Ein verführerischer Thriller, eine schillernd surreale Erzählung und eine geistreiche Gegenwartssatire. Ein großstädtischer Junggesellen-Nomade ist Haruki Murakamis erzählender Held. Sein Leben ist aus der Spur geraten: 34-jährig, geschieden, ein Freund gestorben, von einer Frau ohne Erklärung verlassen. Wiederkehrende Träume und die Erinnerungen an Kiki, die »professionelle Traumfrau« und mysteriös verschwundene Geliebte, führen von Tokyo nach Sapporo ins Dolphin Hotel, eine ehemals schäbig-schrille Absteige, die zum glitzernden Luxuspalast geworden ist. Hier begann alles, hier wird alles enden – denn verborgen haust hier der Schafsmann: ein weise-orakelnder Alter, Schutzengel und Schatten des Erzählers. Seine sanfte Botschaft lautet: Tanz, tanz, tanz. »So gut du kannst. Du hast keine andere Wahl.« Auf der Suche nach einem neuen Leben verwickelt sich Haruki Murakamis Erzähler in seltsame Ereignisse. Er lernt die »Hotelfee« vom Empfang kennen, spürt einen ehemaligen Schulfreund auf, der zum Filmstar geworden, wird in ominöse Mordfälle hineingezogen und zum Beschützer der jungen Yuki, die ein Geheimnis mit ihm teilt. ›Tanz mit dem Schafsmann‹ ist ein virtuos und spannend aus reichen Lebensgeschichten verwobener Roman über die Lebenskonfusionen der westlichen Welt – wehmütig und übermütig, ausgelassen und klug.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.08.2002Der böse Maserati
Haruki Murakamis Roman
„Tanz mit dem Schafsmann”
Im Traum fühlt sich der Ich-Erzähler als Teil eines Hotels – nicht etwa als Mitglied der Belegschaft, sondern als Bestandteil des alten „Delfin”, einer heruntergekommenen Herberge in Sapporo. Wer sich in seinen Träumen in die Welt der Objekte eingliedert, so ahnen wir schon mit den ersten Zeilen, dessen Identität kann schwerlich als krisensicheres Ego dienen.
In seinen Beziehungen führt Haruki Murakamis namenlos bleibender Held ebenfalls ein fragiles Leben. Die Ehefrau ist ihm schon vor Jahren abhanden gekommen, und plötzlich war auch Kiki verschwunden, eine Edelnutte, mit der er einst im „Delfin” abgestiegen war. Nach einer Zeit des inneren Stillstands war er zurückgekehrt ins tätige Leben und hatte einige Jahre lang, erfolgreich aber unbefriedigt, in den Grauzonen zwischen Journalismus und Werbung geschuftet. Jetzt überfällt ihn eine neue Krise, und in dem seltsamen Traum glaubt er Kiki zu vernehmen, die ihn zurückruft, von Tokyo nach Sapporo.
An der Stelle des alten „Delfin” steht nun ein modernes Luxushotel, das „Dolphin”; die Frage nach dem Vorgänger löst beim Personal Irritationen aus. Beim Erwerb des Grundstücks hat die Yakuza mitgemischt, der alte Besitzer wurde unter Druck gesetzt und verschwand, und die dubiosen finanziellen Spekulationen reichten bis in Regierungskreise. Das „Dolphin” ist eine böse Blüte des Kapitalismus, doch birgt es neben den diesseitigen auch jenseitige Geheimnisse.
Vor allem die 16. Etage führt ein seltsames Doppelleben. Manchmal scheint dort der Lift in einer anderen Welt anzukommen, die nichts mit dem modernen Gebäude zu tun hat, sondern so finster und modrig ist, als wäre ins neue Gebäude insgeheim ein Stück des abgerissenen „Delfin” eingearbeitet worden. In Murakamis Roman ist die Vergangenheit nicht nur im Bewusstsein der Gegenwart, sondern auch in ihren Objekten enthalten.
Für seinen im Original schon 1988 erschienenen „Tanz mit dem Schafsmann” hat der japanische Autor wie ein Sammler alle Topoi zusammengetragen, die er und viele seiner Zeitgenossen für unverzichtbare Zutaten eines erfolgreichen modernen Romans halten: Sex & Crime, Identitätskrisen und Kapitalismus-Kritik, Aufhebung der Grenzen von Raum und Zeit, untermalt von fast enzyklopädischen Verweisen auf die Hits aus Pop und Rock der siebziger und achtziger Jahre, als in Japan Hamburger und Pizza moderner waren als Sushi und Sashimi.
Im Dunkeln präsent
Es muss eine Zeit gewesen sein, in der die vermeintlich endgültige Gefährdung traditioneller Werte eine robuste Sehnsucht nach Sinn und Zusammenhängen genährt hat. Die Konfusionen, durch die Murakami seinen Helden jagt, sind nur Teil einer größeren, undurchschaubaren Ordnung. Nichts geschieht nur zufällig, alles ist miteinander verknüpft. Das behauptet jedenfalls der mysteriöse Schafsmann, der sich in die Finsternis des 16. Stocks zurückgezogen hat.
Der Schafsmann, für den die Gesetze von Zeit und Raum nicht zu gelten scheinen, ist keineswegs eine Kombination aus Mensch und Tier, wie etwa der Kentaur der griechischen Mythologie; seine sichtbare Erscheinung beruht auf einer über die Jahre hinweg schütter gewordenen Verkleidung. Wer oder was sich hinter der Verkleidung verbirgt, erfahren wir nicht, und Murakamis Held zeigt auch kein nennenswertes Interesse, es in Erfahrung zu bringen. Es reicht ihm und dem Autor, in dem fremden Wesen die Inkarnation des Unerforschten und vor allem des Unerforschbaren zu sehen, eine Gegenfigur, die im Dunkeln präsent bleibt, während die Welt bis ins Detail durchleuchtet und errechnet wird.
Die Sehnsucht nach Irrationalität ist die Triebfeder dieses Romans, der selbst an den Konfusionen leidet, von denen er erzählt. So versucht der Autor immer wieder, seine Geschichte mit parapsychologischen Phänomenen anzureichern. Die hypersensible Yuki sieht Dinge, die sie nicht gesehen haben kann; der unglückliche Fernsehstar Gotanda weiß nicht, ob er die arme Kiki wirklich oder nur in seiner Imagination ermordet hat. Der Erzähler glaubt in Honolulu Kiki zu sehen, verfolgt sie und gelangt in einen Raum mit sechs Skeletten – vermutlich Projektionen der Toten dieser Geschichte.
Auch dieser Geisterbahn-Effekt ist bezeichnend für Murakamis Erzählweise: Er scheut nicht zurück vor Anleihen aus trivialeren Genres und infantileren Einfällen. Gotandas Maserati scheint eine böse, tödliche Bedrohung auszustrahlen, während des Erzählers Subaru beruhigend und behaglich wirkt wie ein Wohnzimmer.
In seinen Bildern und Metaphern will Murakami bedingungslos originell und exquisit sein. Kikis Verschwinden, mutmaßt der Erzähler, sei vielleicht ihre Bestimmung gewesen. „So wie die Moldau ins Meer fließt.” Hätte es da nicht auch ein japanischer Fluss getan? Einer, der dann wirklich ins Meer münden würde anstatt in die Elbe? Oder ist die Moldau eine Erfindung der Übersetzerin?
Fragen über Fragen, die auch Murakamis Helden quälen. „Tanzen!”, hatte ihm der Schafsmann als äußerste Weisheit mit auf den Weg gegeben. Also in Bewegung bleiben, nicht erstarren, sich dem Rhythmus des Lebens hingeben. Am Ende findet er seine Erlösung im Bett mit einer neuen Geliebten. Das hätte er auch einfacher haben können.
H.G.PFLAUM
HARUKI MURAKAMI: Tanz mit dem Schafsmann. Roman. Aus dem Japanischen von Sabine Mangold. Dumont Verlag, Köln 2002. 461 Seiten, 24,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Haruki Murakamis Roman
„Tanz mit dem Schafsmann”
Im Traum fühlt sich der Ich-Erzähler als Teil eines Hotels – nicht etwa als Mitglied der Belegschaft, sondern als Bestandteil des alten „Delfin”, einer heruntergekommenen Herberge in Sapporo. Wer sich in seinen Träumen in die Welt der Objekte eingliedert, so ahnen wir schon mit den ersten Zeilen, dessen Identität kann schwerlich als krisensicheres Ego dienen.
In seinen Beziehungen führt Haruki Murakamis namenlos bleibender Held ebenfalls ein fragiles Leben. Die Ehefrau ist ihm schon vor Jahren abhanden gekommen, und plötzlich war auch Kiki verschwunden, eine Edelnutte, mit der er einst im „Delfin” abgestiegen war. Nach einer Zeit des inneren Stillstands war er zurückgekehrt ins tätige Leben und hatte einige Jahre lang, erfolgreich aber unbefriedigt, in den Grauzonen zwischen Journalismus und Werbung geschuftet. Jetzt überfällt ihn eine neue Krise, und in dem seltsamen Traum glaubt er Kiki zu vernehmen, die ihn zurückruft, von Tokyo nach Sapporo.
An der Stelle des alten „Delfin” steht nun ein modernes Luxushotel, das „Dolphin”; die Frage nach dem Vorgänger löst beim Personal Irritationen aus. Beim Erwerb des Grundstücks hat die Yakuza mitgemischt, der alte Besitzer wurde unter Druck gesetzt und verschwand, und die dubiosen finanziellen Spekulationen reichten bis in Regierungskreise. Das „Dolphin” ist eine böse Blüte des Kapitalismus, doch birgt es neben den diesseitigen auch jenseitige Geheimnisse.
Vor allem die 16. Etage führt ein seltsames Doppelleben. Manchmal scheint dort der Lift in einer anderen Welt anzukommen, die nichts mit dem modernen Gebäude zu tun hat, sondern so finster und modrig ist, als wäre ins neue Gebäude insgeheim ein Stück des abgerissenen „Delfin” eingearbeitet worden. In Murakamis Roman ist die Vergangenheit nicht nur im Bewusstsein der Gegenwart, sondern auch in ihren Objekten enthalten.
Für seinen im Original schon 1988 erschienenen „Tanz mit dem Schafsmann” hat der japanische Autor wie ein Sammler alle Topoi zusammengetragen, die er und viele seiner Zeitgenossen für unverzichtbare Zutaten eines erfolgreichen modernen Romans halten: Sex & Crime, Identitätskrisen und Kapitalismus-Kritik, Aufhebung der Grenzen von Raum und Zeit, untermalt von fast enzyklopädischen Verweisen auf die Hits aus Pop und Rock der siebziger und achtziger Jahre, als in Japan Hamburger und Pizza moderner waren als Sushi und Sashimi.
Im Dunkeln präsent
Es muss eine Zeit gewesen sein, in der die vermeintlich endgültige Gefährdung traditioneller Werte eine robuste Sehnsucht nach Sinn und Zusammenhängen genährt hat. Die Konfusionen, durch die Murakami seinen Helden jagt, sind nur Teil einer größeren, undurchschaubaren Ordnung. Nichts geschieht nur zufällig, alles ist miteinander verknüpft. Das behauptet jedenfalls der mysteriöse Schafsmann, der sich in die Finsternis des 16. Stocks zurückgezogen hat.
Der Schafsmann, für den die Gesetze von Zeit und Raum nicht zu gelten scheinen, ist keineswegs eine Kombination aus Mensch und Tier, wie etwa der Kentaur der griechischen Mythologie; seine sichtbare Erscheinung beruht auf einer über die Jahre hinweg schütter gewordenen Verkleidung. Wer oder was sich hinter der Verkleidung verbirgt, erfahren wir nicht, und Murakamis Held zeigt auch kein nennenswertes Interesse, es in Erfahrung zu bringen. Es reicht ihm und dem Autor, in dem fremden Wesen die Inkarnation des Unerforschten und vor allem des Unerforschbaren zu sehen, eine Gegenfigur, die im Dunkeln präsent bleibt, während die Welt bis ins Detail durchleuchtet und errechnet wird.
Die Sehnsucht nach Irrationalität ist die Triebfeder dieses Romans, der selbst an den Konfusionen leidet, von denen er erzählt. So versucht der Autor immer wieder, seine Geschichte mit parapsychologischen Phänomenen anzureichern. Die hypersensible Yuki sieht Dinge, die sie nicht gesehen haben kann; der unglückliche Fernsehstar Gotanda weiß nicht, ob er die arme Kiki wirklich oder nur in seiner Imagination ermordet hat. Der Erzähler glaubt in Honolulu Kiki zu sehen, verfolgt sie und gelangt in einen Raum mit sechs Skeletten – vermutlich Projektionen der Toten dieser Geschichte.
Auch dieser Geisterbahn-Effekt ist bezeichnend für Murakamis Erzählweise: Er scheut nicht zurück vor Anleihen aus trivialeren Genres und infantileren Einfällen. Gotandas Maserati scheint eine böse, tödliche Bedrohung auszustrahlen, während des Erzählers Subaru beruhigend und behaglich wirkt wie ein Wohnzimmer.
In seinen Bildern und Metaphern will Murakami bedingungslos originell und exquisit sein. Kikis Verschwinden, mutmaßt der Erzähler, sei vielleicht ihre Bestimmung gewesen. „So wie die Moldau ins Meer fließt.” Hätte es da nicht auch ein japanischer Fluss getan? Einer, der dann wirklich ins Meer münden würde anstatt in die Elbe? Oder ist die Moldau eine Erfindung der Übersetzerin?
Fragen über Fragen, die auch Murakamis Helden quälen. „Tanzen!”, hatte ihm der Schafsmann als äußerste Weisheit mit auf den Weg gegeben. Also in Bewegung bleiben, nicht erstarren, sich dem Rhythmus des Lebens hingeben. Am Ende findet er seine Erlösung im Bett mit einer neuen Geliebten. Das hätte er auch einfacher haben können.
H.G.PFLAUM
HARUKI MURAKAMI: Tanz mit dem Schafsmann. Roman. Aus dem Japanischen von Sabine Mangold. Dumont Verlag, Köln 2002. 461 Seiten, 24,90 Euro.
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Einsamer Wolf
Haruki Murakamis männliche Charaktere trinken immer irgendwann Whiskey und machen sich über die Leere und die Einsamkeit ihres Lebens und des Lebens schlechthin Gedanken. Sie haben sich mit der eigenen Einsamkeit und der Leere arrangiert und erwarten nicht viel vom Leben: "Nun ja, nun war er tot. Einmal tot, hat man wenigstens nichts mehr zu verlieren. Das ist der Vorzug am Totsein."
Wen solche Einsichten und die gebetsmühlenhaft wiederholten Kommentare zur Flachheit moderner Popmusik nicht stören, ist genau richtig aufgehoben bei diesem japanischen Autor, der so gar nichts Japanisches an sich hat, und sollte den Tanz mit dem Schafsmann wagen.
Der Schafsmann
Der Ich-Erzähler dieses Romans träumt zu Beginn des Romans von einem Hotel. In diesem Hotel mit dem programmatischen Namen "Delfin" verbrachte er vor einiger Zeit eine Woche mit einer Frau, deren Namen er nicht kennt. Diese Frau - Prostituierte und Ohrenmodell (Der Haruki-Murakami-Fan erinnert sich an die Wilde Schafsjagd) - verschwand am Ende dieser Woche plötzlich aus seinem Leben. Wohin ist ihm unklar; er hat auch nie versucht, sich darüber Klarheit zu verschaffen. Der Schafsmann, den wir schon aus der Wilden Schafsjagd kennen, teilte ihm im Traum mit, dass sie weg sei. Nun erscheint er ihm wieder und veranlasst ihn, sie zu suchen. Der Ich-Erzähler macht sich auf die verwickelte Suche nach dem Hotel, der Frau, seiner Vergangenheit und damit letztlich nach sich selbst.
Letzte Fragen
In einer versteckten Dimension des Hotels, das er schließlich findet, trifft er den Schafsmann wieder. Der empfiehlt ihm zu tanzen, solange die Musik spielt. Er begreift die Metapher und versucht durch sein Leben zu tanzen. Seltsame Begegnungen und flüchtige erotische Abenteuer, die immer vom Hauch des Todes umweht sind, werden ihn schließlich dem neuen Leben zuführen, das er suchte.
Trotz des etwas bemühten Stils und der in ihrer Wiederholung flach und belanglos wirkenden zynischen Pseudoeinsichten in den wahren Lauf der Dinge, hat Murakami hier wieder ein Buch geschrieben, das viele begeistern wird. Es ist temporeich und spannend. Es ist skurril und auf sympathische Weise überdreht und fantasievoll. (Andreas Rötzer)
Haruki Murakamis männliche Charaktere trinken immer irgendwann Whiskey und machen sich über die Leere und die Einsamkeit ihres Lebens und des Lebens schlechthin Gedanken. Sie haben sich mit der eigenen Einsamkeit und der Leere arrangiert und erwarten nicht viel vom Leben: "Nun ja, nun war er tot. Einmal tot, hat man wenigstens nichts mehr zu verlieren. Das ist der Vorzug am Totsein."
Wen solche Einsichten und die gebetsmühlenhaft wiederholten Kommentare zur Flachheit moderner Popmusik nicht stören, ist genau richtig aufgehoben bei diesem japanischen Autor, der so gar nichts Japanisches an sich hat, und sollte den Tanz mit dem Schafsmann wagen.
Der Schafsmann
Der Ich-Erzähler dieses Romans träumt zu Beginn des Romans von einem Hotel. In diesem Hotel mit dem programmatischen Namen "Delfin" verbrachte er vor einiger Zeit eine Woche mit einer Frau, deren Namen er nicht kennt. Diese Frau - Prostituierte und Ohrenmodell (Der Haruki-Murakami-Fan erinnert sich an die Wilde Schafsjagd) - verschwand am Ende dieser Woche plötzlich aus seinem Leben. Wohin ist ihm unklar; er hat auch nie versucht, sich darüber Klarheit zu verschaffen. Der Schafsmann, den wir schon aus der Wilden Schafsjagd kennen, teilte ihm im Traum mit, dass sie weg sei. Nun erscheint er ihm wieder und veranlasst ihn, sie zu suchen. Der Ich-Erzähler macht sich auf die verwickelte Suche nach dem Hotel, der Frau, seiner Vergangenheit und damit letztlich nach sich selbst.
Letzte Fragen
In einer versteckten Dimension des Hotels, das er schließlich findet, trifft er den Schafsmann wieder. Der empfiehlt ihm zu tanzen, solange die Musik spielt. Er begreift die Metapher und versucht durch sein Leben zu tanzen. Seltsame Begegnungen und flüchtige erotische Abenteuer, die immer vom Hauch des Todes umweht sind, werden ihn schließlich dem neuen Leben zuführen, das er suchte.
Trotz des etwas bemühten Stils und der in ihrer Wiederholung flach und belanglos wirkenden zynischen Pseudoeinsichten in den wahren Lauf der Dinge, hat Murakami hier wieder ein Buch geschrieben, das viele begeistern wird. Es ist temporeich und spannend. Es ist skurril und auf sympathische Weise überdreht und fantasievoll. (Andreas Rötzer)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.04.2002Nach der geschorenen Zeit
Bitte nicht stören: Haruki Murakami übernachtet im Hotel Abbruch
Björn Borg hat sich vom Tennis verabschiedet, vietnamesische Truppen sind in Kambodscha einmarschiert, in Japan schießen Bürotürme um die Wette in den Himmel: Wie lange ist das alles her! Haruki Murakamis "Tanz mit dem Schafsmann" ist allerdings weniger ein historischer Roman aus den frühen achtziger Jahren als eine verspätete Lektüre: Der DuMont Verlag hat das Buch des japanischen Erfolgsschriftstellers vierzehn Jahre nach der Originalausgabe bei uns herausgebracht. Kein anklägerisches Geschrei soll deswegen erhoben werden; auf den "Schafsmann" hat man bisher ganz gut verzichten können, und für Krach und Kabale, wie seinerzeit die "Gefährliche Geliebte" desselben Autors, die seinerzeit das "Literarische Quartett" sprengte, wird der neue alte Roman wohl kaum sorgen.
Murakamis Helden sind Einzelgänger in einem Land, das immer noch von Gruppenidentitäten bestimmt wird; sie sind Herumtreiber in einer konformistischen Arbeitsgesellschaft; daß sie ihren Sitz im Leben noch nicht gefunden haben und ihn auch nicht allzu intensiv suchen, macht sie zu Projektionsfiguren einer ganzen Generation: Murakami ist in Japan ein Star mit Millionenauflagen.
Auch der Ich-Erzähler im "Schafsmann" gehört zur Spezies derjenigen, die sich nicht im Hamsterrad von "boulot - metro - dodo", wie die Franzosen sagen würden (etwa schaffen - sich in die U-Bahn quetschen - pennen) abstrampeln wollen. Eigentlich ist er freier Journalist, Restaurantkritiker für diverse Magazine mit zahlreichen gutdotierten Aufträgen; aber seine Arbeit befriedigt ihn nicht, er bezeichnet sie als "kulturelles Schneeschaufeln", mechanisch und geistlos. Sie hat nichts mit ihm zu tun, allerdings weiß er auch nicht, was überhaupt mit ihm zu tun haben könnte.
Als die Handlung einsetzt, hat der Erzähler gerade beschlossen, eine Auszeit zu nehmen. Er mietet sich im Hotel Delfin in Sapporo ein, wo er früher einige Tage mit einer geheimnisvollen Geliebten verbracht hat. Damals war das Hotel eine Bruchbude mit originellen Bewohnern und einem Sammelsurium musealer Ausstattungsstücke, darunter auch "ausgestopfte Schafe und muffige Felle in düsteren Korridoren, schimmlige Akten und verblichene Fotografien". Die Geliebte verschwand damals über Nacht, und jetzt ist auch das Hotel von damals nicht mehr da: An seiner Stelle erhebt sich ein sechsundzwanzigstöckiges Hochhaus. Nur nachts, manchmal, lebt das alte "Delfin" wieder auf, weht den Erzähler unversehens im stockdunklen sechzehnten Stock der modrige Geruch von einst an.
Hier könnte Murakami aufs Horrorgleis wechseln, und ein paarmal zeigt er auch die Instrumente des Genres vor: tapsende Geräusche eines undefinierbaren Wesens, das näher und näher kommt; ein Zimmer mit sechs Skeletten; rätselhafte Todesfälle, eine "andere Welt", aus der ihn Nachrichten und Lockrufe erreichen und in die er - ist's Traum, ist's Wirklichkeit - übertreten kann wie Harry Potter auf Bahnsteig Neundreiviertel. Aber die Beharrungskräfte der Realität sind stärker für Helden und Autor, sie tragen die Namen von Mode- und Automarken, von Popsongs und von Mädchen verschiedenen Alters und unterschiedlicher Käuflichkeit. Einige sind ebenfalls mit medialen Fähigkeiten begabt, sie sehen und spüren, was nicht ist, aber eintreffen könnte.
So kommt es zu Allianzen der Einzelgänger und Sonderlinge; mit der dreizehnjährigen Yuki, einer wohlstandsverwahrlosten Großstadtgöre, fährt er mit dem Auto durch die Gegend; Yumioshi, die bebrillte Empfangsdame des neuen "Delfin", die die Arbeit und den Arbeitgeber über alles stellt, wird er vielleicht sogar heiraten. Am Ende ist der Erzähler "in der Wirklichkeit angekommen". Auf der Strecke geblieben sind seine Albträume, diverse Nebenfiguren, allerlei Erzählstränge und Motive und vor allem die Ahnung - die Furcht? die Hoffnung? -, daß es noch mehr geben könnte als das, was ist.
Murakamis "Tanz mit dem Schafsmann" erzählt also die Geschichte einer Heimholung ins Alltägliche; die schillernde, nie ganz faßbare Aura des Unheimlichen, die den Helden umgibt, verschwindet wie ein zubetoniertes Kellergeschoß. Natürlich kann man das, je nach Standpunkt, als Geschichte einer Verdrängung oder einer Reifung lesen; beides täte diesem Roman wohl zu viel Ehre an. Dazu ist er zu wenig genau und konsequent gearbeitet. Gewiß verschafft die Ich-Erzählung dem Autor die Lizenz zum Schwafeln, aber wenn er sie nutzt, ist es der Leser, der die Folgen zu tragen hat. Den stört bald der penetrante Kurzsatzstil, und die minutiöse Notierung aller Phasen noch der unscheinbarsten Handlungen macht ihn zusehends ungeduldig. Die Erfindung des "blanc", des kunstvollen Weglassens, das Gustave Flaubert zur Meisterschaft geführt hat, steht diesem belesenen Autor (er hat unter anderem Fitzgerald, Carver und Capote ins Japanische übersetzt) offensichtlich noch bevor.
"Ich habe es so satt, was ich tue", sagt der Erzähler an einer Stelle. Manchem Leser wird ein ähnlicher Stoßseufzer entfahren - ist er doch erst auf Seite 137 angekommen; unzählige sprachliche Banalitäten à la "er war kein übler Kerl" oder "ich fühlte mich völlig kaputt" stehen ihm noch bevor. Er sei völlig unzufrieden mit seinen früheren Werken, hat Murakami kürzlich in einem Interview geäußert. Man wird ihm nach der Lektüre dieses Romans, in dem nur die Bubble-Economy brodelt und zischt, nicht heftig widersprechen wollen.
MARTIN EBEL
Haruki Murakami: "Tanz mit dem Schafsmann". Roman. Aus dem Japanischen übersetzt von Sabine Mangold. DuMont Literaturverlag, Köln 2002. 460 S., geb., 24,90.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bitte nicht stören: Haruki Murakami übernachtet im Hotel Abbruch
Björn Borg hat sich vom Tennis verabschiedet, vietnamesische Truppen sind in Kambodscha einmarschiert, in Japan schießen Bürotürme um die Wette in den Himmel: Wie lange ist das alles her! Haruki Murakamis "Tanz mit dem Schafsmann" ist allerdings weniger ein historischer Roman aus den frühen achtziger Jahren als eine verspätete Lektüre: Der DuMont Verlag hat das Buch des japanischen Erfolgsschriftstellers vierzehn Jahre nach der Originalausgabe bei uns herausgebracht. Kein anklägerisches Geschrei soll deswegen erhoben werden; auf den "Schafsmann" hat man bisher ganz gut verzichten können, und für Krach und Kabale, wie seinerzeit die "Gefährliche Geliebte" desselben Autors, die seinerzeit das "Literarische Quartett" sprengte, wird der neue alte Roman wohl kaum sorgen.
Murakamis Helden sind Einzelgänger in einem Land, das immer noch von Gruppenidentitäten bestimmt wird; sie sind Herumtreiber in einer konformistischen Arbeitsgesellschaft; daß sie ihren Sitz im Leben noch nicht gefunden haben und ihn auch nicht allzu intensiv suchen, macht sie zu Projektionsfiguren einer ganzen Generation: Murakami ist in Japan ein Star mit Millionenauflagen.
Auch der Ich-Erzähler im "Schafsmann" gehört zur Spezies derjenigen, die sich nicht im Hamsterrad von "boulot - metro - dodo", wie die Franzosen sagen würden (etwa schaffen - sich in die U-Bahn quetschen - pennen) abstrampeln wollen. Eigentlich ist er freier Journalist, Restaurantkritiker für diverse Magazine mit zahlreichen gutdotierten Aufträgen; aber seine Arbeit befriedigt ihn nicht, er bezeichnet sie als "kulturelles Schneeschaufeln", mechanisch und geistlos. Sie hat nichts mit ihm zu tun, allerdings weiß er auch nicht, was überhaupt mit ihm zu tun haben könnte.
Als die Handlung einsetzt, hat der Erzähler gerade beschlossen, eine Auszeit zu nehmen. Er mietet sich im Hotel Delfin in Sapporo ein, wo er früher einige Tage mit einer geheimnisvollen Geliebten verbracht hat. Damals war das Hotel eine Bruchbude mit originellen Bewohnern und einem Sammelsurium musealer Ausstattungsstücke, darunter auch "ausgestopfte Schafe und muffige Felle in düsteren Korridoren, schimmlige Akten und verblichene Fotografien". Die Geliebte verschwand damals über Nacht, und jetzt ist auch das Hotel von damals nicht mehr da: An seiner Stelle erhebt sich ein sechsundzwanzigstöckiges Hochhaus. Nur nachts, manchmal, lebt das alte "Delfin" wieder auf, weht den Erzähler unversehens im stockdunklen sechzehnten Stock der modrige Geruch von einst an.
Hier könnte Murakami aufs Horrorgleis wechseln, und ein paarmal zeigt er auch die Instrumente des Genres vor: tapsende Geräusche eines undefinierbaren Wesens, das näher und näher kommt; ein Zimmer mit sechs Skeletten; rätselhafte Todesfälle, eine "andere Welt", aus der ihn Nachrichten und Lockrufe erreichen und in die er - ist's Traum, ist's Wirklichkeit - übertreten kann wie Harry Potter auf Bahnsteig Neundreiviertel. Aber die Beharrungskräfte der Realität sind stärker für Helden und Autor, sie tragen die Namen von Mode- und Automarken, von Popsongs und von Mädchen verschiedenen Alters und unterschiedlicher Käuflichkeit. Einige sind ebenfalls mit medialen Fähigkeiten begabt, sie sehen und spüren, was nicht ist, aber eintreffen könnte.
So kommt es zu Allianzen der Einzelgänger und Sonderlinge; mit der dreizehnjährigen Yuki, einer wohlstandsverwahrlosten Großstadtgöre, fährt er mit dem Auto durch die Gegend; Yumioshi, die bebrillte Empfangsdame des neuen "Delfin", die die Arbeit und den Arbeitgeber über alles stellt, wird er vielleicht sogar heiraten. Am Ende ist der Erzähler "in der Wirklichkeit angekommen". Auf der Strecke geblieben sind seine Albträume, diverse Nebenfiguren, allerlei Erzählstränge und Motive und vor allem die Ahnung - die Furcht? die Hoffnung? -, daß es noch mehr geben könnte als das, was ist.
Murakamis "Tanz mit dem Schafsmann" erzählt also die Geschichte einer Heimholung ins Alltägliche; die schillernde, nie ganz faßbare Aura des Unheimlichen, die den Helden umgibt, verschwindet wie ein zubetoniertes Kellergeschoß. Natürlich kann man das, je nach Standpunkt, als Geschichte einer Verdrängung oder einer Reifung lesen; beides täte diesem Roman wohl zu viel Ehre an. Dazu ist er zu wenig genau und konsequent gearbeitet. Gewiß verschafft die Ich-Erzählung dem Autor die Lizenz zum Schwafeln, aber wenn er sie nutzt, ist es der Leser, der die Folgen zu tragen hat. Den stört bald der penetrante Kurzsatzstil, und die minutiöse Notierung aller Phasen noch der unscheinbarsten Handlungen macht ihn zusehends ungeduldig. Die Erfindung des "blanc", des kunstvollen Weglassens, das Gustave Flaubert zur Meisterschaft geführt hat, steht diesem belesenen Autor (er hat unter anderem Fitzgerald, Carver und Capote ins Japanische übersetzt) offensichtlich noch bevor.
"Ich habe es so satt, was ich tue", sagt der Erzähler an einer Stelle. Manchem Leser wird ein ähnlicher Stoßseufzer entfahren - ist er doch erst auf Seite 137 angekommen; unzählige sprachliche Banalitäten à la "er war kein übler Kerl" oder "ich fühlte mich völlig kaputt" stehen ihm noch bevor. Er sei völlig unzufrieden mit seinen früheren Werken, hat Murakami kürzlich in einem Interview geäußert. Man wird ihm nach der Lektüre dieses Romans, in dem nur die Bubble-Economy brodelt und zischt, nicht heftig widersprechen wollen.
MARTIN EBEL
Haruki Murakami: "Tanz mit dem Schafsmann". Roman. Aus dem Japanischen übersetzt von Sabine Mangold. DuMont Literaturverlag, Köln 2002. 460 S., geb., 24,90
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Haruki Murakamis jüngst auf Deutsch erschienener Roman stammt eigentlich aus dem Jahr 1988, als den Autor hierzulande noch niemand kannte. Nun werden seine Bücher nach und nach übersetzt - und bergen Enttäuschungen, wie H.G. Pflaum findet. "Tanz mit dem Schafsmann" besitzt einen namenlos bleibenden Helden, der in allerlei Krisen und Konfusionen stürzt, die Pflaum mindestens ebenso konfus berichtet sieht. Alles, was in Japan Ende der achtziger Jahre als schick galt, spottet der Kritiker, ist im Roman thematisch versammelt: Sex und Crime, ein bisschen Parapsychologie, ein bisschen Kapitalismuskritik, Popmusikzitate in Hülle und Fülle, die Aufhebung von Raum und Zeit als literarisches Motiv. Als Hauptantriebskraft des Romans sieht Pflaum eine Sehnsucht nach Irrationalität am Werke, die er als "Geisterbahn-Effekt" beschreibt. Um diesen zu verstärken, macht Murakami Anleihen beim Trivialgenre und schreckt auch vor infantilen Einfällen zurück, befindet Pflaum. Auch Murakamis Drang zu bedingungsloser Originalität missfällt dem Rezensenten sehr. Am Ende findet der gequälte Held eine neue Geliebte, berichtet Pflaum. Das hätte der auch einfacher haben können, höhnt er.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"In Murakamis Büchern kann man sich wie in wundersamen Träumen verlieren." Der Spiegel