Man kann diese jüngere deutsche Geschichte nicht hinreichend verstehen, wenn man sie als je einseitige Demokratie- oder Diktaturgeschichte betrachtet, argumentiert die renommierte Historikerin Christina Morina in ihrem Buch. Auf Basis zahlreicher Dokumente wie Bürgerbriefen, Petitionen und Flugblättern ergründet sie, welche Vorstellungen von Demokratie und Bürgersein es in der Breite der Gesellschaft in den letzten 40 Jahren gab. Diese politische Kulturgeschichte "von unten" betrachtet den Umbruch von 1989 erstmals als Kapitel einer gesamtdeutschen Demokratiegeschichte. Morina zeigt, wie vielfältig und eigensinnig sich die Deutschen in Ost und West mit der Demokratie als Idee und Praxis auseinandersetzten, wie diese Vorstellungen die "Berliner Republik" prägen - und welche Potentiale und Gefährdungen damit bis heute verbunden sind.
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Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension
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Christina Morina erzählt vom Kampf um die deutsche Demokratie in Ost und West seit den Achtzigerjahren.
Von Paul Ingendaay
Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass wir aus den Vergröberungen des Alltagsgesprächs über den Zustand der Gesellschaft wieder herauskommen, nicht zuletzt aufgrund der digitalen Beschleunigung, der man sich ja schlecht verweigern kann. Wo es Shitstorms und "Aufreger" gibt, finden sie Widerhall, sei es bei der Instant-Versorgung in Talkshows oder in einschlägigen Bestsellern. Wenn ein Gegenstand durch ist, folgt der nächste. Untergründig hängen manche von ihnen allerdings miteinander zusammen. Etwa die Fragen, wie gut oder schlecht Deutschland-West und Deutschland-Ost zusammengewachsen sind - und was dieser immerhin schon 34 Jahre währende Prozess mit dem Aufkommen der Alternative für Deutschland (AfD), ihren sich radikalisierenden Thesen und ihrem steigenden Zuspruch in der deutschen Bevölkerung zu tun hat. Im Dunstkreis dieser Fragen erscheint dann alles andere als Indiz: hier geleakte Pauschalurteile über die neuen Bundesländer in Whatsapp-Botschaften des einflussreichsten Medienmanagers des Landes, dort der Bestseller des Leipziger Literaturwissenschaftlers Dirk Oschmann "Der Osten: Eine westdeutsche Erfindung".
Doch Indiz wofür? Einmal dafür, dass mächtige Männer im Privaten politische Ressentiments pflegen, von denen man sich nicht hatte träumen lassen. Und dann dafür, dass jede gesellschaftliche Gruppe, auch "der Osten", ihre je eigene Identitäts- und Benachteiligungsgeschichte zu erzählen hat, denn das eine und das andere - Identität und Benachteiligung - gehen Hand in Hand. Das ist im Fall von Oschmanns Buch sowohl durch eigene Erfahrung als auch aussagekräftiges Quellenmaterial gedeckt, ganz abgesehen davon, dass sein Buch sich im Vorwort als Zornrede zu erkennen gibt und uns damit auf Zuspitzungen vorbereitet.
Mit weniger medialer Macht kommt die Geschichtswissenschaft daher, und ihre Erkenntnisse fließen nicht immer in den Meinungsstrom der öffentlichen Kanäle ein. Dennoch wünscht man ihnen in manchen Fällen eine starke Langzeitwirkung. Die Historikerin Christina Morina, Jahrgang 1976 und Professorin für Allgemeine Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Zeitgeschichte an der Universität Bielefeld, hat jetzt ein solches Buch geschrieben. "Tausend Aufbrüche: Die Deutschen und ihre Demokratie seit den 1980er Jahren" verrät schon im Titel, dass es um gesellschaftspolitische Entwürfe und Utopien gehen wird statt um (deutlich besser verkäufliche) Ressentiments. Durch jahrelange Archivrecherchen konnte Morina rekonstruieren, was die Deutschen in Ost und West eigentlich unter Demokratie verstanden, bevor Beitritt und Vereinigung die beiden lange getrennten deutschen Staaten wieder zusammenführten. Ob die DDR ein "Unrechtsstaat" war, ist in diesem Licht eine nutzlose Debatte, die zeigt, wie oft sich das innerdeutsche Gespräch in symbolischen Gefechten erschöpft. Interessanter sei es zu verstehen, dass die Bundesrepublik eine Demokratiegeschichte, die DDR aber zumindest eine "Demokratieanspruchsgeschichte" zu erzählen habe.
Diesen Verflechtungen geht die Historikerin in einer gesamtdeutschen "Demokratiegeschichte von unten" über 300 Seiten hinweg nach, gestützt auf aktuelle Forschung, aber vor allem auf programmatische Texte, Konzeptpapiere und Appelle aus den Wendejahren sowie Eingaben, Briefe und schriftliche Forderungen der Bürger in Ost und West an ihre jeweiligen Regierungen. In der DDR - und aus nachvollziehbaren Gründen oft anonym - gingen die Schreiben an Zeitungen oder die SED-Funktionseliten, in der Bundesrepublik an die Bundespräsidenten Karl Carstens und Richard von Weizsäcker. Allein diese erhellenden, kuriosen, oft bewegenden Eingaben machen das Buch zu einer erstaunlichen Quellensammlung. Sichtbar wird ein Archiv der Ideale, Wünsche und Sehnsüchte von Menschen, die sich energisch als Bürger artikulierten.
In der Rückschau werden die Anlässe dieser Briefe als wichtige Wegmarken bei der Rekonstruktion eines gesamtdeutschen Staates erkennbar, ob bei den DDR-Kommunalwahlen vom Mai 1989 (deren Wahlbeobachter "über das simple Auszählen der Stimmen an den Fundamenten der simulierten Deutschen Demokratischen Republik rüttelten"), beim Ringen um neue partizipative Elemente im Grundgesetz, das Vermummungsverbot, die Debatte über sozialstaatliche Garantien oder bei der heiß diskutierten Hauptstadtfrage. So gelingt es Morina, die wachsende Unruhe und Frustration, die zum Sturz des SED-Regimes führten, als Ergebnis demokratischer Ansprüche zu beschreiben, aber auch die facettenreiche, von Hoffnungen, Forderungen und neuerlichen Enttäuschungen gezeichnete Zeit der Nachwendejahre zu erzählen. Gewiss wurden die "tausend Aufbrüche" des Buchtitels von den De-facto-Lösungen einer immer schneller, immer pragmatischer und autoritärer zupackenden Politik des westlichen Deutschlands erstickt; das heißt aber nicht, dass wir so tun sollten, als hätte es sie nicht gegeben.
Weithin vergessene Gruppierungen tauchen hier wieder auf, nicht nur das Neue Forum oder der Demokratische Aufbruch, sondern auch das Forum für direkte Demokratie, die Bürgerliste Leipzig und Aufbruch 90. Zentral für Morinas Argumentation sind dabei die unterschiedlichen Staatsbürger-Vorstellungen in West und Ost. Während sich in den westdeutschen Briefen vor allem die drei Typen des Wahlbürgers, des Steuerbürgers und des seinem Staat dienenden Bürgers ausmachen lassen, verraten die Briefe in der DDR (die von ängstlichen Rezipienten und Medien oft als "staatsgefährdend" an die Stasi weitergeleitet wurden), dass die Bürgeridee im Sozialismus eng an eine egalitäre Gesellschaftsordnung und "identitäre" Herrschaftsordnung geknüpft war. Viel öfter als im Westen wurde in der DDR an den "Menschen" appelliert - und kälter als im Westen die Staatsangehörigkeit nicht im Sinne von Heimat verstanden, sondern als bürokratisch, auf Zeit verliehene Zugehörigkeit zu einem Territorium. Beinahe so, als wäre dieser Staat "eine notwendige, aber nur widerwillig getragene Hülle", nennt sich eine Briefschreiberin "Einwohnerin der DDR".
Aus etlichen Briefen und Eingaben diese kluge, Augen öffnende Synthese geschaffen zu haben ist eine enorme Leistung. "Wir fühlen uns unmündig im Kant'schen Sinne, wonach man nur mündig ist, wenn man mit Hilfe seines Verstandes ohne Leitung eines anderen Entscheidungen treffen kann", schreiben zwei Männer und eine Frau - mutig mit Klarnamen - an das DDR-Komitee für Menschenrechte. Christina Morina zeigt und kommentiert, überlässt das Urteil aber ihren Lesern. Sie erkennt bürgerschaftliches Engagement, differenziert jedoch zwischen historischen und zwischenmenschlichen Sorgen. Den Übergang der offiziösen DDR-Rhetorik vom Pathos zur Pose benennt sie ohne ideologischen Furor. Ebenso nüchtern vermerkt sie die Gönnerhaftigkeit westdeutscher Politiker in den Wendejahren. Und Richard von Weizsäckers allzu romantische Deutung des Slogans "Wir sind das Volk!" kontrastiert Morina mit der trüben Karriere dieser Wendung bis zur Pegida-Bewegung.
Es war eben eine Zeit, die neben hehren Ideen und großen Gefühlen auch Verwirrung, Verlegenheit und Murks hervorgebracht hat. Wer sich das eingesteht, hat mit dem Begreifen schon begonnen. So, wie es heute ist, war es nicht immer. Die keineswegs geradlinige, vor allem vielstimmige und debattenreiche Geschichte des jüngeren deutschen Nachdenkens über das Wesen der Demokratie gehört in viele Hände, und vielleicht könnte sie uns künftig manchen öffentlich geäußerten Blödsinn ersparen.
Christina Morina: "Tausend Aufbrüche. Die Deutschen und ihre Demokratie seit den 1980er-Jahren". Siedler, 400 Seiten, 28 Euro
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