Produktdetails
- Verlag: Aufbau Verlage GmbH
- Seitenzahl: 220
- Erscheinungstermin: 19. November 2019
- Deutsch
- ISBN-13: 9783841224484
- Artikelnr.: 58258528
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.01.2020Die Wiederholung
Kein richtiges Leben im falschen Film: In Cemile Sahins Debütroman "Taxi" wird Trauerarbeit zum Rollenspiel
Der Bachmannpreis gilt als wichtigste Auszeichnung für junge deutschsprachige Literatur. Versagt seiner Jury die kritische Stimme, dann bedeutet dies einiges. Zuletzt passierte das 2019, nachdem die Leipziger Schriftstellerin Ronya Othmann in Klagenfurt einen Text über den Genozid an den Jesiden vorgestellt hatte. Einige Jurymitglieder sahen sich angesichts der Erzählung von den Greueltaten des "Islamischen Staates" ihrer Urteilsfähigkeit beraubt. Wie lässt sich, fragte einer, denn überhaupt angemessen über Unsagbares, über unvorstellbare Grausamkeiten, über einen Krieg sprechen?
Wäre es nicht eine zeitliche Unmöglichkeit, ließe sich behaupten, Cemile Sahins Debüt "Taxi", der erste Roman im Korbinian Verlag, der vor einigen Jahren angetreten war, den Literaturbetrieb umzukrempeln, sei eine Antwort auf die ratlose Jurydiskussion in Klagenfurt. Der Roman stellt die Frage nach der Erzählbarkeit des Grauens vom Kopf auf die Füße. Er zeigt: Das Sprechen über den Krieg kann nur unzulängliche Annäherung sein. Aber auch das Schweigen ist keine Option.
"Taxi" ist ein auf Pointe geschriebener Episodenroman im Stil einer Netflix-Serie: aufgeregt, rasant und hinsichtlich der Verortung in Raum und Zeit so offen wie gegenwärtig. Die Hauptfigur Rosa Kaplan kommt aus einem Land, von dem heute nur die Fahne übrig geblieben ist und dessen Krieg sie zwei Söhne gekostet hat. Den ersten im Säuglingsalter, als ihr Haus bombardiert wurde, den zweiten, Polat, im Erwachsenenalter als Soldat. Seit seine Einheit von einer Bombe getroffen wurde, gilt er als vermisst, nach zehn Jahren erklärte man wider den mütterlichen Willen seinen Tod. Das leere Grab, das die Trauer erleichtern soll, besucht Rosa aus Prinzip nie.
In der gleichen Stadt lebt Rosas Spiegelfigur. Ein namenloser junger Mann, der seine Eltern zum letzten Mal sah, als sie mit einem Lkw abgeholt wurden. Der Namenlose gehört einer Jugend an, die im Krieg aufgewachsen ist und von der es im Roman heißt, dass für sie das Leben von Anfang an verbraucht war. Seine emotionale Amplitude ist so gering wie seine existentielle Ortlosigkeit groß. Weil er dazu dem verschollenen Sohn ähnlich sieht, wird er von Rosa auserkoren, die Hauptrolle in einer Serie zu spielen, die sie sich in den grausamen Jahren mütterlicher Entbehrung ausgedacht hat. Es ist eine Serie über die Rückkehr des verlorenen Sohnes, der eine Amnesie erlitten hatte, nicht biblisch, sondern mythologisch, inspiriert von Pathos und Katharsis. Warum das alles? Man hört nicht auf, Mutter zu sein, auch wenn man keinen Sohn mehr hat, heißt es über Rosa, und dies ist einer der in diesem Roman zahlreichen Sätze, die mit den Abgründen des Verlusts so nonchalant umgehen, als gäbe es keine Hierarchie der Schrecklichkeiten.
Der Namenlose begibt sich in Rosas Hände, nicht als Ersatz, sondern als Reinkarnation des verlorenen Sohnes. In monatelangen zermürbenden Rollenspielen verinnerlicht er die Eigenschaften Polats. Über lange Kapitel hinweg schildert der Roman die allmähliche Auflösung der einen und die Wiederauferstehung der anderen Existenz, wobei der Rollenspieler sich ganz der Skriptschreiberin Rosa überlässt: "ich wurde gefunden und ich gehe mit", "ich bin da, um ihre Lücke zur Geschichte zu schließen". Was wie Altruismus daherkommt, ist tatsächlich eine mimetische Vermeidungsstrategie. In der Rolle Polats darf er den Krieg vergessen. Der Rollentausch, der irgendwo zwischen Gabe und Diebstahl changiert, vereint zwei Hälften: "eine Frau ohne Sohn. Und ein Mann ohne Mutter". Pathologischer noch: "Mutter hat kein Gewissen mehr, weil sie ihr Kind verloren hat, und deshalb braucht sie mich, damit ich ihr Gewissen ersetze."
Auch Rosas Intention ist doppelbödig. Das Rollenspiel geht mit einem traumatischen Wiederholungszwang des Verlusts einher. Sie leidet darunter, dass der neue den alten Sohn nicht vollständig ersetzen kann, dass ihr Schmerz niemals absolute Heilung erfahren wird, und treibt deshalb das Rollenspiel wahnhaft an seine Grenzen. Ein Beispiel: Damit das Gesicht des neuen dem des alten Polat noch ähnlicher wird, bricht sie seine Nase mit einem Baseballschläger. Kann plastischer erzählt werden, wie hässlich sich ein Verlust schmerzend in die Psyche einfügen kann?
Aber die Lücke lässt sich nicht schließen. In dem Moment, in dem Rosas Theater der Beschwörung einer heilen Gegenwart beginnt, zeigt es schon Risse. Der erste auserwählte Zuschauer, der Postbote, wusste nichts von einem verschwundenen Sohn, die Nachbarin stellt skeptische Fragen, und die Verlobte erkennt die Kopie sofort. Wir bleiben eben "an die Geschichte genäht", sagt Schauspieler-Polat über sich und seine Mutter, und dies ist der zweite Grund, warum die Serie, ja das ganze Rollenspiel scheitern wird: Die Kriegserinnerungen der beiden sind gespenstisch anwesend, überblenden immer wieder den so herbeigesehnten Alltag. Das serielle, stark durchkonstruierte Formprinzip des Romans ähnelt dabei dem Charakter der schlechten Lüge: So wie die Serie von Anfang an auf das Finale konditioniert ist, erwartet man mit jeder Seite das Ereignis, das dem Rollenspiel endlich ein Ende bereitet.
"Taxi" ist ein Roman über den brennenden Wunsch, einen Verlust zu kompensieren, und darüber, dass auch Fiktion kaum Linderung verspricht. Sahins großes Talent liegt darin, Schmerz und Verlust überzeugend in die Körper ihrer Figuren zu legen. Meisterhaft vereint sie in ihnen Vergangenheit und Gegenwart in einer Koexistenz der Trauer, auch wenn die durchgehende Referenz auf eine Fernsehserie, die hollywoodreifen Szenenwechsel und das mitunter zu schnelle Erzähltempo streckenweise stark forciert wirken.
Wie man hört, plant Cemile Sahin, die eigentlich bildende Künstlerin ist, nach dem großen Erfolg von "Taxi" bereits im Herbst ihren zweiten Roman zu veröffentlichen. Mit mehr narrativer Lässigkeit und ohne die für viele Debütromane typische Tendenz zur Leistungsschau, aber der gleichen moralischen Sensibilität in der Figurenzeichnung könnte dabei etwas Großes herauskommen.
MIRYAM SCHELLBACH
Cemile Sahin: "Taxi".
Roman.
Korbinian Verlag, Berlin 2019. 220 S., br., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kein richtiges Leben im falschen Film: In Cemile Sahins Debütroman "Taxi" wird Trauerarbeit zum Rollenspiel
Der Bachmannpreis gilt als wichtigste Auszeichnung für junge deutschsprachige Literatur. Versagt seiner Jury die kritische Stimme, dann bedeutet dies einiges. Zuletzt passierte das 2019, nachdem die Leipziger Schriftstellerin Ronya Othmann in Klagenfurt einen Text über den Genozid an den Jesiden vorgestellt hatte. Einige Jurymitglieder sahen sich angesichts der Erzählung von den Greueltaten des "Islamischen Staates" ihrer Urteilsfähigkeit beraubt. Wie lässt sich, fragte einer, denn überhaupt angemessen über Unsagbares, über unvorstellbare Grausamkeiten, über einen Krieg sprechen?
Wäre es nicht eine zeitliche Unmöglichkeit, ließe sich behaupten, Cemile Sahins Debüt "Taxi", der erste Roman im Korbinian Verlag, der vor einigen Jahren angetreten war, den Literaturbetrieb umzukrempeln, sei eine Antwort auf die ratlose Jurydiskussion in Klagenfurt. Der Roman stellt die Frage nach der Erzählbarkeit des Grauens vom Kopf auf die Füße. Er zeigt: Das Sprechen über den Krieg kann nur unzulängliche Annäherung sein. Aber auch das Schweigen ist keine Option.
"Taxi" ist ein auf Pointe geschriebener Episodenroman im Stil einer Netflix-Serie: aufgeregt, rasant und hinsichtlich der Verortung in Raum und Zeit so offen wie gegenwärtig. Die Hauptfigur Rosa Kaplan kommt aus einem Land, von dem heute nur die Fahne übrig geblieben ist und dessen Krieg sie zwei Söhne gekostet hat. Den ersten im Säuglingsalter, als ihr Haus bombardiert wurde, den zweiten, Polat, im Erwachsenenalter als Soldat. Seit seine Einheit von einer Bombe getroffen wurde, gilt er als vermisst, nach zehn Jahren erklärte man wider den mütterlichen Willen seinen Tod. Das leere Grab, das die Trauer erleichtern soll, besucht Rosa aus Prinzip nie.
In der gleichen Stadt lebt Rosas Spiegelfigur. Ein namenloser junger Mann, der seine Eltern zum letzten Mal sah, als sie mit einem Lkw abgeholt wurden. Der Namenlose gehört einer Jugend an, die im Krieg aufgewachsen ist und von der es im Roman heißt, dass für sie das Leben von Anfang an verbraucht war. Seine emotionale Amplitude ist so gering wie seine existentielle Ortlosigkeit groß. Weil er dazu dem verschollenen Sohn ähnlich sieht, wird er von Rosa auserkoren, die Hauptrolle in einer Serie zu spielen, die sie sich in den grausamen Jahren mütterlicher Entbehrung ausgedacht hat. Es ist eine Serie über die Rückkehr des verlorenen Sohnes, der eine Amnesie erlitten hatte, nicht biblisch, sondern mythologisch, inspiriert von Pathos und Katharsis. Warum das alles? Man hört nicht auf, Mutter zu sein, auch wenn man keinen Sohn mehr hat, heißt es über Rosa, und dies ist einer der in diesem Roman zahlreichen Sätze, die mit den Abgründen des Verlusts so nonchalant umgehen, als gäbe es keine Hierarchie der Schrecklichkeiten.
Der Namenlose begibt sich in Rosas Hände, nicht als Ersatz, sondern als Reinkarnation des verlorenen Sohnes. In monatelangen zermürbenden Rollenspielen verinnerlicht er die Eigenschaften Polats. Über lange Kapitel hinweg schildert der Roman die allmähliche Auflösung der einen und die Wiederauferstehung der anderen Existenz, wobei der Rollenspieler sich ganz der Skriptschreiberin Rosa überlässt: "ich wurde gefunden und ich gehe mit", "ich bin da, um ihre Lücke zur Geschichte zu schließen". Was wie Altruismus daherkommt, ist tatsächlich eine mimetische Vermeidungsstrategie. In der Rolle Polats darf er den Krieg vergessen. Der Rollentausch, der irgendwo zwischen Gabe und Diebstahl changiert, vereint zwei Hälften: "eine Frau ohne Sohn. Und ein Mann ohne Mutter". Pathologischer noch: "Mutter hat kein Gewissen mehr, weil sie ihr Kind verloren hat, und deshalb braucht sie mich, damit ich ihr Gewissen ersetze."
Auch Rosas Intention ist doppelbödig. Das Rollenspiel geht mit einem traumatischen Wiederholungszwang des Verlusts einher. Sie leidet darunter, dass der neue den alten Sohn nicht vollständig ersetzen kann, dass ihr Schmerz niemals absolute Heilung erfahren wird, und treibt deshalb das Rollenspiel wahnhaft an seine Grenzen. Ein Beispiel: Damit das Gesicht des neuen dem des alten Polat noch ähnlicher wird, bricht sie seine Nase mit einem Baseballschläger. Kann plastischer erzählt werden, wie hässlich sich ein Verlust schmerzend in die Psyche einfügen kann?
Aber die Lücke lässt sich nicht schließen. In dem Moment, in dem Rosas Theater der Beschwörung einer heilen Gegenwart beginnt, zeigt es schon Risse. Der erste auserwählte Zuschauer, der Postbote, wusste nichts von einem verschwundenen Sohn, die Nachbarin stellt skeptische Fragen, und die Verlobte erkennt die Kopie sofort. Wir bleiben eben "an die Geschichte genäht", sagt Schauspieler-Polat über sich und seine Mutter, und dies ist der zweite Grund, warum die Serie, ja das ganze Rollenspiel scheitern wird: Die Kriegserinnerungen der beiden sind gespenstisch anwesend, überblenden immer wieder den so herbeigesehnten Alltag. Das serielle, stark durchkonstruierte Formprinzip des Romans ähnelt dabei dem Charakter der schlechten Lüge: So wie die Serie von Anfang an auf das Finale konditioniert ist, erwartet man mit jeder Seite das Ereignis, das dem Rollenspiel endlich ein Ende bereitet.
"Taxi" ist ein Roman über den brennenden Wunsch, einen Verlust zu kompensieren, und darüber, dass auch Fiktion kaum Linderung verspricht. Sahins großes Talent liegt darin, Schmerz und Verlust überzeugend in die Körper ihrer Figuren zu legen. Meisterhaft vereint sie in ihnen Vergangenheit und Gegenwart in einer Koexistenz der Trauer, auch wenn die durchgehende Referenz auf eine Fernsehserie, die hollywoodreifen Szenenwechsel und das mitunter zu schnelle Erzähltempo streckenweise stark forciert wirken.
Wie man hört, plant Cemile Sahin, die eigentlich bildende Künstlerin ist, nach dem großen Erfolg von "Taxi" bereits im Herbst ihren zweiten Roman zu veröffentlichen. Mit mehr narrativer Lässigkeit und ohne die für viele Debütromane typische Tendenz zur Leistungsschau, aber der gleichen moralischen Sensibilität in der Figurenzeichnung könnte dabei etwas Großes herauskommen.
MIRYAM SCHELLBACH
Cemile Sahin: "Taxi".
Roman.
Korbinian Verlag, Berlin 2019. 220 S., br., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension
Rezensentin Emeli Glaser hat beim Lesen verstanden, dass Cemile Sahins Debütroman gerade zu Recht überall gefeiert wird: Einerseits fand sie die Geschichte über eine Frau, die das Verschwinden ihres Sohns im Krieg nicht akzeptiert und deshalb mit einem Doppelgänger seine Rückkehr inszeniert, rasend komisch, andererseits scheint in der irrwitzigen Farce auch die Tragik derjenigen durch, die durch Kriege traumatisiert wurden, erklärt sie. Glaser hofft, dass sie nicht allzu lange auf eine Verfilmung warten muss, schließlich eignet sich der Roman dank seiner filmischen Erzählweise bestens dafür, wie sie versichert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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