Ein unvergesslicher Held und seine abenteuerliche Reise durch Japan Dieser Roman hat allein in Japan 250.000 Leserinnen und Leser verzaubert und wurde mit einem der wichtigsten japanischen Literaturpreise ausgezeichnet. Er erzählt anhand eines Hundes und seiner verschiedenen Besitzer eine unvergessliche, Hoffnung spendende Geschichte von Mensch, Tier und Natur. Japan 2011, kurz nach dem Tōhoku-Erdbeben: Viele Existenzen sind zerstört, das Leben der Menschen nicht mehr so, wie es einmal war. Neben einem Convenience Store nahe der japanischen Alpen findet der junge Kazumasa einen herrenlos streunenden Schäferhund, der ihm nicht mehr von der Seite weicht. Er findet heraus, dass der Hund Tamon heißt. Tamon bereitet vor allem Kazumasas an Demenz erkrankter Mutter große Freude. Doch dann wird Kazumasa Opfer einer Bande und Tamon zieht es nach Süden, auf einer Reise durch atemberaubende Landschaften, in denen er einem Dieb, einer Prostituierten, einem jungen Paar und einem Jäger begegnet. Alle, die Tamon treffen, werden von dieser Begegnung verändert, während Tamon nie lange verweilt, um weiter zu reisen – bis er am Ende, tief im Süden, sein Ziel erreicht.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.04.2022Dreifach gebeutelt
Seishü Hases Roman porträtiert Japan in Not
Der 1965 geborene japanische Bestseller-Autor Seishü Hase wurde mit Werken wie "Sleepless Town" und "Tokyo Babylon" vor allem als Krimiautor und Unterweltpoet bekannt. Mit seinem vor dem Hintergrund der japanischen Dreifachkatastrophe von 2011 spielenden Roman "Tamons Geschichte", für den er 2020 den Naoki-Preis erhielt, hat er nun eine Ode auf den Hund als Seelentröster und Schicksalsgefährten des Menschen und zugleich eine berührende Wiederfindungsgeschichte des Glücks geschrieben.
Die Erzählung entfaltet sich in den Nachwehen des Desasters in der durch Erdbeben, Tsunami und Reaktorunfall zugleich versehrten Region Tohoku im Norden Japans, als ein herrenlos gewordener Mischlingshund namens Tamon eine von einem inneren Kompass geleitete Reise in Richtung Süden antritt. In sechs Episoden gewinnt der laut seinem Hundechip aus Kamaishi stammende Streuner das Herz eines "Herrchens auf Zeit" und erfüllt, bevor er wieder seine Fährte aufnimmt und sich bis zum nächsten Besitzer durch die Wildnis schlägt, eine therapeutische Mission: Sein Name ist vom buddhistischen Schutzgott "Tamonten" abgeleitet. In einer melodramatischen tierliterarischen Queste, die Tamon mit Außenseitern, Gestrandeten, Landwirten, Jägern, Juwelenräubern oder Prostituierten zusammenführt, arbeitet er sich unbeirrt gen Süden vor.
Zerrieben von den Launen, Zyklen, Teufelskreisen und unerbittlichen Gewalten der Gesellschaft und Natur, sind die wechselnden Herrchen und Helden der Geschichte in legalen und illegalen Überlebenskämpfen verstrickt. Der Hund erweist sich als empathisch begabter Menschenflüsterer, der seinen in den Trümmerlandschaften ihrer Seelen verirrten Besitzern geheime Botschaften, Trost und Läuterung vermittelt. So wird Tamon auch von Kleinkriminellen aufgelesen: Er wird unfreiwilliger Schutzgott eines Trios von Dieben, das die Region Tohoku nach den Wirren der Katastrophe als Selbstbedienungsladen benutzt. Beim Raubzug und Roadtrip mit dem Hund als teilnehmendem Beobachter menschlicher Intrigen entwickeln die drei Diebe ein Unrechtsbewusstsein.
In einem anderen Kapitel, "Das Ehepaar und der Hund" betitelt, wirkt der aufgesammelte Hund als unparteiischer "Richter", Abkühlbecken von ehelichem Frust und Beziehungskitt. Die göttliche Aura der Tiere steht bei Hase kontrapunktisch zu Machenschaften und Unmoral der Menschen. Buddhistische Züge hat die Episode "Der alte Mann und der Hund" über einen früheren Jäger in der Präfektur Shimane. Anders als seine vorherigen Jagdhunde hält er den ihm zugelaufenen Tamon, der dem "Geruch von Einsamkeit und Tod" gefolgt ist, als Haushund in der Wohnung. Der krebskranke Mann, der sich einer Chemotherapie widersetzt, möchte statt von Apparaten von Hundeliebe umgeben sterben. Als der Alte, von der Gemeinde dazu gedrängt, auf eine letzte Pirsch auf einen Bären geht, wird er versehentlich von einem Kollegen angeschossen: Bei seinem von Tamon bewachten Sterben sorgt sich der Jäger, der unzählige Leben genommen hatte und nun selbst von einem Jagdgewehr getötet wurde, um sein Karma.
Politische Aspekte der Fukushima-Katastrophe bleiben bei Hase etwas unterbelichtet, aber es klingen Themen wie ökologisches Versagen, Geburtenrückgang, Landflucht, die Vernachlässigung der Peripherie und des gesellschaftlichen Prekariats an. Im Schlusskapitel, "Der Junge und der Hund", wird nach fünfjähriger Odyssee Tamons rätselhafter Drang nach Süden aufgelöst. Und auch, warum der stumme Sohn der neuen, wie Tamon aus Kamaishi stammenden Familie, die ihn aufnimmt, im Beisein Tamons plötzlich wieder spricht. Als sich auch dort, im südlichen Kumamoto, eine Erdbebenkatastrophe ereignet, übernimmt der Hund die Initiative.
Hase, der in einem Interview Tamons Wirken mit einem vagabundierenden Westernhelden verglichen hat, der Unrecht, Leid und Ränkespiele der Spezies Mensch besiegt, ehe er weiterzieht, vereint in seinem Roman westliche und östliche Motive wie "Lassie" oder den Kult um den treuen Tokioter Hund Hachiko. "Tamons Geschichte" ist eine wunderbar leise Resilienz-Erzählung über Tierwohl, Menschenwürde und die Verbundenheit aller Lebewesen in verdunkelter Zeit. STEFFEN GNAM
Seishü Hase: "Tamons Geschichte". Roman einer Reise nach Süden.
A. d. Japanischen von Luise Steggewentz. Hoffmann und Campe, Hamburg 2022. 288 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Seishü Hases Roman porträtiert Japan in Not
Der 1965 geborene japanische Bestseller-Autor Seishü Hase wurde mit Werken wie "Sleepless Town" und "Tokyo Babylon" vor allem als Krimiautor und Unterweltpoet bekannt. Mit seinem vor dem Hintergrund der japanischen Dreifachkatastrophe von 2011 spielenden Roman "Tamons Geschichte", für den er 2020 den Naoki-Preis erhielt, hat er nun eine Ode auf den Hund als Seelentröster und Schicksalsgefährten des Menschen und zugleich eine berührende Wiederfindungsgeschichte des Glücks geschrieben.
Die Erzählung entfaltet sich in den Nachwehen des Desasters in der durch Erdbeben, Tsunami und Reaktorunfall zugleich versehrten Region Tohoku im Norden Japans, als ein herrenlos gewordener Mischlingshund namens Tamon eine von einem inneren Kompass geleitete Reise in Richtung Süden antritt. In sechs Episoden gewinnt der laut seinem Hundechip aus Kamaishi stammende Streuner das Herz eines "Herrchens auf Zeit" und erfüllt, bevor er wieder seine Fährte aufnimmt und sich bis zum nächsten Besitzer durch die Wildnis schlägt, eine therapeutische Mission: Sein Name ist vom buddhistischen Schutzgott "Tamonten" abgeleitet. In einer melodramatischen tierliterarischen Queste, die Tamon mit Außenseitern, Gestrandeten, Landwirten, Jägern, Juwelenräubern oder Prostituierten zusammenführt, arbeitet er sich unbeirrt gen Süden vor.
Zerrieben von den Launen, Zyklen, Teufelskreisen und unerbittlichen Gewalten der Gesellschaft und Natur, sind die wechselnden Herrchen und Helden der Geschichte in legalen und illegalen Überlebenskämpfen verstrickt. Der Hund erweist sich als empathisch begabter Menschenflüsterer, der seinen in den Trümmerlandschaften ihrer Seelen verirrten Besitzern geheime Botschaften, Trost und Läuterung vermittelt. So wird Tamon auch von Kleinkriminellen aufgelesen: Er wird unfreiwilliger Schutzgott eines Trios von Dieben, das die Region Tohoku nach den Wirren der Katastrophe als Selbstbedienungsladen benutzt. Beim Raubzug und Roadtrip mit dem Hund als teilnehmendem Beobachter menschlicher Intrigen entwickeln die drei Diebe ein Unrechtsbewusstsein.
In einem anderen Kapitel, "Das Ehepaar und der Hund" betitelt, wirkt der aufgesammelte Hund als unparteiischer "Richter", Abkühlbecken von ehelichem Frust und Beziehungskitt. Die göttliche Aura der Tiere steht bei Hase kontrapunktisch zu Machenschaften und Unmoral der Menschen. Buddhistische Züge hat die Episode "Der alte Mann und der Hund" über einen früheren Jäger in der Präfektur Shimane. Anders als seine vorherigen Jagdhunde hält er den ihm zugelaufenen Tamon, der dem "Geruch von Einsamkeit und Tod" gefolgt ist, als Haushund in der Wohnung. Der krebskranke Mann, der sich einer Chemotherapie widersetzt, möchte statt von Apparaten von Hundeliebe umgeben sterben. Als der Alte, von der Gemeinde dazu gedrängt, auf eine letzte Pirsch auf einen Bären geht, wird er versehentlich von einem Kollegen angeschossen: Bei seinem von Tamon bewachten Sterben sorgt sich der Jäger, der unzählige Leben genommen hatte und nun selbst von einem Jagdgewehr getötet wurde, um sein Karma.
Politische Aspekte der Fukushima-Katastrophe bleiben bei Hase etwas unterbelichtet, aber es klingen Themen wie ökologisches Versagen, Geburtenrückgang, Landflucht, die Vernachlässigung der Peripherie und des gesellschaftlichen Prekariats an. Im Schlusskapitel, "Der Junge und der Hund", wird nach fünfjähriger Odyssee Tamons rätselhafter Drang nach Süden aufgelöst. Und auch, warum der stumme Sohn der neuen, wie Tamon aus Kamaishi stammenden Familie, die ihn aufnimmt, im Beisein Tamons plötzlich wieder spricht. Als sich auch dort, im südlichen Kumamoto, eine Erdbebenkatastrophe ereignet, übernimmt der Hund die Initiative.
Hase, der in einem Interview Tamons Wirken mit einem vagabundierenden Westernhelden verglichen hat, der Unrecht, Leid und Ränkespiele der Spezies Mensch besiegt, ehe er weiterzieht, vereint in seinem Roman westliche und östliche Motive wie "Lassie" oder den Kult um den treuen Tokioter Hund Hachiko. "Tamons Geschichte" ist eine wunderbar leise Resilienz-Erzählung über Tierwohl, Menschenwürde und die Verbundenheit aller Lebewesen in verdunkelter Zeit. STEFFEN GNAM
Seishü Hase: "Tamons Geschichte". Roman einer Reise nach Süden.
A. d. Japanischen von Luise Steggewentz. Hoffmann und Campe, Hamburg 2022. 288 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Bewegt hat Rezensent Steffen Gnam diesen Roman des japanischen Autors Seishu Hase gelesen, den er als herrlich "leise Resilienz-Erzählung" empfiehlt. Erzählt wird die Geschichte des Hundes Tamon, der nach Erdbeben, Tsunami und Reaktorunfall durch die Region Tohoku von Herrchen zu Herrchen streunt, zu Landwirten, Kleinkriminellen, Außenseitern und Gestrandeten und jenen Trost spendet. Das Politische spielt in dieser "tierliterarischen Queste" keine besonders große Rolle, der Buddhismus, aber auch Verweise auf die westliche Kultur umso mehr, informiert der Kritiker. Und Einblicke in Themen der japanischen Gesellschaft wie Geburtenrückgang oder Landflucht erhält er hier auch.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
» Tamons Geschichte ist eine wunderbar leise Resilienz-Erzählung über Tierwohl, Menschenwürde und die Verbundenheit aller Lebewesen in verdunkelter Zeit.« Steffen Gnam Frankfurter Allgemeine Zeitung 20220407