»Könnte sein, dass ich von Dingen rede, die sich 1873 oder 1874 im Henry County, Tennessee, zugetragen haben, doch was Daten betrifft, war ich noch nie verlässlich. Und falls sie sich zugetragen haben, gab es zu der Zeit keine wahrheitsgetreue Darstellung. Es gab nackte Tatsachen und eine Leiche, und dann gab es die wahren Ereignisse, die niemand kannte. Dass Jas Jonski getötet wurde, war die nackte Tatsache.«— Während der sogenannten Indianerkriege haben die beiden Unionssoldaten Thomas McNulty und John Cole ein Lakota-Mädchen adoptiert, und es Winona genannt. Und es ist Winona, die hier erzählt: von Jas Jonski, ihrer ersten Liebe und vielleicht ihrem Vergewaltiger, von ihrer Kindheit bei ihrem Stamm; davon wie es war, bei den Männern aufzuwachsen, die ihre Familie getötet haben könnten und die sie doch so sehr liebt; davon wie es ist, für die einen etwas Goldenes, für die anderen aber ein Nichts zu sein; von der Farm, wo sie mit Thomas und John, mit Lige Magan und den befreiten Sklaven Rosalee und Tennyson eine neue Familie gefunden hat. Eine bedrohte Idylle, denn nach dem verlorenen Bürgerkrieg hungert der Süden, auf den Banken ist kein Geld, die Rebellen wittern ihre Chance – und durchs Land ziehen Männer mit Kapuzen, vor denen nicht einmal die Weißen sicher sind.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Tobias Döring schätzt die Kunst von Sebastian Barry, aus historischen Geschichten die "Abgründe" der Gegenwart zu filtern. An seinem inzwischen achten Roman und neuesten Teil der McNulty-Saga hat sich der irische Autor aber leider verhoben, seufzt der Kritiker. Erzählt wird die Geschichte des verwaisten Indianermädchens Winona, das im Tennessee nach dem Bürgerkrieg auf der Tabakfarm von Tom McNulty und seinem Liebhaber John aufwächst, mit dem Wissen allerdings, dass die Adoptiveltern am Massaker gegen ihre Familie beteiligt waren, resümiert der Rezensent. Später arbeitet Winona bei einem Anwalt, wird misshandelt und vergewaltigt, sinnt als Mann verkleidet auf Rache und verliebt sich in ihre Gegnerin Peg, fährt Döring fort. Man muss die Debatten um kulturelle Aneignung nicht gutheißen, um zu erkennen, dass Barry die Zeichnung einer lesbischen Sioux-Frau nicht gelingt, wendet der Kritiker ein: Überladen und wenig authentisch scheint ihm die Hauptfigur, wenig glaubwürdig und rhythmisch der Plot. Einige sprachliche Peinlichkeiten machen es für Döring nicht besser.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.03.2021Indianer sind keine Iren
Sebastian Barry setzt die Diaspora-Saga fort
Was für ein erschütterndes Bekenntnis: "Ich komme aus der traurigsten Geschichte, die es auf Erden je gegeben hat. Ich bin eine der Letzten, die noch weiß, was mir genommen wurde. Das Gewicht der Trauer hat so manchen Kopf zermalmt." So spricht Winona, ein Waisenkind vom Stamme der Lakota. In Paris, Tennessee, um 1870 haben die Verheerungen des Bürgerkriegs das Land weithin verwüstet. Die Lage ist unübersichtlich, die Stimmung gereizt, die Zukunft düster. Marodierende Rebellengruppen der geschlagenen Konföderierten machen die Gegend unsicher, immer wieder flackern Kampfhandlungen auf. Auf einer alten Tabakfarm jedoch hat sich McNulty ein Refugium geschaffen: Mit seinem Liebhaber John Cole, den er aus gemeinsamen Soldatentagen kennt, zwei vormaligen Sklaven sowie dem Indianermädchen, das er aufgenommen hat und väterlich betreut, bildet er eine Art Patchworkfamilie und will den schlimmen Zeiten trotzen. Doch die Idylle bleibt brüchig: Winona weiß, dass ihr Wohltäter am Feldzug gegen ihre eigene Familie beteiligt war. Seine Fürsorge folgt einem Massaker.
Lesen und Schreiben hat Winona gelernt, sie arbeitet bei einem Anwalt und wagt sich immer weiter in die Welt der Weißen. Da gerät sie in einen Strudel sich überstürzender Ereignisse. Sie wird misshandelt, vergewaltigt und in militärische Aktionen verstrickt. Als junger Mann verkleidet, nimmt sie an einem Rachezug teil, erleidet eine Schusswunde und verliebt sich in eine schöne und verwegene Kämpferin namens Peg, die auf der gegnerischen Seite steht. Die unbedingte Liebe dieser beiden jungen Frauen zueinander bildet das Hoffnungszentrum ihrer ansonsten ruhelosen Leidensgeschichte.
Mit diesem Roman, seinem achten, nimmt sich der irische Erfolgsautor Sebastian Barry, Jahrgang 1955, sehr viel vor. Immer schon ist er darauf bedacht gewesen, düstere Vergangenheiten zu erkunden und historische Geschichten zu erfinden, um sich auf diesem Weg den Abgründen der Gegenwart zu stellen. Seine bisherigen Romane lassen sich allesamt als Netzwerk lesen, das die Geschicke einer weitverzweigten Familie, der McNultys, in der irischen Diaspora verbindet. Im preisgekrönten Vorgängerroman "Tage ohne Ende" (deutsch 2018) erzählte uns Tom McNulty, ein junger Desperado, wie er dem Großen Hunger in Irland entflieht, in Amerika in die Armee der Unionisten eintritt, sich in allerhand Bluttaten verstrickt und doch seine Zuversicht erhält. In der Liebe zu John Cole gelangte er durch sämtliche Höhen und Tiefen und gründete mit ihm schließlich eine leidlich glückliche Ersatzfamilie.
"Tausend Monde" setzt diese Geschichte fort, verschiebt jedoch die Sicht. Jetzt wird die vormalige Randfigur Winona zur Erzählerin und soll ihre eigene Perspektive geltend machen. Das aber gelingt nicht überzeugend. Man braucht kein Anhänger des allfälligen Authentizitätswahns in der Literatur zu sein - in englischen Rezensionen wurde diskutiert, ob ein weißer älterer heterosexueller Mann eine junge lesbische Sioux-Frau zum Sprechen bringen darf -, um festzustellen, dass ein derart routinierter Autor gerade dabei strauchelt. Er bürdet seiner Kunstfigur zu viel auf einmal auf und lässt ihr zu wenig Raum, sich zu entfalten. Die vielen dramatischen Wendungen wirken eher wie Einfälle des Autors als wie Schicksalsschläge, der Plot findet keinen Rhythmus und seine Erzählerin keine glaubwürdige Stimme. Sätze wie "In der großen und endlosen Blumenkette menschlicher Verletzungen mochte die einer Einzelnen von geringer Bedeutung sein" oder "Im Gebrodel dieses Augenblicks wurden Ungeduld und Schläfrigkeit eins" sind entweder Stilblüten oder peinliche Indianersprache. Und Liebesschwärmereien wie "Könnte man Honig in der Luft schweben lassen, dann wäre das Peg. Könnte man einen Abschnitt des wildesten Flusses nehmen und ihn in einen Menschen verwandeln, dann wäre das Peg. Könnte man seine Lippen auf einen pulsierenden Stern drücken, dann wäre das Peg" sind bloßer Kitsch.
Man darf durchaus gespannt sein, ob Barry seine McNulty-Saga fortsetzt und welchen Erschütterungen er künftig folgt. Im aktuellen Roman aber scheint es, als habe das Gewicht der Trauer, die darin zur Bearbeitung gelangen soll, die gutgemeinte literarische Idee zermalmt.
TOBIAS DÖRING
Sebastian Barry:
"Tausend Monde".
Roman.
Aus dem Englischen von Hans-Christian
Oeser. Steidl Verlag, Göttingen 2020. 256 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sebastian Barry setzt die Diaspora-Saga fort
Was für ein erschütterndes Bekenntnis: "Ich komme aus der traurigsten Geschichte, die es auf Erden je gegeben hat. Ich bin eine der Letzten, die noch weiß, was mir genommen wurde. Das Gewicht der Trauer hat so manchen Kopf zermalmt." So spricht Winona, ein Waisenkind vom Stamme der Lakota. In Paris, Tennessee, um 1870 haben die Verheerungen des Bürgerkriegs das Land weithin verwüstet. Die Lage ist unübersichtlich, die Stimmung gereizt, die Zukunft düster. Marodierende Rebellengruppen der geschlagenen Konföderierten machen die Gegend unsicher, immer wieder flackern Kampfhandlungen auf. Auf einer alten Tabakfarm jedoch hat sich McNulty ein Refugium geschaffen: Mit seinem Liebhaber John Cole, den er aus gemeinsamen Soldatentagen kennt, zwei vormaligen Sklaven sowie dem Indianermädchen, das er aufgenommen hat und väterlich betreut, bildet er eine Art Patchworkfamilie und will den schlimmen Zeiten trotzen. Doch die Idylle bleibt brüchig: Winona weiß, dass ihr Wohltäter am Feldzug gegen ihre eigene Familie beteiligt war. Seine Fürsorge folgt einem Massaker.
Lesen und Schreiben hat Winona gelernt, sie arbeitet bei einem Anwalt und wagt sich immer weiter in die Welt der Weißen. Da gerät sie in einen Strudel sich überstürzender Ereignisse. Sie wird misshandelt, vergewaltigt und in militärische Aktionen verstrickt. Als junger Mann verkleidet, nimmt sie an einem Rachezug teil, erleidet eine Schusswunde und verliebt sich in eine schöne und verwegene Kämpferin namens Peg, die auf der gegnerischen Seite steht. Die unbedingte Liebe dieser beiden jungen Frauen zueinander bildet das Hoffnungszentrum ihrer ansonsten ruhelosen Leidensgeschichte.
Mit diesem Roman, seinem achten, nimmt sich der irische Erfolgsautor Sebastian Barry, Jahrgang 1955, sehr viel vor. Immer schon ist er darauf bedacht gewesen, düstere Vergangenheiten zu erkunden und historische Geschichten zu erfinden, um sich auf diesem Weg den Abgründen der Gegenwart zu stellen. Seine bisherigen Romane lassen sich allesamt als Netzwerk lesen, das die Geschicke einer weitverzweigten Familie, der McNultys, in der irischen Diaspora verbindet. Im preisgekrönten Vorgängerroman "Tage ohne Ende" (deutsch 2018) erzählte uns Tom McNulty, ein junger Desperado, wie er dem Großen Hunger in Irland entflieht, in Amerika in die Armee der Unionisten eintritt, sich in allerhand Bluttaten verstrickt und doch seine Zuversicht erhält. In der Liebe zu John Cole gelangte er durch sämtliche Höhen und Tiefen und gründete mit ihm schließlich eine leidlich glückliche Ersatzfamilie.
"Tausend Monde" setzt diese Geschichte fort, verschiebt jedoch die Sicht. Jetzt wird die vormalige Randfigur Winona zur Erzählerin und soll ihre eigene Perspektive geltend machen. Das aber gelingt nicht überzeugend. Man braucht kein Anhänger des allfälligen Authentizitätswahns in der Literatur zu sein - in englischen Rezensionen wurde diskutiert, ob ein weißer älterer heterosexueller Mann eine junge lesbische Sioux-Frau zum Sprechen bringen darf -, um festzustellen, dass ein derart routinierter Autor gerade dabei strauchelt. Er bürdet seiner Kunstfigur zu viel auf einmal auf und lässt ihr zu wenig Raum, sich zu entfalten. Die vielen dramatischen Wendungen wirken eher wie Einfälle des Autors als wie Schicksalsschläge, der Plot findet keinen Rhythmus und seine Erzählerin keine glaubwürdige Stimme. Sätze wie "In der großen und endlosen Blumenkette menschlicher Verletzungen mochte die einer Einzelnen von geringer Bedeutung sein" oder "Im Gebrodel dieses Augenblicks wurden Ungeduld und Schläfrigkeit eins" sind entweder Stilblüten oder peinliche Indianersprache. Und Liebesschwärmereien wie "Könnte man Honig in der Luft schweben lassen, dann wäre das Peg. Könnte man einen Abschnitt des wildesten Flusses nehmen und ihn in einen Menschen verwandeln, dann wäre das Peg. Könnte man seine Lippen auf einen pulsierenden Stern drücken, dann wäre das Peg" sind bloßer Kitsch.
Man darf durchaus gespannt sein, ob Barry seine McNulty-Saga fortsetzt und welchen Erschütterungen er künftig folgt. Im aktuellen Roman aber scheint es, als habe das Gewicht der Trauer, die darin zur Bearbeitung gelangen soll, die gutgemeinte literarische Idee zermalmt.
TOBIAS DÖRING
Sebastian Barry:
"Tausend Monde".
Roman.
Aus dem Englischen von Hans-Christian
Oeser. Steidl Verlag, Göttingen 2020. 256 S., geb., 24,- [Euro].
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