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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Yves Ravey macht Urlaub mit Todesfolge auf Sizilien
Melvil Hammett ist eine Katastrophe, selbstgerecht und dabei mit offensichtlichen Minderwertigkeitskomplexen; schlägt seiner Ehefrau gegenüber lieber einen autoritären Tonfall an, um die eigene Feigheit zu kaschieren, statt auch nur einmal einen Fehler zuzugeben. Dass ausgerechnet so ein Typ die Geschichte erzählt und man das Buch trotzdem nicht entnervt beiseitelegt, ist schon ein Kunststück. "Taormina" ist der zweite ins Deutsche übersetzte Kriminalroman des ehemaligen Lehrers und inzwischen auch über Frankreich hinaus renommierten Schriftstellers Yves Ravey, der sich für seine Handlung ganz auf die Sicht eines unzuverlässigen Erzählers einlässt, oder genau genommen: die Sicht eines Täters.
Ravey dürfte keine besonders hohe Meinung von seinen Zeitgenossen haben, das legen beide Lektüren nah. Beide arbeiten mit einer verknappten, extrem verdichteten Form, brauchen je nur rund einhundert Seiten, um ihren Punkt zu machen, und nehmen sich dabei nicht mal die Zeit, um Dialoge durch Anführungszeichen vom Fließtext abzusetzen.
"Die Abfindung" (F.A.Z. vom 4. Oktober 2022) spielt an einer Tankstelle in der französischen Provinz, deren insolventer Betreiber einer Affäre zwischen seiner Ehefrau und seinem Angestellten auf die Schliche kommt. "Taormina" beschwört trotz aller formaler Ähnlichkeiten ganz andere Bilder herauf: Sonnenhüte vor antiken Ruinen, die vielleicht am wenigsten bedrohliche Figurenkonstellation: ein Ehepaar im Sommerurlaub. Aber als Melvil und Luisa Hammett auf Sizilien landen, steht ihr Verhältnis schon auf der Kippe, die Stimmung ist angespannt. Auf der Fahrt nach Taormina biegt ihr Mietwagen von der Nationalstraße in Richtung Meer ab und rammt in der überraschend schnell einsetzenden Dunkelheit ein Hindernis.
Melvil fährt weiter, ohne auszusteigen, ein Missgeschick soll ihm schließlich nicht den hart verdienten Urlaub verderben. Doch am nächsten Tag prangt die Schlagzeile von allen Titelseiten: Ein Kind aus einem illegalen Flüchtlingslager wurde angefahren und tödlich verletzt liegen gelassen.
"Taormina" ist Melvils verzweifelter Versuch, vorzugeben, er verfasse einen neutralen Tatsachenbericht, tatsächlich ist es natürlich der Versuch einer Rechtfertigung. "Nun war nichts mehr ausgeschildert. Weder Richtungspfeile noch Leuchtmarkierungen oder Baken, nur ein Warnschild: Achtung! Baustellenausfahrt. Auf Italienisch. Aber ich spreche kein Italienisch, oder kaum."
Besessen von Schildern, Regeln, Zeichen, von halbherzigen Interpretationen der mimischen und gestischen Regungen seiner Frau würde er in seinem verbissenen Pflichtgefühl gegenüber dem eng getakteten Ferienprogramm locker auch als deutscher Tourist durchgehen. Da wird sich wie aus der Zeit gefallen an Reiseführern und Straßenkarten festgehalten, telefonisch Kontakt zu Hotel und Reisebüro gepflegt, auf mündliche Empfehlungen vertraut - es verwunderte nicht, beschriebe Ravey die erste Welle des Massentourismus der Siebzigerjahre, als vollgepackte Volkswagen über den Brenner in Italien einfielen.
Erst als Melvil im letzten Drittel der Geschichte sein Smartphone zückt, ist der Verdacht endgültig ausgeräumt. Da schwitzt er seine Schuldgefühle schon in einer zwielichtigen Werkstatt aus, die die missliche Lage erkennt und ein hübsches Zusatzgeschäft wittert. Irgendwie haben sie sich alle gegenseitig verdient, und genau diese Ironie bewahrt "Taormina" davor, dass die Tragikomödie endgültig in Richtung Tragödie kippt. Raveys Verständnis für seinen Protagonisten, weniger empathische Einfühlung als präzise Vivisektion, legt dessen vollumfängliche Lächerlichkeit frei, aber eben auch seine Emblemhaftigkeit für die Probleme der westlichen Wohlstandsgesellschaft, die sich auf einer Mittelmeerinsel wie Sizilien nur noch verschärfen: Die sich im Zuge von Globalisierung und Klimakrise zuspitzende Flüchtlingssituation, die von Urlaubern abhängige Inselwirtschaft neben der entwaffnenden Banalität und scheinproduktiven Getriebenheit des touristischen Alltags, das angesichts der Weltlage kollektive Lechzen, danach abschalten zu dürfen, Verantwortung abzugeben.
Ravey bringt das alles in dem von Melvil mantraartig wiederholten Satz auf den Punkt: "Am besten weiterfahren." KATRIN DOERKSEN
Yves Ravey: "Taormina". Roman.
Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller.
Liebeskind Verlag, München 2023.
128 S., geb., 20.- Euro.
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