ein Umsteuern gelingen? "Tage in Vitopia" sprüht vor Phantasie, Sprachlust und Neugier auf alles, was je gedacht worden ist, und alles, was daraus entstehen könnte, wenn wir Menschen endlich begreifen, was es bedeutet, dass die Erde allen gehört und alle der Erde gehören.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Das Weltgeschehen, von
Eichhörnchen besehen:
Ulla Hahn träumt in dem Roman "Tage in Vitopia"
von einer Rettung durch poetisch denkende Tiere.
Von Jan Wiele
Immer offensichtlicher wird auch auf dem deutschen Buchmarkt eine Vorliebe für "Klimafiktionen". So hat in diesem Jahr etwa schon die 1988 geborene Leona Stahlmann vom Aufziehen eines Kindes bei drastisch steigenden Temperaturen erzählt ("Diese ganzen belanglosen Wunder"), die 1986 geborene Theresia Enzensberger vom Leben auf einer künstlichen Insel in untergangsgeweihter Restwelt ("Auf See"), und die 1992 geborene Österreicherin Marie Gamillscheg hat den "Aufruhr der Meerestiere" geprobt. Den vielleicht überraschendsten Ansatz einer derart engagierten Literatur aber wählt jetzt die 1945 geborene Ulla Hahn: Sie schildert in ihrem Roman "Tage in Vitopia" unsere bedrohte Welt aus der Sicht von kunstliebenden und sehr besorgten Eichhörnchen, die einen Kongress zu deren Rettung organisieren.
Wie die antike Tierfabel als Spiegel und Karikatur der Menschen, dient der Roman, in dem Tiere erzählen, häufig zur Zeitkritik. Ein Vorbild, auf das immer wieder Bezug genommen wird, sind E. T. A. Hoffmanns "Lebensansichten des Katers Murr", die jüngst erst wieder eine fast tausendseitige Aktualisierung in Michael Köhlmeiers Roman "Matou" fanden. Statt des gebildeten Katers gibt uns Ulla Hahn nun das gebildete Eichhörnchen.
Und wie gebildet dieses ist, im Kopf und auch im Herzen! Es spricht den ganzen Roman hindurch als poeta doctus, der Zitate aus dem Ärmel schüttelt wie Nüsse vom Baum und sich in der Musikgeschichte ebenso gut auskennt wie in aktuellen Debatten über Tierethik, Ernährung und Klimawandel. Jedem der kurzen Kapitel steht ein Motto voran, und die Stichwortgeber reichen von Vergil über Charles Darwin bis zu Loriot. Anders als beim Kater Murr dient Ulla Hahn die Erzählsituation aber wohl nicht zur Bildungssatire, sondern vielmehr zur Affirmation eines Kanons, den sie im Verschwinden begriffen sieht (es finden sich auch Einwürfe wie "Das gehörte früher einmal zum Bildungsgut"). Damit stellt sie sich in die Tradition ihres großen Förderers Marcel Reich-Ranicki, der bekanntlich an einem Kanon festhalten wollte und den auch das Schulmeisterliche nicht schreckte.
Im Gegensatz zu mancher es mit der Jugendsprache übertreibenden Gegenwartsliteratur hat man es hier mit einem Erzählen im hohen, bisweilen auch altbackenen Ton zu tun, das inzwischen sehr ungewöhnlich wirkt. Andererseits macht die Fabel niedrigschwellige Angebote. Ihre Figurennamen klingen wie aus einem Kinderbuch: etwa Käte Krähe, Kati Kuh und Beat Specht, dazu die Baby-Eichhörnchen Willi, Milli und Lilli. Und die Erzählung folgt der Didaktik des "Kein Kind zurücklassen" - will sagen: Alles wird überdeutlich erklärt. So erleben die Leser, die sich das nach den ersten beiden Kapiteln schon denken konnten und zudem ja vielleicht auch den Klappentext gelesen haben, im dritten Kapitel noch einmal explizit das "Outing" der Erzählerfigur: "Kurz gesagt: Ich bin ein Eichhörnchen."
Die Handlung dieses Romans beginnt noch einigermaßen realistisch - sofern man eben akzeptiert, dass Eichhörnchen denken und dichten können. Der erzählende Herr Kretzschnuss lebt in einem Baum an der Hamburger Alster, lernt seine seelenverwandte Eichhörnchenfrau Muzzli kennen, und inspiriert von einem Menschenpaar namens Maria und Josef mausern sich die beiden zu Aktivisten, zunächst für die Rettung des Hambacher Forstes. Als die vorläufig gelingt, entsteht aus der Euphorie der Plan einer "humanimalen Weltbewegung", in der Tiere und Menschen gemeinsam ein "Vitopia" erträumen, einen Ort für gelebte Utopie.
Mit der Erklärung ihrer Science-Fiction-Elemente hält sich diese Erzählung nicht lange auf; sie zaubert sie als märchenhafte Setzungen aus dem Hut. So gelingt den Eichhörnchen nicht nur, die Menschen zu verstehen, sondern auch die umgekehrte Kommunikation: mittels eines "Translators", der plötzlich einfach da ist. Und auch die Grenzen des Lebens überwindet sie spielend: Zum "Vitopia"-Kongress, der im antiken Theater von Epidauros stattfindet, kommen auch längst verstorbene Persönlichkeiten und mythische Gestalten, darunter Karl Marx, Shakespeare, Sappho, tatsächlich Kater Murr und sein "gestiefelter Kollege" - und nicht zu vergessen Ratatöskr, das Ureichhörnchen aus der Weltesche Yggdrasil.
Der stark von der Romantik geprägte Roman setzt auch die Vorstellung der Allbeseeltheit neu ins Bild - nicht nur die Tiere sprechen hier, sondern auch die Planeten. So sendet etwa Venus eine Hitzewarnung an die Erde: Bei 47 Grad sei für die meisten Lebewesen in einer Atmosphäre Schluss, bei weiter steigenden Temperaturen drohten die Ozeane zu verdampfen, bis nur noch Staub bleibe.
Gemeinsam beschließt man angesichts solcher Warnungen und angesichts grausamer Videoberichte vom Raubbau am Planeten, sich zu bessern. Der Kongress artet aus in eine Art transepochales Woodstock, bei dem Homer, Franz von Assisi, Hölderlin und die Bläck Fööss auf Parallelbühnen spielen, um Menschen und Tiere in Trance zu versetzen, und schließlich auch noch weise Cyborgs aus der Zukunft einen Konstruktionsfehler der Biowesen zu beseitigen versprechen: durch Einpflanzung eines "Pax-Genoms". Wirklich far out, wie ja die Hippies zu sagen pflegten, ist die Vision, dass dann nicht nur Menschen keine Tiere mehr essen, sondern auch Tiere keine anderen Tiere mehr.
Die Pointe des Buches besteht darin, dass Ulla Hahn, die zuerst als Lyrikerin bekannt wurde, der Lyrik und dem kollektiven Singen, Chanten, Shouten, Psalmodieren und Rappen geradezu magische Kräfte zuschreibt, die alle und alles verbinden. Obwohl sie wahrscheinlich weiß, dass bildungsbürgerliche Versuche, sich dem Rap anzunähern, oft zum Scheitern verurteilt sind, schreckt sie auch davor nicht zurück. Dabei überspannt sie den Bogen etwas, und ein paar Bildungsnüsse weniger im Text hätten es auch getan. Aber manche sagen ja, dass Eichhörnchen ihre Nüsse einfach überall verbuddeln und dabei irgendwann den Überblick verlieren - insofern passt auch das ins Bild.
Hahns Appell, mit "Musik, Dichtung, Bildern neue unwiderstehliche Visionen zu schaffen", der am Ende des Buches steht, ist trotzdem aller Ehren wert, und die phantasievolle Darstellung ihres Eichhörnchen-Doppelgängers in einer lautmalerischen Sprache namens Keckmeck ebenso.
Ulla Hahn: "Tage in Vitopia".
Roman.
Penguin Verlag.
München 2022. 252 S., geb., 24,- Euro.
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