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Wie steht es um die Fehlerkultur in der Polizei? Jan Keuchel und Christina Zühlke versuchen mit ihrem Report, darauf eine überzeugende Antwort zu finden.
An dem Tag, als bekannt wurde, dass der rechtsterroristische NSU für die Morde an neun in Deutschland lebenden Menschen mit ausländischen Wurzeln verantwortlich war und nicht etwa Auseinandersetzungen im "Milieu" zwischen ausländischen Familien, worauf sich die Ermittler vorschnell festgelegt hatten, änderte sich für die Polizeibehörden in Deutschland alles. Sie standen fortan unter Beobachtung. Und ein Ende der Debatte, die sich mit der Frage beschäftigt, ob die Polizei tatsächlich in Teilen abgeglitten ist in eine Institution, die sich bei ihren Ermittlungen zu sehr von Stereotypen leiten lässt, bis hin zu Straftaten in den eigenen Reihen, ist noch lange nicht in Sicht.
Insofern erscheint das Buch "Tatort Polizei - Gewalt, Rassismus, mangelnde Kontrolle" zur rechten Zeit. Nicht deshalb, weil sich der "Report", wie die Publikation untertitelt ist, als Standardwerk eignet. Dafür bleiben einige der aufgezeigten Beispiele zu sehr an der Oberfläche. Aber es unternimmt den Versuch, und das ambitioniert, Antworten zu geben auf die Frage, die sich seit einigen Jahren schon stellt: Wie viel Kontrolle braucht die Polizei?
Das, was die Autoren, die beiden Journalisten Jan Keuchel und Christina Zühlke, in dem Buch unternommen haben, ist ein weiter Wurf. Jedes einzelne der erwähnten Themen, angefangen bei Polizeigewalt, Racial Profiling, rechtsextremen Chat-Inhalten bis hin zur Frage, wie derartige Fälle aufgeklärt werden können, hätte schon ausgereicht, um damit eine ganze Reihe an kritischer Literatur zu füllen, die sich damit beschäftigt, wie weit Fehlverhalten bei der Polizei gehen darf, bevor sie zum strukturellen Problem wird.
Angelegt ist das Buch in Reportagen, die von Fällen erzählen, in denen Beamte mutmaßlich oder tatsächlich ihre Macht missbrauchten. Die einzelnen Episoden sind dicht gewoben. Zu Wort kommen Opfer, Zeugen, Angeklagte, es wird aus Gerichtsakten zitiert, aus Urteilen, immer wieder werden Studien beigebracht, etwa die von Tobias Singelnstein, dem Rechtswissenschaftler und Kriminologen, der im Jahr 2019 eine viel beachtete Untersuchung zum Thema Polizeigewalt vorgestellt hat.
Über Jahre haben die Autoren die Fälle recherchiert, Fakten gesammelt, Informationen abgewogen. Die Reportagen funktionieren auch deshalb, weil sich das Erfolgsmittel des "True Crime" noch lange nicht abgenutzt hat. Nichts kann so schlimm sein wie die Wahrheit. Das gilt offenbar nicht nur für Kapitalverbrechen, sondern auch für Fälle wie diese: ein Altenpfleger aus Venezuela, der am helllichten Tag auf dem Weg zur Arbeit in Berlin versehentlich für einen Dealer gehalten und auf offener Straße vom Rad gezerrt und geschlagen wird, ohne dass es danach eine Aufarbeitung des Falles gibt. Oder die Geschichte einer jungen Polizistin, die noch in der Ausbildung war, als ein Kollege eine Körperverletzung im Amt beging, wie ein Gericht später feststellte. Sie sagte gegen den Kollegen aus - und wurde nach ihrer Ausbildung nicht in den Polizeidienst übernommen. Und schließlich Sven, ein junger Mann, dessen Geschichte offenbar die Grundlage legte für dieses Buch. Im Juli 2016 wurde er während des Christopher Street Days in Köln von Polizisten festgenommen, geschlagen, beleidigt und im Gewahrsam misshandelt. Der Fall durchlief damals alle gerichtlichen Instanzen und wurde schließlich als homophobe Tat gewertet. Statt die Polizisten anzuklagen, wurde der junge Mann selbst zum Beschuldigten, weil ihm Widerstand und Beleidigung vorgeworfen worden war. Am Ende sprachen ihn alle Instanzen von den Vorwürfen frei.
Nicht alle in dem Buch aufgegriffenen Beispiele mutmaßlicher oder tatsächlicher Polizeigewalt sind so eindeutig wie die des jungen Kölners. Das ist die wohl größte Schwäche des Buchs. Taugt der Fall des Venezolaners tatsächlich für einen Beleg des Racial Profilings - oder spricht er nicht doch eher für die Unprofessionalität einzelner Beamter? Und was ist mit den vielen Polizisten, die ihren Job tadellos erledigen? Bisweilen verschwimmen die Vorwürfe, und der "Report" droht dahin abzugleiten, wohin ihn die Autoren, wie sie anfangs herausstellen, gerade nicht steuern wollten, nämlich hin zu einem Generalverdacht gegen die gesamte Polizei.
Am Ende schaffen es Jan Keuchel und Christina Zühlke, die schon seit vielen Jahren als Investigativteam zusammenarbeiten, die Fäden beisammenzuhalten. Auch deshalb, weil sie aus dem, was sie einen möglichen "Fehler im System" nennen, die richtigen Fragen ableiten: Gibt es innerhalb der Polizei eine ausreichende Fehlerkultur? Eine, die nicht bloß in einem Bundesland greift, sondern die nötige Durchschlagskraft hätte für alle sechzehn Länderpolizeien? Wie steht es um die Cop Culture innerhalb der Polizei? Und warum werden Verfahren gegen Polizeibeamte oft vorschnell eingestellt, während Opfer mutmaßlicher oder tatsächlicher Polizeigewalt plötzlich Beschuldigte sind, weil ihnen fast automatisch Widerstandshandlungen vorgeworfen werden? Wie kann Aufklärung funktionieren, wenn Kollegen gegen Kollegen ermitteln?
Es gehe darum, die Diskussion um Reformen innerhalb der Polizei voranzubringen, im eigenen Interesse der Polizei, stellen die Autoren klar. Etwa durch unabhängige Kontrollinstanzen wie die sogenannten Polizei- und Bürgerbeauftragten, die es in einigen Bundesländern schon gebe und die, wenn auch ohne Ermittlungsbefugnisse, Missstände dokumentieren und dafür sorgen, dass sie aufgearbeitet werden. "In einem Rechtsstaat muss es selbstverständlich sein, dass sich eine staatliche Einrichtung kontrollieren lässt, (. . .), noch dazu, wenn sie das Gewaltmonopol besitzt."
Solche Forderungen fallen heute auf fruchtbaren Boden. Nie zuvor wurde die Diskussion über Fehlverhalten innerhalb von Polizeibehörden so offen geführt - ohne gleichzeitig zu schmälern, was Polizisten ihrerseits in ihren Einsätzen ertragen müssen. Die Debatte wird weitergehen, und das vermutlich nicht geräuschlos. KATHARINA ISKANDAR
Jan Keuchel und Christina Zühlke: "Tatort Polizei". Gewalt, Rassismus und mangelnde Kontrolle. Ein Report.
C. H. Beck Verlag, München 2021. 219 S., br., 16,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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