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Brasiliens Klassikerin: Der erste Band der sämtlichen Erzählungen von Clarice Lispector bietet viel Neues
In Lateinamerika wird Clarice Lispector bewundert, verehrt und selbstverständlich zu den Großen der Weltliteratur gezählt. Bei uns galt die 1920 in der Ukraine geborene und 1977 in Brasilien gestorbene Autorin mit ihren bisher vier übersetzten Romanen immer als Geheimtipp, anspruchsvoll und rätselhaft. Mit ihrem ersten Werk, "Nahe dem wilden Herzen", begann ihr literarischer Erfolg. Da war sie erst dreiundzwanzig und steckte sich bereits ihr Ziel: seelische Vorgänge insbesondere von Frauen minutiös zu beschreiben. Heute klingt das nicht selten ein wenig überholt, zumal wenn man die tastenden Anfänge ihrer frühen Erzählungen liest. Aber das kann auch reizvoll sein, weil es die Entwicklung einer begabten Autorin zeigt, die Zeitströmungen auf ihre Weise folgt.
Clarice Lispector, Tochter einer jüdischen Familie und kurz nach der Geburt mit ihren Eltern und den beiden älteren Schwestern vor den Pogromen in der Ukraine geflohen, wuchs im armen Norden Brasiliens auf. Sie konnte die Schule in Rio de Janeiro besuchen und dort auch Jura studieren, wurde Lehrerin und arbeitete als Journalistin. Durch ihre Ehe mit einem Diplomaten, der brasilianischer Botschafter in Neapel, Bern und Washington wurde, lernte sie Europa kennen. Virginia Woolf und Katherine Mansfield wurden ihre Vorbilder. Aber außer dass alle diese drei Schriftstellerinnen aus einer weiblichen Perspektive die Welt sehen und mit fein verästelter Genauigkeit beschreiben, haben sie wenig gemeinsam.
Der Penguin Verlag hat nun den ersten Band sämtlicher Erzählungen (ein zweiter soll folgen) herausgebracht, die meisten davon zum ersten Mal in deutscher Sprache. "Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau" sind diese von Luis Ruby aus dem brasilianischen Portugiesisch übertragenen Texte überschrieben. Nach der ersten Gruppe von zehn Geschichten, über deren Qualität man streiten kann - insbesondere bei den "Briefen an Hermengardo" -, folgen "Familiäre Verbindungen". Auch hier fügen sich die Ich-Erzählerinnen den überlegenen Männern oder entwickeln ihnen gegenüber eine hasserfüllte Abwehr, die keinen glücklich macht. Kinder leiden hilflos unter den Spannungen zwischen ihren Eltern, alte Frauen verwandeln Güte in Boshaftigkeit, und der Humor, der gar nicht so selten aufblitzt, ist scharf, aber treffend.
Clarice Lispector verfügt über eine wunderbar reiche Sprache, oft braucht sie ermüdende, häufiger noch überraschende Vergleiche, um genau das auszudrücken, was sie meint. Die Handlung verliert dadurch an Spannung. Mit Dramatik zu fesseln ist allerdings auch gar nicht beabsichtigt: Clarice Lispector ist fasziniert von alltäglichen Szenen. Wie eine Frau vergeblich auf etwas wartet, was ihre Langeweile durchbrechen könnte, oder wie eine Familie den Geburtstag der angeblich so verehrten Großmutter feiert, das sind perfekte, mit hintergründiger Komik gewürzte Kabinettstücke erzählerischer Kunst. Clarice Lispector ist nur sechsundfünfzig Jahre alt geworden. Es lohnt, sie wieder zu entdecken.
MARIA FRISÉ
Clarice Lispector: "Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau". Sämtliche Erzählungen I.
Hrsg. von Benjamin Moser.
Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Luis Ruby. Penguin Verlag, München 2019. 414 S., geb., 24,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension
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