Eine Mutter hält ihren erwachsenen Sohn in den Armen. Er ist tot, wie sich bald herausstellt; sie hat ihn während der letzten Monate seiner Erkrankung gepflegt. Bevor die alte Frau den Arzt ruft, beginnt sie mit dem Sohn ein letztes Gespräch, einen Monolog, der zur Bilanz und zur Erinnerung wird: an ein Leben an der Seite eines kriegsversehrten Mannes, an das gemeinsam geführte Textilgeschäft im Nachkriegsdeutschland, an das Glück, ein Klavier anzuschaffen, »etwas von Dauer«, schwarzglänzend und für den einzigen Sohn, den sie liebte und der doch immer ein Fremder für sie geblieben ist. Denn seine Existenz verdankt sich womöglich einer traumatischen Gewalterfahrung, die sie zeitlebens bedrängt hat. »Tagesanbruch« führt ins Zentrum von Hans-Ulrich Treichels Schreiben, ganz nah heran an die Schmerzpunkte von Verlust und Verlorenheit. Es ist die eindringliche, tieftraurige Erzählung einer Frau, die am Totenbett ihres Kindes endlich all das auszusprechen versucht, was sie niemals ausgesprochen hat; und am Ende doch bekennen muss, dass ihr die Worte versagen. Denn »es gibt Dinge, die verschweigt man sogar den Toten«.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Wie in einem Brennglas werden für Ulrich Rüdenauer in diesem Buch das Lebensthema und der Stil Hans-Ulrich Treichels deutlich. Der alte Treichel-Sound, der melancholische Ton, das erzählerische Kreisen um Alltag, Sorgen und Verstörung im Nachkriegsdeutschland, alles wieder da, meint Rüdenauer. Ein bisschen enttäuscht scheint er schon, dass sich der Autor nicht neu erfindet, aber letztlich überwiegt doch die Freude über das Buch. Die Lebensbeichte einer Mutter für ihren toten Sohn scheint ihm voller Tragik und Atmosphäre.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.06.2016Der stumme Akkord
In Hans-Ulrich Treichels Erzählung "Tagesanbruch" nimmt eine Mutter Abschied von ihrem Sohn und kommt dabei endlich zu sich selbst.
Eine alte Frau sitzt an einem dämmernden Spätsommertag am Bett ihres Sohnes, der nach langer Krankheit soeben gestorben ist. Die Mutter hat ihn in den vergangenen Monaten zu Hause gepflegt. Nun könnte sie, wie verabredet, die Nachbarn informieren oder den Arzt rufen. Doch das tut sie nicht. Stattdessen wacht sie die Nacht am Bett ihres Kindes, hält den leblosen Körper, den sie zuvor vom Boden wieder ins Bett gewuchtet hat, im Arm und überlässt sich ihren Gedanken, so frei und offen wie vielleicht nie zuvor.
"Vor meinem toten Sohn fürchte ich mich", heißt es an zentrale Stelle, "aber vor mir selbst habe ich regelrecht Angst. Vor dem, was ich zu sagen habe. Was ich mir zu sagen habe." Trotzdem bricht sie mit dem Gebot ihrer Familie, dass es Dinge gibt, die man besser verschweigt, auch den Toten gegenüber. Bis sie jedoch zu ihrer eigentlichen Erzählung kommt, die von Flucht und Vertreibung in den letzten Kriegswochen aus dem Nordwesten der Ukraine handelt, einer Vergewaltigung durch russische Soldaten und einem lebenslangen Zweifel, vergeht beinahe die ganze Nacht. Nur im Schutz der Dunkelheit und nach mehr als einem halben Leben, das zurückliegt, ist ihr dieses, sie selbst am allermeisten bestürzende Geständnis möglich.
Die häufige Beschäftigung mit Kriegsmüttern und -vätern ist auffällig in der Literatur dieser Tage. Es sind Autoren eines bestimmten Alters, die sich, in den fünfziger Jahren geboren, nun, selbst älter geworden, der inzwischen zum größten Teil verschwundenen Elterngeneration während des Nationalsozialismus und danach zuwenden und aus der Rückschau insbesondere deren gescheiterten und erfüllten Hoffnungen nachgehen, mal mehr, mal weniger autobiographisch grundiert.
Stephan Wackwitz schrieb im vorigen Jahr einen Roman über das Leben seiner Mutter, einer Modezeichnerin, und wie es hätte sein können. Ralph Rothmann suchte in "Im Frühling sterben", zur selben Zeit erschienen, zu ergründen, was im Krieg geschehen konnte, das einen Vater so sehr veränderte, dass er sein Leben lang darüber schwieg. Und nun kreist Hans-Ulrich Treichels neue Erzählung "Tagesanbruch" um das Sagbare und Unsagbare eines familiären Traumas innerhalb dieser Generation.
Treichels auf knappstem Raum gehaltene Pietà, das Buch ist gerade sechsundachtzig Seiten lang, ähnelt in seiner Anlage Dostojewskis Erzählung "Die Sanfte" und ist in seiner reduzierten Sprache und poetologischen Strenge ergreifend und radikal zugleich. Es nimmt mit dem nächtlichen Versuch der Protagonistin, sich ihr Leben zu erzählen, begleitet vom wechselnden Gesang der Vögel, zugleich auf, was ihr Erfinder Hans Ulrich Treichel einmal über sein Schreiben gesagt hat. Dass er nämlich, immer wieder auf biographische Hinweise in seinen Büchern angesprochen, darin gar nichts Autobiographisches entdecken könne, weil auch er in sich nichts Autobiographisches habe. Ihm fehle eine "narrative Identität", seine eigene Lebenserzählung müsse er sich vielmehr fortlaufend erarbeiten. Es ist dieser Prozess, den auch seine weibliche Heldin vor "Tagesanbruch" durchmacht.
Denn auch wenn die biographische Wunde der Mutter (wie auch des verstorbenen Vaters) der innere Beweggrund für ihre Rede ist, kreist ihr Text für lange Zeit doch immer nur um diese Wunde, nähert sich an, um sich gleich darauf wieder zu entfernen und sich erst am Ende in immer enger werdenden Bögen doch noch auf den Schrecken einzulassen. Durch diese Bewegung der Gedanken entsteht so, ohne dass Treichels Text je ausschweifend würde, ein Interieur der fünfziger Jahre, dessen Muff und Biederkeit ursächlich von Angst geprägt ist.
Es ist die Angst der Vertriebenen, in der neuen Heimat wirtschaftlich nicht zu reüssieren. "Der Kunde ist unsere Existenzsicherung", hieß es in der Familie, "ohne den Kunden wären wir nichts". Es ist die Angst, gesellschaftlich nicht zu gefallen, weshalb man in die Kirche geht, obwohl dem jungen Paar das Gottvertrauen längst abhandengekommen war. Die gestickte Decke und das gute Geschirr wird für die Kaffeetafel nur sonntags herausgeholt, ansonsten ist der Tisch im Wohnzimmer der Buchführung vorbehalten. Das Paar arbeitet Tag und Nacht. Und das kleine Geschäft für Textilien und Arbeitskleidung, das sich die beiden aufgebaut haben, bedeutet ihre nicht nur finanzielle, sondern auch seelische Absicherung. Der Preis dafür ist die Leerstelle in ihrer Erinnerung.
Glanzstück dieser motivisch sorgfältig durchwirkten Erzählung ist das Schellackklavier, das eines Tages angeschafft wird, um das bürgerliche Arrangement zu vollenden, denn gebraucht hätte die Familie den Elektroherd viel dringender. Als Prunkstück und Staubfänger steht das Instrument nun so festlich wie nutzlos im Wohnzimmer. Weil der Vater, der es sich gewünscht hatte, es niemals spielen konnte. Er kam mit nur einem Arm aus dem Krieg zurück. Und der Sohn, von dem die Eltern meinen, dass er begabt sei und Klavierspielerhände habe, interessiert sich für andere Musik. Ein "Wanderer mit Koffergerät in der Hand und Plattenalbum unter dem Arm" sei er gewesen, sagt seine Mutter. Immerhin, wenn auch nicht zum Pianisten, hatte der Verstorbene es doch fast zum Professor Rat gebracht.
So wie der Vater, der in seinem ersten Leben vor dem Krieg Bauer war, nun Korsett tragen muss, um seinen Rücken und den Bauch im Gleichgewicht halten zu können, hat sich auch das Paar Zwänge auferlegt, um durchzuhalten. Treichel lässt dies anklingen, wenn er die Mutter noch im hohen Alter die Phrasen der frühen Bundesrepublik aufsagen lässt, dass Kinder der Spiegel der Eltern seien oder man die Menschen nehmen müsse, wie sie sind.
Die Mutter, die erzählend um ihren Sohn und zum ersten Mal auch um sich selbst trauert, hätte gern ein anderes Leben geführt. Wäre es nach ihr gegangen, wäre sie Lehrerin für Deutsch und Geschichte geworden, anstatt Arbeitskleidung zu verkaufen. Jetzt, in diesen letzten Stunden der Nacht, nimmt sie diese Aufgabe unverhofft wahr. Weil sie den Blick zurück in die Geschichte wagt und die Erzählung darüber zulässt.
Auch wenn ihr Geschreibsel mit dem Kugelschreiber unleserlich ist, wie sie feststellt, begreift sie, dass sie einen späten Sieg errungen hat. Wenn sie es nur deutlich ausspricht, was damals an jenem kalten Januartag 1945 in den polnischen Wäldern geschah, hat es keine Macht mehr über sie. Indem sie ein Leben lang schwieg, hat sie sich selbst verloren. Als der Buchfink die Nacht beendet, hat sie sich wiedergefunden.
SANDRA KEGEL
Hans-Ulrich Treichel: "Tagesanbruch".
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 86 S., geb., 17,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In Hans-Ulrich Treichels Erzählung "Tagesanbruch" nimmt eine Mutter Abschied von ihrem Sohn und kommt dabei endlich zu sich selbst.
Eine alte Frau sitzt an einem dämmernden Spätsommertag am Bett ihres Sohnes, der nach langer Krankheit soeben gestorben ist. Die Mutter hat ihn in den vergangenen Monaten zu Hause gepflegt. Nun könnte sie, wie verabredet, die Nachbarn informieren oder den Arzt rufen. Doch das tut sie nicht. Stattdessen wacht sie die Nacht am Bett ihres Kindes, hält den leblosen Körper, den sie zuvor vom Boden wieder ins Bett gewuchtet hat, im Arm und überlässt sich ihren Gedanken, so frei und offen wie vielleicht nie zuvor.
"Vor meinem toten Sohn fürchte ich mich", heißt es an zentrale Stelle, "aber vor mir selbst habe ich regelrecht Angst. Vor dem, was ich zu sagen habe. Was ich mir zu sagen habe." Trotzdem bricht sie mit dem Gebot ihrer Familie, dass es Dinge gibt, die man besser verschweigt, auch den Toten gegenüber. Bis sie jedoch zu ihrer eigentlichen Erzählung kommt, die von Flucht und Vertreibung in den letzten Kriegswochen aus dem Nordwesten der Ukraine handelt, einer Vergewaltigung durch russische Soldaten und einem lebenslangen Zweifel, vergeht beinahe die ganze Nacht. Nur im Schutz der Dunkelheit und nach mehr als einem halben Leben, das zurückliegt, ist ihr dieses, sie selbst am allermeisten bestürzende Geständnis möglich.
Die häufige Beschäftigung mit Kriegsmüttern und -vätern ist auffällig in der Literatur dieser Tage. Es sind Autoren eines bestimmten Alters, die sich, in den fünfziger Jahren geboren, nun, selbst älter geworden, der inzwischen zum größten Teil verschwundenen Elterngeneration während des Nationalsozialismus und danach zuwenden und aus der Rückschau insbesondere deren gescheiterten und erfüllten Hoffnungen nachgehen, mal mehr, mal weniger autobiographisch grundiert.
Stephan Wackwitz schrieb im vorigen Jahr einen Roman über das Leben seiner Mutter, einer Modezeichnerin, und wie es hätte sein können. Ralph Rothmann suchte in "Im Frühling sterben", zur selben Zeit erschienen, zu ergründen, was im Krieg geschehen konnte, das einen Vater so sehr veränderte, dass er sein Leben lang darüber schwieg. Und nun kreist Hans-Ulrich Treichels neue Erzählung "Tagesanbruch" um das Sagbare und Unsagbare eines familiären Traumas innerhalb dieser Generation.
Treichels auf knappstem Raum gehaltene Pietà, das Buch ist gerade sechsundachtzig Seiten lang, ähnelt in seiner Anlage Dostojewskis Erzählung "Die Sanfte" und ist in seiner reduzierten Sprache und poetologischen Strenge ergreifend und radikal zugleich. Es nimmt mit dem nächtlichen Versuch der Protagonistin, sich ihr Leben zu erzählen, begleitet vom wechselnden Gesang der Vögel, zugleich auf, was ihr Erfinder Hans Ulrich Treichel einmal über sein Schreiben gesagt hat. Dass er nämlich, immer wieder auf biographische Hinweise in seinen Büchern angesprochen, darin gar nichts Autobiographisches entdecken könne, weil auch er in sich nichts Autobiographisches habe. Ihm fehle eine "narrative Identität", seine eigene Lebenserzählung müsse er sich vielmehr fortlaufend erarbeiten. Es ist dieser Prozess, den auch seine weibliche Heldin vor "Tagesanbruch" durchmacht.
Denn auch wenn die biographische Wunde der Mutter (wie auch des verstorbenen Vaters) der innere Beweggrund für ihre Rede ist, kreist ihr Text für lange Zeit doch immer nur um diese Wunde, nähert sich an, um sich gleich darauf wieder zu entfernen und sich erst am Ende in immer enger werdenden Bögen doch noch auf den Schrecken einzulassen. Durch diese Bewegung der Gedanken entsteht so, ohne dass Treichels Text je ausschweifend würde, ein Interieur der fünfziger Jahre, dessen Muff und Biederkeit ursächlich von Angst geprägt ist.
Es ist die Angst der Vertriebenen, in der neuen Heimat wirtschaftlich nicht zu reüssieren. "Der Kunde ist unsere Existenzsicherung", hieß es in der Familie, "ohne den Kunden wären wir nichts". Es ist die Angst, gesellschaftlich nicht zu gefallen, weshalb man in die Kirche geht, obwohl dem jungen Paar das Gottvertrauen längst abhandengekommen war. Die gestickte Decke und das gute Geschirr wird für die Kaffeetafel nur sonntags herausgeholt, ansonsten ist der Tisch im Wohnzimmer der Buchführung vorbehalten. Das Paar arbeitet Tag und Nacht. Und das kleine Geschäft für Textilien und Arbeitskleidung, das sich die beiden aufgebaut haben, bedeutet ihre nicht nur finanzielle, sondern auch seelische Absicherung. Der Preis dafür ist die Leerstelle in ihrer Erinnerung.
Glanzstück dieser motivisch sorgfältig durchwirkten Erzählung ist das Schellackklavier, das eines Tages angeschafft wird, um das bürgerliche Arrangement zu vollenden, denn gebraucht hätte die Familie den Elektroherd viel dringender. Als Prunkstück und Staubfänger steht das Instrument nun so festlich wie nutzlos im Wohnzimmer. Weil der Vater, der es sich gewünscht hatte, es niemals spielen konnte. Er kam mit nur einem Arm aus dem Krieg zurück. Und der Sohn, von dem die Eltern meinen, dass er begabt sei und Klavierspielerhände habe, interessiert sich für andere Musik. Ein "Wanderer mit Koffergerät in der Hand und Plattenalbum unter dem Arm" sei er gewesen, sagt seine Mutter. Immerhin, wenn auch nicht zum Pianisten, hatte der Verstorbene es doch fast zum Professor Rat gebracht.
So wie der Vater, der in seinem ersten Leben vor dem Krieg Bauer war, nun Korsett tragen muss, um seinen Rücken und den Bauch im Gleichgewicht halten zu können, hat sich auch das Paar Zwänge auferlegt, um durchzuhalten. Treichel lässt dies anklingen, wenn er die Mutter noch im hohen Alter die Phrasen der frühen Bundesrepublik aufsagen lässt, dass Kinder der Spiegel der Eltern seien oder man die Menschen nehmen müsse, wie sie sind.
Die Mutter, die erzählend um ihren Sohn und zum ersten Mal auch um sich selbst trauert, hätte gern ein anderes Leben geführt. Wäre es nach ihr gegangen, wäre sie Lehrerin für Deutsch und Geschichte geworden, anstatt Arbeitskleidung zu verkaufen. Jetzt, in diesen letzten Stunden der Nacht, nimmt sie diese Aufgabe unverhofft wahr. Weil sie den Blick zurück in die Geschichte wagt und die Erzählung darüber zulässt.
Auch wenn ihr Geschreibsel mit dem Kugelschreiber unleserlich ist, wie sie feststellt, begreift sie, dass sie einen späten Sieg errungen hat. Wenn sie es nur deutlich ausspricht, was damals an jenem kalten Januartag 1945 in den polnischen Wäldern geschah, hat es keine Macht mehr über sie. Indem sie ein Leben lang schwieg, hat sie sich selbst verloren. Als der Buchfink die Nacht beendet, hat sie sich wiedergefunden.
SANDRA KEGEL
Hans-Ulrich Treichel: "Tagesanbruch".
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 86 S., geb., 17,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Treichels sprachlich und stilistisch hoch verdichtete Darstellung eines einfachen und zugleich unerhörten Lebens klingt lange nach.« Claus-Ulrich Bielefeld DIE WELT 20160716