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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
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In seinem neuen Roman erzählt
Mathias Énard von deutscher
Gewaltgeschichte in Zeiten des Ukrainekriegs
Der französische Schriftsteller Mathias Énard hat einen Roman über Deutschland geschrieben. Er selbst nannte ihn neulich in einem Gespräch, das er in Marbach mit Sandra Richter, der Leiterin des Deutschen Literaturarchivs, führte, "einen Roman über das 20. Jahrhundert". Das jedenfalls sei sein Ziel gewesen, auf relativ kurzer Strecke die Verwicklungen eines Jahrhunderts zu umreißen, das er am 11. September 2001 enden lässt. "Tanz des Verrats" (wie der leider austauschbare Titel im Deutschen heißt; im Französischen heißt das Buch "Déserter", also "Desertieren") spielt dabei über weite Strecken im Berliner Umland, auf der Havel bei Potsdam, nahe der Pfaueninsel, an Bord eines Ausflugsdampfers.
Dort findet am 11. September 2001 ein Kongress zu Ehren des Mathematikers Paul Heudeber statt, der in Énards Roman als Kommunist nach Buchenwald deportiert wurde, das KZ überlebte und in der DDR Mitglied des Zentralinstituts für Mathematik an der Ostberliner Akademie der Wissenschaften war. Heudeber hat sich, das jedenfalls nehmen viele seiner Weggefährten an, das Leben genommen, genau bekannt sind die Umstände seines Todes nicht. Und wenn nun ehemalige Kollegen, Heudebers Tochter, die Mathematikhistorikerin geworden ist, und deren Mutter, eine ehemalige Widerstandskämpferin, die Paul nach dem Krieg nicht in den Osten begleitete, sondern im Westen blieb, auf dem Schiff zusammenkommen, dann ist von Beginn an spürbar, dass hier etwas nicht stimmt. Und dass dies nicht nur etwas mit dem 11. September zu tun hat, von dessen weiterem Verlauf am Morgen der Zusammenkunft niemand etwas ahnt. Sondern auch mit Paul Heudeber selbst und mit dem, was bei den Vorträgen auf dem Schiff über ihn enthüllt wird.
Mathias Énard hat gesagt, einer der Gründe, diesen neuen Roman zu schreiben, habe für ihn darin gelegen, dass mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine der Krieg nach Europa zurückgekommen sei. Die Art und Weise, wie Ukrainer durch Russland strategisch als "Nazis" dargestellt worden seien, habe ihn darin bestärkt, dass es richtig sei, in diesem Moment einen historischen Roman zu schreiben. Für Énard ist das typisch. Während andere die Gegenwart selbst zum Thema machen oder ein literarisches Szenario der nahen Zukunft entwerfen würden, wählt der Franzose in seinem Werk den Blick zurück.
Das war in seinem gefeierten Bewusstseinsstromroman "Zone" so, wo er sich den Kriegen des 20. Jahrhunderts widmete, wie auch in "Der Kompass", dem Roman, für den Énard 2015 den Prix Goncourt erhielt. Der ging der Frage nach, welchen Einfluss der Islam auf die gesellschaftlichen Verhältnisse habe. Ein Wiener Musikwissenschaftler erinnert sich anhand von Büchern und Melodien an seine Reisen durch den Orient. Wie der Okzident vom Orient kulturell durchdrungen ist, das ist Énards Thema. Es ist die Beschwörung eines Bildungsschatzes, den er der Gegenwart entgegensetzen will, ohne von der Gegenwart zu erzählen.
In "Tanz des Verrats" ist es die Tochter des Mathematikers, die von heute aus, wo "der Krieg in aller Munde" ist, erzählt und in Erfahrung zu bringen versucht, was sie über die Geschichte ihrer Eltern noch nicht weiß. Gegengeschnitten werden diese Passagen mit einer Art Selbstgespräch eines Deserteurs, der in einem nicht näher benannten Krieg, die Uniform noch am Körper, durch eine karge Mittelmeerlandschaft stolpert. Ein Kriegsverbrecher auf dem Rückzug, der einem Kriegsopfer begegnet, einer Frau, die erneut Opfer einer Vergewaltigung werden wird. Denn Gewalt findet bei Énard kein Ende - auch das eine der bitteren Lehren des gewaltsamen 20. Jahrhunderts.
Wenn das Buch dennoch so etwas wie Hoffnung anklingen lässt, einen Horizont aufreißt, dann immer nur kurz: Der Kriegsverbrecher bringt die Frau nicht um, sondern beginnt, sie zu pflegen. Paul Heudeber, der sich selbst als "antifaschistischen Mathematiker" bezeichnet hat und in Buchenwald seine "Ettersberger Vermutungen" schrieb, eine Verbindung von Lyrik und Formeln, begriff die Mathematik (jedenfalls sagen das die anderen über ihn) als Hoffnungsspender. Dass er seinem Leben aus Verzweiflung über das Verschwinden der DDR und der Rückkehr des Kriegs nach Europa ein Ende setzt, legt der Roman jedoch nahe. Dass die Türme des World Trade Centers einstürzen werden, ist aus der Perspektive derjenigen, die vom Kongress an der Havel erzählt, Gewissheit. Dass Russland die Ukraine überfällt, auch.
Und es gibt, wenn Énard von der Geschichte der Pfaueninsel, vom Blockhaus Nikolskoe oder der Kirche St. Peter und Paul erzählt, noch etwas anderes, das einen beim Lesen an die literarische Erzählung "Vor dem Anfang" des Schauspielers Burghart Klaußner erinnert. Darin schlagen sich am 23. April 1945 zwei Soldaten, die den Auftrag haben, die Geldkasse ihrer Einheit ins Reichsluftfahrtministerium zu bringen, zum Wannsee durch. Vom Strandbad Wannsee aus setzen deutsche Soldaten per Schiff auf die Pfaueninsel über, um die Russen abzuwehren. In den Wäldern dort wird ein russischer Scharfschütze erschossen.
Énard, dessen Debüt "Der perfekte Schuss" über einen Scharfschützen im vergangenen Jahr auf Deutsch wieder aufgelegt wurde, lässt diesen historischen Hintergrund unerwähnt. Dass der Ort, an dem seine Geschichte ihren Ausgangspunkt findet, in der Vergangenheit eine Kriegslandschaft war. Dass es zugleich die Grenze von Ost und West ist, erscheint aber nur konsequent. Idylle und Inferno liegen bei Mathias Énard immer nahe beieinander. JULIA ENCKE
Mathias Énard; "Tanz des Verrats". Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. Hanser Berlin, 257 Seiten, 25 Euro.
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