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Henry D. Thoreaus Hauptwerk ist nicht "Walden" oder "Über den zivilen Ungehorsam", sondern sein Tagebuch, das er als 20-jähriger begann und bis wenige Tage vor seinem Tod 1861 führte. Darin notierte er Beobachtungen, die zu den bedeutendsten Naturschilderungen der Weltliteratur zählen, aber auch Gedanken und Refl exionen, die ihn als ganz eigenständigen philosophischen Kopf erkennen lassen. Durch die Lektüre wird deutlich, dass Natur und Politik wie Zurückgezogenheit und der Wunsch nach gesellschaftlicher Veränderung eine Einheit bilden. Stille, Unabhängigkeit, Antimaterialismus, Armut,…mehr

Produktbeschreibung
Henry D. Thoreaus Hauptwerk ist nicht "Walden" oder "Über den zivilen Ungehorsam", sondern sein Tagebuch, das er als 20-jähriger begann und bis wenige Tage vor seinem Tod 1861 führte. Darin notierte er Beobachtungen, die zu den bedeutendsten Naturschilderungen der Weltliteratur zählen, aber auch Gedanken und Refl exionen, die ihn als ganz eigenständigen philosophischen Kopf erkennen lassen. Durch die Lektüre wird deutlich, dass Natur und Politik wie Zurückgezogenheit und der Wunsch nach gesellschaftlicher Veränderung eine Einheit bilden. Stille, Unabhängigkeit, Antimaterialismus, Armut, Antiprüderie, Askese, Selbstdisziplin und mystische Suche sind neben überwältigend präzisen und gleichzeitig poetischen Beschreibungen des Lebens, der Natur, der großen und kleinen Lebewesen die bestimmenden Themen dieses Werks. Während dieses große Tagebuchwerk in Amerika Generationen von Künstlern und Schriftstellern beeinflusste und heute eine überwältigende Renaissance erlebt, ist es in Deutschland nahezu unbekannt. Unsere Ausgabe lädt ein, dieses Meisterwerk zu entdecken und Thoreau unzensiert zu erleben.
Autorenporträt
Henry David Thoreau, geboren 1817 in Concord, Mass., wuchs als Sohn eines Bleistiftfabrikanten auf und studierte von 1833 bis 1837 an der Harvard University. Seine Tätigkeit als Lehrer gab er nach kurzer Zeit auf, weil er sich mit der Schulleitung überwarf, und gründete 1838 mit seinem Bruder eine Privatschule, die nach dessen Tod 1842 geschlossen wurde. Kurz davor lernte Thoreau Ralph Waldo Emerson und die antimaterialistische romantische Bewegung der Transzendentalisten kennen. Er beschäftigte sich mit Goethe, den Zoroastern, Buddha, den indischen Veden und entwickelte seine Ideen über Natur und Gesellschaft. 28-jährig zog er sich für zwei Jahre in eine Blockhütte am Waldensee zurück und schrieb sein berühmtestes Buch. Als er 1846 verhaftet wurde, weil er vier Jahre keine Wahlsteuern gezahlt hatte, verfasste er den Essay "Über die Pfl icht zum Ungehorsam gegen den Staat". Ab 1849 verdingte er sich als Tagelöhner, Anstreicher, Tischler, Landvermesser und Vortragsreisender. Bereits seit 1835 litt er unter Tuberkulose, der er 1859 erlag. Sein Tagebuch erstreckt sich von 1837 bis 1861 und kann als sein wichtigstes Werk bezeichnet werden. Rainer G. Schmidt, 1950 im Saarland geboren, begann 1978 mit der Übersetzung des Gesamtwerks von Arthur Rimbaud und übersetzte seither viele Werke u. a. von Henri Michaux, Victor Segalen, Herman Melville. 1998 erhielt er den Paul-Celan Preis.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.03.2016

Der Wald war ihm die letzte Bastion
Henry David Thoreaus Tagebuch erscheint in einer neuen deutschen Ausgabe - leider mit Mängeln

Henry David Thoreau wurde am 12. Juli 1817 in Concord, Massachusetts, geboren, einem der wichtigsten Erinnerungsorte der Amerikanischen Revolution. Er schrieb ein Buch, das kaum Käufer fand, und bekam alle Restexemplare zugeschickt: "So bin ich jetzt im Besitz einer Bibliothek von nahezu neunhundert Bänden, von denen ich über siebenhundert selbst geschrieben habe." Er schrieb noch ein Buch. Es hieß "Walden" und wurde ein Werk von solch lebensverändernder Wirkung auf seine Leser, dass es zu einer "Waldenisierung" des Gedenkens in Concord kam (um ein Wort des Literaturwissenschaftlers Lawrence Buell zu borgen). Heute zieht die Stadt bei Boston nicht nur mit der Revolutionstradition zahlreiche Besucher an, sondern auch mit dem Walden Pond, jenem See, an dessen Ufer sich Thoreau eine Hütte baute, um ein einfacheres und erfüllteres Leben zu führen.

Ab dem 4. Juli 1845, dem amerikanischen Unabhängigkeitstag, lebte er mehr als zwei Jahre lang dort. Das Buch darüber sollte ihn viel länger beschäftigen. Er schrieb sieben Fassungen, bis "Walden" im August 1854 erschien. Es ist weder ein simpler Erlebnisbericht noch eine Anleitung, es dem Autor gleichzutun. Die Leser sollen niemanden nachahmen, sondern ihren eigenen Weg gehen. Thoreau verlässt seine Hütte ja auch wieder: "Vielleicht fand ich, dass ich einige weitere Leben zu leben hatte und diesem einen keine Zeit mehr widmen konnte."

Die vielen Leben des Henry Thoreau: Er wurde zwar nur vierundvierzig Jahre alt, machte in dieser Zeit aber wirklich mehr als mancher, dem eine erfolgreiche Karriere im gewöhnlichen Sinn gelang. Die wäre dem Harvard-Absolventen vielleicht selbst möglich gewesen, hätte er Arzt, Anwalt oder Pfarrer werden wollen. Stattdessen war er unter anderem Lehrer; Assistent des Philosophen Ralph Waldo Emerson, bei dem er auch zeitweilig wohnte; Häftling für eine Nacht, als er wegen Amerikas Krieg gegen Mexiko keine Steuern zahlte (seine nachgereichte Rechtfertigung in dem Essay "Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat" inspirierte später Mahatma Gandhi und Martin Luther King); Sklavenfluchthelfer; Landvermesser, was sich ideal mit seiner lebenslangen Erkundung von Concord verbinden ließ; Bleistifthersteller im Betrieb seines Vaters - aber eben immer auch Autor.

Thoreau schrieb seine beiden Bücher, Beiträge für Zeitschriften sowie Hunderte Seiten mit Material über Indianer, Früchte und Samen. Und er führte ein Tagebuch mit einem Umfang von zuletzt zwei Millionen Wörtern. Die Detailfülle der naturkundlichen Beobachtungen macht es zu einer wichtigen Quelle für Forscher, die den Wandel der neuenglischen Tier- und Pflanzenwelt studieren. Zu Fuß, im Boot oder mit Schlittschuhen war Thoreau bei jedem Wetter in der Natur unterwegs. Daher kannte er die Felder, Wälder, Flüsse und Seen um Concord wie kein anderer. Zugleich zeigt ihn das Tagebuch als polemischen Kritiker des Materialismus seiner Landsleute, als kühlen Reporter bei der Explosion einer Pulvermühle und als so witzigen wie warmherzigen Erzähler, der in einer romanreifen Szene festhält, wie ein alter Nachbar barfuß geht, um in seinen Schuhen knorrige Äpfel und eine tote Wanderdrossel zu tragen.

In Amerika erschien 1906 die erste Gesamtausgabe des Tagebuchs. Seit 1981 veröffentlicht die Princeton University Press die definitive Edition, die in bislang acht Bänden mittlerweile das Jahr 1854 erreicht hat. Hierzulande ist das Tagebuch ein noch weitgehend ungehobener Schatz. Erfreulicherweise macht sich jetzt der Berliner Verlag Matthes & Seitz daran, eine Teilausgabe in zwölf Bänden herauszubringen. Zum Vergleich: Susanne Schaups weiterhin lieferbare Auswahl von 1996 bestand aus einem einzigen Band mit dreihundert Seiten.

Der erste neue Band, übersetzt von Rainer G. Schmidt, reicht von 1837 bis 1842. Thoreaus Denken umkreist darin Liebe und Freundschaft, den Körper und den Tod, falsche Hilfe und belastenden Besitz. Rettung liegt in der Natur: "Meine letzte Bastion ist der Wald." Wenn er draußen im Schnee den Spuren eines Fuchses folgt oder sich daheim Popcorn macht und im aufplatzenden Mais einen Vorboten der bald erblühenden Blumen sieht, liest Thoreau dabei die spirituellen Zeichen der Natur: "Wer Tagebuch führt, ist Lieferant der Götter." Daneben wurde das Tagebuch aber auch ganz pragmatisch zur Materialsammlung, die Thoreau durch Register erschloss und für seine Werke auswertete. Tatsächlich finden sich Sätze vom März 1840 im Schlusskapitel des vierzehn Jahre später erschienenen "Walden".

Die Freude über die neue Edition schlägt allerdings schnell in Frust um. Das beginnt bei der gedankenlosen Gestaltung. Wie einfach wäre es gewesen, am oberen Seitenrand das Jahr zu nennen, um einem lästiges Blättern zu ersparen. Wie gern hätte man auch Karten von Concord und Umgebung gesehen, auf den Vorsatzblättern etwa, oder eine Zeittafel zu Thoreaus Leben in diesen Jahren, denn viele Ereignisse erwähnt er im Tagebuch gar nicht oder sehr knapp. Seinen Einzug bei Emerson vermerkt er mit "Bei R.W.E.". Dazu gibt es eine Anmerkung, die nur den abgekürzten Namen auflöst, ohne zu ergänzen, dass Thoreau von da an bei seinem Mentor wohnte. Überhaupt ist der Anhang misslungen, selbst die Übernahme von Anmerkungen der Princeton-Ausgabe geht schief.

Ebensowenig überzeugt die Auswahl der übersetzten Abschnitte. Ende 1840 beispielsweise las Thoreau die Memoiren des Historikers Edward Gibbon und war zunächst begeistert, aber bald missfiel ihm alles an Gibbon. Übersetzt wird nur das Lob. Dabei liegt doch ein Reiz der Tagebuchlektüre gerade darin, diesen Entwicklungen zu folgen. Ein schlüssiges editorisches Konzept ist nicht zu erkennen.

Schließlich - und schlimmstens - entstellt die Übersetzung den Text. Die "tons of metal" sind keine "metallischen Töne", das archaische "Thou art" ("du bist") meint nicht "Deine Kunst". Ortsnamen geraten ebenfalls durcheinander. Das "county of Middlesex", in dem Concord liegt, wird zur "Grafschaft Middlesex", der "Fair Haven Pond" soll der "schöne Walden Pond" sein. Vor allem aber ist mehrfach der Sinn völlig verdreht: "Es muss keine Einbuße meiner Freiheit bedeuten, wenn ich Farmer und Landbesitzer bin" - das ist genau das Gegenteil von Thoreaus Aussage. Er würde seine Freiheit verlieren, und das darf nicht passieren. Das Buch ist voll von solchen Fehlern.

So kann die Edition nicht weitergehen. Zu seinem zweihundertsten Geburtstag im nächsten Jahr wäre es Thoreau zu wünschen, dass es den kommenden Bänden gelingt, das Vorhaben nach diesem Fehlstart noch zu retten.

THORSTEN GRÄBE

Henry David Thoreau:

"Tagebuch". Band 1.

Aus dem Amerikanischen von Rainer G. Schmidt.

Verlag Matthes & Seitz,

Berlin 2016. 326 S.,

geb., 26,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Thorsten Gräbe ist mächtig enttäuscht vom ersten Band der neuen Edition der Tagebücher von Henry David Thoreau. Anstatt einen Schatz zu heben, schafft es die Ausgabe in der Übersetzung von Rainer G. Schmidt, die die Jahre 1837-1842 und Themen wie Freundschaft, Liebe und Tod behandelt, den Rezensenten richtig zu verärgern. Keine Jahreszahlen auf den Seiten, keine Karten und Zeittafeln und eine unzulängliche Übernahme der Anmerkungen aus der Princeton-Ausgabe. Schlimmer noch findet Gräbe das Fehlen eines editorischen Konzepts, das Entwicklungen im Denken des Philosophen und Schriftstellers sichtbar macht, und eine Übersetzung, die den Text seiner Meinung nach entstellt, den Sinn verdreht und Namen und Orte durcheinanderbringt. Für den Fortgang der Edition hofft Gräbe inständig auf Besserung.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Hier geht es weder um biographische Gefühlsprotokolle noch um die Entwicklung einer Privatphilosophie. Thoreaus Journale sind ein funkelnder Fundus des Denkens und der Sprache. Wer darin eintaucht und querliest, wühlt oder sortiert, entdeckt eine faszinierende Kombination von handfester, erdnaher Präsenz und synästhetischer Phänomenologie.« - Dorothea Dieckmann, Deutschlandfunk Dorothea Dieckmann Deutschlandfunk 20170716