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"Kriminalität" und "Recht" in nationalsozialistischen Ghettos - ein Thema, das auf den ersten Blick vielleicht verblüfft, sah man doch das Leben der von den Deutschen verfolgten und schließlich mehrheitlich ermordeten Juden Europas eher in einem rechtsfreien Raum der absoluten Willkür angesiedelt, der alle Rechtsvorstellungen ad absurdum führte. Und doch entwickelte sich in den Ghettos eine eigene Rechtssphäre. Die Deutschen erzwangen oft unmittelbar nach der Besetzung die Einrichtung von sogenannten Judenräten. Ihnen wurde in den Ghettos die Aufgabe zugewiesen, die antijüdischen Maßnahmen zu…mehr
"Kriminalität" und "Recht" in nationalsozialistischen Ghettos - ein Thema, das auf den ersten Blick vielleicht verblüfft, sah man doch das Leben der von den Deutschen verfolgten und schließlich mehrheitlich ermordeten Juden Europas eher in einem rechtsfreien Raum der absoluten Willkür angesiedelt, der alle Rechtsvorstellungen ad absurdum führte. Und doch entwickelte sich in den Ghettos eine eigene Rechtssphäre. Die Deutschen erzwangen oft unmittelbar nach der Besetzung die Einrichtung von sogenannten Judenräten. Ihnen wurde in den Ghettos die Aufgabe zugewiesen, die antijüdischen Maßnahmen zu verkünden und zu vollziehen, die Umsetzung der von den Deutschen aufgestellten Forderungen nach Wertgegenständen und Arbeitskräften zu organisieren und letztlich den Massenmord reibungsloser zu ermöglichen. Die Judenräte entwickelten neue Definitionen von Kriminalität und Recht, die sie mit Hilfe der jüdischen Polizei, von Gerichten und Gefängnissen im Ghetto durchzusetzen versuchten. Stets ging es dabei um Handlungen, die als Gefahr für die Ghettogemeinschaft eingeordnet wurden. Neben Schmuggel gab es Delikte wie "illegale Süßwarenproduktion", das Fälschen von Lebensmittelkarten, sexuellen Missbrauch und ghettointerne Morde. Svenja Bethke zeichnet ein vielschichtiges Bild der Ghettogemeinschaft, bei der es sich - entgegen häufigen Überlieferungen - nicht einfach um eine solidarische Opfergemeinschaft gehandelt hat, die als Kollektiv ums Überleben kämpft. Am Beispiel der Ghettos Warschau, Litzmannstadt und Wilna beschreibt Svenja Bethke, auf welche Weise die jüdischen Instanzen bemüht waren, das Recht als Instrument des Schutzes der Gemeinschaft und der Aufrechterhaltung einer internen Moral einzusetzen. Sie schildert die tragische Chancenlosigkeit und den letztlich aussichtslosen Versuch einer Anpassung an erzwungene Lebensverhältnisse.
Dr. Svenja Bethke ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für die Geschichte der deutschen Juden (IGdJ). Sie hat an der Universität Hamburg Geschichte, Jura, Politologie und Osteuropastudien studiert. Im Rahmen eines Promotionsstipendiums der Hans-Böckler-Stiftung hat sie von 2009-2013 am Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte der Universität Hamburg eine Dissertation über Kriminalitäts- und Rechtsvorstellungen in nationalsozialistischen Ghettos verfasst. Sie war zudem Stipendiatin der Hansen-Stiftung der Universität Passau, des Schroubek-Fonds Östliches Europa der LMU, am Institute for Jewish Research (YIVO) in New York sowie am Deutschen Historischen Institut (DHI) in Warschau. Für ihre Dissertation wurde ihr vom Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa (BKGE) der Immanuel-Kant-Forschungspreis der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien verliehen und 2015 erhielt sie den Forschungspreis des Generalkonsuls der Republik Polen in Hamburg.
Inhaltsangabe
Einleitung I. Kriminalität und Recht in der "Lebenswelt Ghetto" "Lebenswelt Ghetto" - "jüdische" oder "menschliche" Erfahrung? Definitionen von Kriminalität und Recht II. Nationalsozialistische "Judenpolitik" in Osteuropa und die Perspektive der Judenräte Die Ghettoisierung der jüdischen Bevölkerung Deutsche Kerninteressen im Wandel Neue Definitionen von Kriminalität Willkürliches Handeln und paradoxe Entwicklungen Die Überlebensstrategien der Judenräte III. Die Bekanntmachungen der Judenräte - Definitionen von kriminellem Handeln Deutsche Forderungen und ihre Überführung in die ghettointerne Zuständigkeit Ghettointerne Regeln und Sanktionen Deutsche Forderungen im Rahmen der Deportationen IV. Die jüdische Polizei als Exekutivorgan Die Einrichtung der jüdischen Polizeiorgane Versuche interner Gestaltung Strafverfolgung und Ermittlungen Deliktdefinitionen in der Praxis der jüdischen Polizeiorgane V. Die ghettointernen Gerichte Institutionelle Rahmenbedingungen Offizielle und inoffizielle Abgrenzungen zur deutschen Gerichtsbarkeit Rechtstraditionen und Berufserfahrungen Exkurs: Jüdische Gerichte und jüdisches Recht in historischer Perspektive Verhandelte Rechtsfälle "Mildernde Umstände" und Amnestien Spezifische Rechtsprobleme VI. Der Strafvollzug im Ghetto Das Spektrum der Strafen Die ghettointernen Zentralgefängnisse VII. Die "einfachen" Ghettobewohner und ihr Bezug auf die "inneren" und "äußeren" Autoritäten Zum Umgang mit ghettointernen Rechtsinstanzen Wege der Beschwerde Kriminalität als Widerstand? Kriminalität und Recht zwischen "äußerer Macht" und "innerer Autonomie" - Schlussbetrachtungen Danksagung Anhang Abkürzungsverzeichnis Quellen- und Literaturverzeichnis
Einleitung I. Kriminalität und Recht in der "Lebenswelt Ghetto" "Lebenswelt Ghetto" - "jüdische" oder "menschliche" Erfahrung? Definitionen von Kriminalität und Recht II. Nationalsozialistische "Judenpolitik" in Osteuropa und die Perspektive der Judenräte Die Ghettoisierung der jüdischen Bevölkerung Deutsche Kerninteressen im Wandel Neue Definitionen von Kriminalität Willkürliches Handeln und paradoxe Entwicklungen Die Überlebensstrategien der Judenräte III. Die Bekanntmachungen der Judenräte - Definitionen von kriminellem Handeln Deutsche Forderungen und ihre Überführung in die ghettointerne Zuständigkeit Ghettointerne Regeln und Sanktionen Deutsche Forderungen im Rahmen der Deportationen IV. Die jüdische Polizei als Exekutivorgan Die Einrichtung der jüdischen Polizeiorgane Versuche interner Gestaltung Strafverfolgung und Ermittlungen Deliktdefinitionen in der Praxis der jüdischen Polizeiorgane V. Die ghettointernen Gerichte Institutionelle Rahmenbedingungen Offizielle und inoffizielle Abgrenzungen zur deutschen Gerichtsbarkeit Rechtstraditionen und Berufserfahrungen Exkurs: Jüdische Gerichte und jüdisches Recht in historischer Perspektive Verhandelte Rechtsfälle "Mildernde Umstände" und Amnestien Spezifische Rechtsprobleme VI. Der Strafvollzug im Ghetto Das Spektrum der Strafen Die ghettointernen Zentralgefängnisse VII. Die "einfachen" Ghettobewohner und ihr Bezug auf die "inneren" und "äußeren" Autoritäten Zum Umgang mit ghettointernen Rechtsinstanzen Wege der Beschwerde Kriminalität als Widerstand? Kriminalität und Recht zwischen "äußerer Macht" und "innerer Autonomie" - Schlussbetrachtungen Danksagung Anhang Abkürzungsverzeichnis Quellen- und Literaturverzeichnis
Rezensionen
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Wer mehr über die repressive Gewalt in den Ghettos von Warschau, Litzmannstadt und Wilna erfahren möchte, dem legt Hans-Jürgen Döscher Svenja Bethkes Studie ans Herz. Der Historikerin gelingt laut Döscher eine herausragende Arbeit über die personellen und organisatorischen Veränderungen der Judenräte zwischen 1939 und 1944 auf Basis zeitgenössischer polnischer Quellen, namentlich Dokumente der jüdischen Selbstverwaltungsorgane, wie der Rezensent präzisiert. Bethkes Einführungen zur "Lebenswelt Ghetto" und NS-Judenpolitik in Osteuropa scheinen ihm sinnvoll. Ebenso die Einteilung des Buches in fünf Kapitel und die thematischen Schwerpunktsetzungen, die sich etwa den ghettointernen Gerichten oder der jüdischen Polizei zuwenden.