At some point, maybe twenty minutes after he'd begun refreshing Twitter, Tumblr, Facebook, Gmail in a continuous cycle - with an ongoing, affectless, humorless realisation that his day 'was over' - he noticed with confusion, having thought it was early morning, that it was 4:46PM Taipei is an ode - or lament - to the way we live now. Following Paul from New York, where he comically navigates Manhattan's art and literary scenes, to Taipei, Taiwan, where he confronts his family's roots, we see one relationship fail, while another is born on the internet and blooms into an unexpected wedding in Las Vegas. From one of this generation's most talked-about and enigmatic writers comes a deeply personal and uncompromising novel about memory, love, and what it means to be alive.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.12.2014Dann war da noch die Bloggerin aus Baltimore
Der Roman „Taipeh“ des jungen amerikanischen Autors Tao Lin ist eine Herausforderung –
er überführt das Genre des autobiografischen Monster-Projekts ins digitale Zeitalter
VON FLORIAN KESSLER
Wie besessen wird derzeit in Deutschland das Werk des norwegischen Schriftstellers Karl Ove Knausgård gelesen. Die Romane sind echte Longseller. Gleich mehrere Literaturkritiker haben in diesem Jahr darauf reagiert. Sie veröffentlichten auffällig subjektive Deutungen, in denen sie versuchten, dem eigentümlichen Reiz des sechsbändigen autobiografischen Romanprojekts auf die Spur zu kommen. Ihnen schien die Sogwirkung der Knausgård-Prosa vor allem durch den Verzicht auf ambitionierte Gestaltung zu entstehen. Knausgård erzählt scheinbar strukturlos immer weiter sein eigenes, letztlich recht unspektakuläres Leben. Das möglichst unbeschönigte Vor-sich-hin-Erzählen aber entfaltet beim Leser geradewegs existenzielle Dringlichkeit.
Das Werk des New Yorker Autors Tao Lin dagegen kommt in Deutschland derzeit gar nicht an. Wie auf einen Boxsack haben einige Kritiker auf seinen bisher wichtigsten, nun auch auf Deutsch erschienenen Roman „Taipeh“ eingeprügelt. Der Rezensent der Weltwusste sich nur mit einem Homer-Simpson-Zitat zu helfen: „Boooooring!“ Und der Rezensent der Zeitberichtete über eine „verquatschte, enervierende Lektüre“.
Da liegt doch die Frage nahe, ob die Reaktionen auf die beiden Werke nicht von derselben Sache erzählen. Immerhin dient das unbeschönigte Vor-sich-hin-Erzählen ein und dem gleichen Effekt: Statt dramatischer Straffung wird pure Alltäglichkeit simuliert. Gefühl für Gefühl und Banalität für Banalität beschreiben Karl Ove Knausgårds Romane das Dahinleben des norwegischen Möchtegern-Schriftstellers Karl Ove von den Siebzigerjahren an – Tao Lin versucht in seinem Roman etwas ganz ähnliches für einen etwas erfolgreicheren Jungschriftsteller im New York der Zehnerjahre. Zwei Selbstbespiegelungen wie aus Sirup sind das, ohne echte dramaturgische Höhepunkte, voll irrer Anstrengung, ungeschminkt das normale Leben abzubilden.
Warum dann aber derart unterschiedliche Reaktionen auf die beiden Versuche? Stellen wir zunächst fest, dass es immer die aufschlussreichsten Momente sind, wenn kulturelle Phänomene nicht in die gängigen Schablonen passen. Die Wertungsmaßstäbe spielen dann verrückt. Von aggressiver Ablehnung unter Rückgriff auf angeblich objektive Normen bis hin zu tastend persönlicher Lobpreisung ist alles möglich. Und im Übrigen besonders selten und kostbar im Fall von Belletristik, deren Formenkanon schon lange nicht mehr den Taktgeber ästhetischer Diskussionen darstellt.
Aber wer wollte das auch schon sein, Taktgeber, das wünscht man nun wirklich nicht den schlimmsten Popgöttinnen, Bloggern oder Premiumprovokateuren an den Hals. Womit wir beim zentralen Unterschied zwischen dem 1968 geborenen Knausgård und dem einige Medienrevolutionen später, 1983 geborenen Tao Lin wären: Mit unserer Gegenwart von ihren Popdiskursen bis zu Internetblogs hat Knausgårds autobiographisches Monsterprojekt wenig am Hut. Der junge Karl Ove in Knausgårds Romanen will Schriftsteller werden und spricht die ganze Zeit vom Schreiben. In seiner Welt ist die Literatur noch unbestritten das Zentrum aller Erfahrung.
Im autobiographischem Monsterprojekt des Ex-Journalismus-Studenten Tao Lin dagegen, das neben „Taipeh“ aus mehreren Gedichtbänden und Romanen und absolut gleichberechtigt dazu aus unfassbar vielen trashig-narzisstischen Blog-Einträgen, Facebook-Diskussionen, Youtube-Gelegenheitsvideos und Twitter-Updates besteht, ist Literatur als solche vollkommen egal. Es gibt auch kein anderes Zentrum aller Erfahrung.
Dem Roman-Spiegelbild von Tao Lin, dem Jungautor Paul, passiert im Zeitraum der Handlung zwischen November 2009 und Juli 2011 schlicht ebenso wenig wie Tao Lin selbst, der nahezu sämtliche Roman-Halberlebnisse auch zuvor schon in massenhaften Internet-Postings dokumentiert hat. Der nerdige, apathische, endlos einfach nur im Internet herumklickende Paul besucht zweimal seine Eltern, die nach einem amerikanischen Berufsleben nach Taiwan zurückgekehrt sind, in Taipeh, geht auf Lesereise durch die USA, durchläuft einen laschen Beziehungszyklus mit einer Bloggerin aus Baltimore und konsumiert eher lustlos jede Menge Drogen. Mehr ist nicht, das ist wirklich alles.
In Knausgårds kernigen Gefühlsschilderungen fühlte man sich rasch geborgen. Irgendwie schien man diese Männerwelt auch selbst zu kennen, in der ein Brief von der Angebeten noch folgendermaßen angenommen wurde: „Die Umstände mussten perfekt sein, also legte ich ihn beiseite, aß mit Nils Erik zu Abend, rauchte eine Zigarette und trank eine Tasse Kaffee, dann nahm ich den Brief mit ans Ufer, setzte mich auf einen Stein und öffnete ihn.“
Die von Lin dargestellte heutige Lebenswelt dagegen lässt sich schlicht nicht kernig schildern, obwohl auch ihre häufig auftretenden existenziellen Situationen – ganz geschlechtsunabhängig – nahezu jeder kennt: „Paul grinste im Stillen, als er sich auf den Rücken legte und seinen Kopf mit einem gefalteten Kissen stützte, das MacBook auf den Vorderseiten seiner Schenkel ruhend, beide Knie angewinkelt.“ In beiden Fällen herrscht bierernste, unironische Akribie allen Trivialitäten gegenüber, bloß dass sie bei Tao Lin auf anderes Terrain angewandt wird.
In den USA bezeichnet „New Sincerity“, neue Aufrichtigkeit, die Fülle von Ästhetiken der vergangenen Jahre, die sich wie Lin oder auch Knausgård gegen jegliche Form postmoderner Ironie verwahren. Ob das Bemühen um angebliche Aufrichtigkeit der Bücher, Filme und Kunstwerke Miranda Julys, oder Lena Dunhams deutlich kompromisslosere Selbstentblößungen seit ihrer TV-Serie „Girls“: Indem die eigene Individualität schonungslos thematisiert wird, soll dem Anspruch nach der Schleier von jeder ästhetischen Zweideutigkeit gerissen werden. In einer Mediengesellschaft, die sich im Netz ununterbrochen in diversen unterschiedlichen virtuellen Rollen inszeniert, ist solches vorgeführtes Ringen um Ehrlichkeit natürlich besonders aufregend.
Am Ende führt es jedoch in eine Art Sid-Vicious-Dilemma: Der ideal aufrichtige „New Sincerity“-Versuchsaufbau wäre keine Kunst mehr und müsste zugleich derart brachial authentisch ablaufen, dass vom dahinterstehenden Künstlerleben am Ende nur Scherben übrig blieben. Das Problem ist nur, dass nicht alle Lebenswirklichkeiten sich gleich gut als „authentisch“ aufbereiten lassen. Es gibt eben auch jede Menge Menschen, die sich selbst ganz und gar nicht als klar definiert oder authentisch empfinden. Womit wir bei der Pointe sind, mit der Tao Lins „Taipeh“ die Idee des gegenwärtigen „New Sincerity“-Realitätshungers erschüttert. Denn das Paradox sowohl des Dauer-Bloggers und Romanautors Tao Lin als auch seines Romans besteht darin, mit offensiv vorgeführter Ehrlichkeitsanstrengung aus einer Lebenswelt heraus zu erzählen, die vollkommen selbstverständlich durch Medieninszenierungen und überhaupt das komplett fragmentierte Multitasking-Leben in diversen Medien geprägt ist.
Die Begeisterung über ein scheinbar banal-wahres Erzählen wie von Knausgård ist auch die Begeisterung von Netzmenschen über das hundertprozentige Ausleben vordigitaler Befindlichkeiten. Tao Lins „Taipeh“ dagegen zelebriert fortwährend scheinbar banal das digitale Leben im und mit dem Netz – es behauptet so etwas wie „digitale Wahrheit“.
Das hat ebenso praktische wie bizarre Auswirkungen, wenn etwa mögliche Verliebtheiten statt physischer Techtelmechtel bevorzugt darin bestehen, seitenlang die vollständigen Facebook-Chroniken der Zielperson nachzuerzählen. Oder wenn als höchstmögliche Rausch-Eskalation immer wieder geschildert wird, wie dem benommen auf dem Rücken liegenden Paul sein iPhone aus der Hand auf das Gesicht fällt. Vor allem aber führt es zu einer kunstvoll amorphen Sprache für Pauls digital informierte Gedankenwelt. Erinnerungen etwa denkt sich Paul in Stephan Kleiners gelungen unpeinlicher Übersetzung als „Chronologie der Bilder“, „die man grob zu Diashows oder mit etwas Anstrengung vielleicht auch zu so etwas wie GIFs anordnen konnte“. Um dann über das Vergessen einer bestimmten Erinnerung die kurios fragmentierte Vorstellung zu entwickeln, Paul würde eines Tages „nicht einmal mehr wissen, dass er es vergessen hatte, wie wenn eine Scheune, die man einmal von einem fahrenden Zug aus gesehen hat, abgerissen wird und ihre hölzernen Bestandteile auf Lastwagen geladen und an einen anderen Ort gebracht werden.“
Man kann „Taipeh“ banal, langweilig und seltsam finden. Aber man kann nun wirklich nicht behaupten, dieses flirrende, kluge, großartig befremdliche Romankunstwerk würde nichts von heutiger Lebensrealität erzählen – für die der durch und durch mediengeformte Paul selbst im Roman bloß noch folgende geradezu anti-knausgårdsche Beschreibung findet: „Zunehmend aufwendige, trickreiche, unbewusste Projektion einer Realität“.
Es ist aufregend, wie jetzt auch die großen Romane auf den jedes einzelne Bewusstsein umformenden digitalen Wandel reagieren. Knausgårds letztlich unerfüllbare Sehnsucht nach analoger Wahrheit auf der einen Seite, Tao Lins letztlich unerfüllbare Sehnsucht nach digitaler Wahrheit auf der anderen: So balancieren wir durch das Jahrzehnt.
Tao Lin zelebriert in „Taipeh“
dauernd scheinbar banal
das aktuelle digitale Leben
Der ideal aufrichtige
„New Sincerity“-Versuchsaufbau
wäre natürlich keine Kunst mehr
Tao Lin, geboren 1983, studierte Journalismus an der New York University. Auf deutsch erschien von ihm zuerst der Roman „Gute Laune“ (2009).
Foto: Noah Kalina
Tao Lin: Taipeh. Roman
Aus dem Englischen von Stephan Kleiner. Dumont Buchverlag, Köln 2014.
288 Seiten, 19,99 Euro. E-Book 14,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Der Roman „Taipeh“ des jungen amerikanischen Autors Tao Lin ist eine Herausforderung –
er überführt das Genre des autobiografischen Monster-Projekts ins digitale Zeitalter
VON FLORIAN KESSLER
Wie besessen wird derzeit in Deutschland das Werk des norwegischen Schriftstellers Karl Ove Knausgård gelesen. Die Romane sind echte Longseller. Gleich mehrere Literaturkritiker haben in diesem Jahr darauf reagiert. Sie veröffentlichten auffällig subjektive Deutungen, in denen sie versuchten, dem eigentümlichen Reiz des sechsbändigen autobiografischen Romanprojekts auf die Spur zu kommen. Ihnen schien die Sogwirkung der Knausgård-Prosa vor allem durch den Verzicht auf ambitionierte Gestaltung zu entstehen. Knausgård erzählt scheinbar strukturlos immer weiter sein eigenes, letztlich recht unspektakuläres Leben. Das möglichst unbeschönigte Vor-sich-hin-Erzählen aber entfaltet beim Leser geradewegs existenzielle Dringlichkeit.
Das Werk des New Yorker Autors Tao Lin dagegen kommt in Deutschland derzeit gar nicht an. Wie auf einen Boxsack haben einige Kritiker auf seinen bisher wichtigsten, nun auch auf Deutsch erschienenen Roman „Taipeh“ eingeprügelt. Der Rezensent der Weltwusste sich nur mit einem Homer-Simpson-Zitat zu helfen: „Boooooring!“ Und der Rezensent der Zeitberichtete über eine „verquatschte, enervierende Lektüre“.
Da liegt doch die Frage nahe, ob die Reaktionen auf die beiden Werke nicht von derselben Sache erzählen. Immerhin dient das unbeschönigte Vor-sich-hin-Erzählen ein und dem gleichen Effekt: Statt dramatischer Straffung wird pure Alltäglichkeit simuliert. Gefühl für Gefühl und Banalität für Banalität beschreiben Karl Ove Knausgårds Romane das Dahinleben des norwegischen Möchtegern-Schriftstellers Karl Ove von den Siebzigerjahren an – Tao Lin versucht in seinem Roman etwas ganz ähnliches für einen etwas erfolgreicheren Jungschriftsteller im New York der Zehnerjahre. Zwei Selbstbespiegelungen wie aus Sirup sind das, ohne echte dramaturgische Höhepunkte, voll irrer Anstrengung, ungeschminkt das normale Leben abzubilden.
Warum dann aber derart unterschiedliche Reaktionen auf die beiden Versuche? Stellen wir zunächst fest, dass es immer die aufschlussreichsten Momente sind, wenn kulturelle Phänomene nicht in die gängigen Schablonen passen. Die Wertungsmaßstäbe spielen dann verrückt. Von aggressiver Ablehnung unter Rückgriff auf angeblich objektive Normen bis hin zu tastend persönlicher Lobpreisung ist alles möglich. Und im Übrigen besonders selten und kostbar im Fall von Belletristik, deren Formenkanon schon lange nicht mehr den Taktgeber ästhetischer Diskussionen darstellt.
Aber wer wollte das auch schon sein, Taktgeber, das wünscht man nun wirklich nicht den schlimmsten Popgöttinnen, Bloggern oder Premiumprovokateuren an den Hals. Womit wir beim zentralen Unterschied zwischen dem 1968 geborenen Knausgård und dem einige Medienrevolutionen später, 1983 geborenen Tao Lin wären: Mit unserer Gegenwart von ihren Popdiskursen bis zu Internetblogs hat Knausgårds autobiographisches Monsterprojekt wenig am Hut. Der junge Karl Ove in Knausgårds Romanen will Schriftsteller werden und spricht die ganze Zeit vom Schreiben. In seiner Welt ist die Literatur noch unbestritten das Zentrum aller Erfahrung.
Im autobiographischem Monsterprojekt des Ex-Journalismus-Studenten Tao Lin dagegen, das neben „Taipeh“ aus mehreren Gedichtbänden und Romanen und absolut gleichberechtigt dazu aus unfassbar vielen trashig-narzisstischen Blog-Einträgen, Facebook-Diskussionen, Youtube-Gelegenheitsvideos und Twitter-Updates besteht, ist Literatur als solche vollkommen egal. Es gibt auch kein anderes Zentrum aller Erfahrung.
Dem Roman-Spiegelbild von Tao Lin, dem Jungautor Paul, passiert im Zeitraum der Handlung zwischen November 2009 und Juli 2011 schlicht ebenso wenig wie Tao Lin selbst, der nahezu sämtliche Roman-Halberlebnisse auch zuvor schon in massenhaften Internet-Postings dokumentiert hat. Der nerdige, apathische, endlos einfach nur im Internet herumklickende Paul besucht zweimal seine Eltern, die nach einem amerikanischen Berufsleben nach Taiwan zurückgekehrt sind, in Taipeh, geht auf Lesereise durch die USA, durchläuft einen laschen Beziehungszyklus mit einer Bloggerin aus Baltimore und konsumiert eher lustlos jede Menge Drogen. Mehr ist nicht, das ist wirklich alles.
In Knausgårds kernigen Gefühlsschilderungen fühlte man sich rasch geborgen. Irgendwie schien man diese Männerwelt auch selbst zu kennen, in der ein Brief von der Angebeten noch folgendermaßen angenommen wurde: „Die Umstände mussten perfekt sein, also legte ich ihn beiseite, aß mit Nils Erik zu Abend, rauchte eine Zigarette und trank eine Tasse Kaffee, dann nahm ich den Brief mit ans Ufer, setzte mich auf einen Stein und öffnete ihn.“
Die von Lin dargestellte heutige Lebenswelt dagegen lässt sich schlicht nicht kernig schildern, obwohl auch ihre häufig auftretenden existenziellen Situationen – ganz geschlechtsunabhängig – nahezu jeder kennt: „Paul grinste im Stillen, als er sich auf den Rücken legte und seinen Kopf mit einem gefalteten Kissen stützte, das MacBook auf den Vorderseiten seiner Schenkel ruhend, beide Knie angewinkelt.“ In beiden Fällen herrscht bierernste, unironische Akribie allen Trivialitäten gegenüber, bloß dass sie bei Tao Lin auf anderes Terrain angewandt wird.
In den USA bezeichnet „New Sincerity“, neue Aufrichtigkeit, die Fülle von Ästhetiken der vergangenen Jahre, die sich wie Lin oder auch Knausgård gegen jegliche Form postmoderner Ironie verwahren. Ob das Bemühen um angebliche Aufrichtigkeit der Bücher, Filme und Kunstwerke Miranda Julys, oder Lena Dunhams deutlich kompromisslosere Selbstentblößungen seit ihrer TV-Serie „Girls“: Indem die eigene Individualität schonungslos thematisiert wird, soll dem Anspruch nach der Schleier von jeder ästhetischen Zweideutigkeit gerissen werden. In einer Mediengesellschaft, die sich im Netz ununterbrochen in diversen unterschiedlichen virtuellen Rollen inszeniert, ist solches vorgeführtes Ringen um Ehrlichkeit natürlich besonders aufregend.
Am Ende führt es jedoch in eine Art Sid-Vicious-Dilemma: Der ideal aufrichtige „New Sincerity“-Versuchsaufbau wäre keine Kunst mehr und müsste zugleich derart brachial authentisch ablaufen, dass vom dahinterstehenden Künstlerleben am Ende nur Scherben übrig blieben. Das Problem ist nur, dass nicht alle Lebenswirklichkeiten sich gleich gut als „authentisch“ aufbereiten lassen. Es gibt eben auch jede Menge Menschen, die sich selbst ganz und gar nicht als klar definiert oder authentisch empfinden. Womit wir bei der Pointe sind, mit der Tao Lins „Taipeh“ die Idee des gegenwärtigen „New Sincerity“-Realitätshungers erschüttert. Denn das Paradox sowohl des Dauer-Bloggers und Romanautors Tao Lin als auch seines Romans besteht darin, mit offensiv vorgeführter Ehrlichkeitsanstrengung aus einer Lebenswelt heraus zu erzählen, die vollkommen selbstverständlich durch Medieninszenierungen und überhaupt das komplett fragmentierte Multitasking-Leben in diversen Medien geprägt ist.
Die Begeisterung über ein scheinbar banal-wahres Erzählen wie von Knausgård ist auch die Begeisterung von Netzmenschen über das hundertprozentige Ausleben vordigitaler Befindlichkeiten. Tao Lins „Taipeh“ dagegen zelebriert fortwährend scheinbar banal das digitale Leben im und mit dem Netz – es behauptet so etwas wie „digitale Wahrheit“.
Das hat ebenso praktische wie bizarre Auswirkungen, wenn etwa mögliche Verliebtheiten statt physischer Techtelmechtel bevorzugt darin bestehen, seitenlang die vollständigen Facebook-Chroniken der Zielperson nachzuerzählen. Oder wenn als höchstmögliche Rausch-Eskalation immer wieder geschildert wird, wie dem benommen auf dem Rücken liegenden Paul sein iPhone aus der Hand auf das Gesicht fällt. Vor allem aber führt es zu einer kunstvoll amorphen Sprache für Pauls digital informierte Gedankenwelt. Erinnerungen etwa denkt sich Paul in Stephan Kleiners gelungen unpeinlicher Übersetzung als „Chronologie der Bilder“, „die man grob zu Diashows oder mit etwas Anstrengung vielleicht auch zu so etwas wie GIFs anordnen konnte“. Um dann über das Vergessen einer bestimmten Erinnerung die kurios fragmentierte Vorstellung zu entwickeln, Paul würde eines Tages „nicht einmal mehr wissen, dass er es vergessen hatte, wie wenn eine Scheune, die man einmal von einem fahrenden Zug aus gesehen hat, abgerissen wird und ihre hölzernen Bestandteile auf Lastwagen geladen und an einen anderen Ort gebracht werden.“
Man kann „Taipeh“ banal, langweilig und seltsam finden. Aber man kann nun wirklich nicht behaupten, dieses flirrende, kluge, großartig befremdliche Romankunstwerk würde nichts von heutiger Lebensrealität erzählen – für die der durch und durch mediengeformte Paul selbst im Roman bloß noch folgende geradezu anti-knausgårdsche Beschreibung findet: „Zunehmend aufwendige, trickreiche, unbewusste Projektion einer Realität“.
Es ist aufregend, wie jetzt auch die großen Romane auf den jedes einzelne Bewusstsein umformenden digitalen Wandel reagieren. Knausgårds letztlich unerfüllbare Sehnsucht nach analoger Wahrheit auf der einen Seite, Tao Lins letztlich unerfüllbare Sehnsucht nach digitaler Wahrheit auf der anderen: So balancieren wir durch das Jahrzehnt.
Tao Lin zelebriert in „Taipeh“
dauernd scheinbar banal
das aktuelle digitale Leben
Der ideal aufrichtige
„New Sincerity“-Versuchsaufbau
wäre natürlich keine Kunst mehr
Tao Lin, geboren 1983, studierte Journalismus an der New York University. Auf deutsch erschien von ihm zuerst der Roman „Gute Laune“ (2009).
Foto: Noah Kalina
Tao Lin: Taipeh. Roman
Aus dem Englischen von Stephan Kleiner. Dumont Buchverlag, Köln 2014.
288 Seiten, 19,99 Euro. E-Book 14,99 Euro.
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