Russlands Politik gegen innere und äußere »Feinde« hält die Welt in Atem. »Wir brauchen Filme, Bücher, Ausstellungen, Videospiele, patriotisches Internet, Radio, Fernsehen. Wir müssen einen Gegenangriff starten in diesem Krieg um die Seelen«, hieß es im Januar 2015 auf einer kremlnahen Website. Polittechnologen und Medienschaffende, Künstler und Schriftsteller arbeiten daran, Russland seine Größe, den Bürgern ihren Nationalstolz zurückzugeben. Welcher Mechanismen bedienen sie sich? Wo wächst Widerstand gegen ihre Manipulationen? Innenansichten einer Gesellschaft, die ihren Nachbarn immer rätselhafter wird.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Ilma Rakusa empfiehlt Ulrich Schmids Buch jedem, der sich für Russland interessiert. Auch wenn der Autor keine Prognosen abgibt, wohin der Putinismus das Land treibt, stimmen Schmids Befunde über die Machttechniken des Kremls die Rezensentin mehr als nachdenklich. Derart kenntnisreich berichtet ihr der Autor über die Strategien, Manipulationen und Inszenierungen der politischen Klasse unter Putin, der laut Schmid nationalistisch-patriotisch agiert. Wenn der Autor zentrale Figuren aus Putins Kreis vorstellt, Romane und Filme mit neoimperialer Tendenz sowie die kritische Intelligenz im Land, sieht Rakusa den Kampf um die russische Seele in vollem Gang.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.02.2016Abschied vom Realitätsprinzip
Wie man nationale Ideologien fabriziert und die Medien dafür auf Linie bringt: Ulrich Schmid zeigt Putins Russland auf dem Weg in die totale Verlogenheit.
Das neue Buch des Schweizer Slawisten Ulrich Schmid hat das Zeug, zum Standardwerk über die kulturell-politische Entwicklung im Russland der Putin-Zeit zu werden. Schmids Panorama der Diskurse und Ideologieproduktionstechniken, mit dem Untertitel "Vom Verfertigen der Wahrheit in der russischen Gegenwartskultur", imponiert durch seine Breite und Tiefe. Es schildert die neuere Fernsehgeschichte, erläutert wichtige Propagandaformeln, zeichnet literarische Debatten und Lebenswege nach, analysiert patriotische Videospiele und ist auch eine exemplarische Studie der infolge des Ukraine-Konflikts offenbar endgültig gescheiterten Beziehung Russlands zum Westen. Ein Scheitern, das dazu führte, dass Russland sich in einen Kokon von Projektionen einspinnt.
Schmid kommt zu dem wenig erfreulichen Schluss, dass Wladimir Putins postmoderne Diktatur dank gezielter Realityshow-Verdummung der Bevölkerungsmehrheit, aber auch infolge der Uneinigkeit der Oppositionellen und der Selbstentmündigung der Intelligenzija trotz Krise fest im Sattel sitzt. Er erinnert an die Zweiteilung des russischen Wahrheitsbegriffs in die gesetzte Wahrheit des Rechtsempfindens, "Prawda", und die ontologische Wahrheit, "Istina", die, wie die religiösen Denker Nikolai Berdjajew und Wladimir Solowjow darlegten, nur mit schöpferischer geistiger Anstrengung zu erlangen ist.
Der Anspruch der Religionsphilosophen, die verborgene Essenz der Wahrheit erkennen zu können, wurde ironischerweise von der sowjetmarxistischen, dann aber auch der Putinschen Staatsideologie übernommen. Schmid schildert, wie noch nach Stalins Tod der offizielle Siegesdiskurs die realen Katastrophenerfahrungen zu überkleistern versuchte, was Kämpfer wie Alexander Solschenizyn auf den Plan rief.
Der Meister der russischen Polittechnologie während der "fetten" nuller Jahre, der schillernde Kreml-Guru Wladislaw Surkow, hat bezeichnenderweise sowohl Ingenieurtechnik als auch Regie studiert. Surkow prägte den Terminus "souveräne" oder "gelenkte Demokratie" für den Putin-Staat, er erfand die Kreml-Jugendorganisation der "Unsrigen" ("Naschi"), die Dissens niederkämpfen sollte, er desavouierte aber auch mit seinem Gangster-Roman "Nahe Null" das kriminelle Spiel hinter den politischen Kulissen.
Der Protestwinter 2011/2012, als Putin trotz breit geäußerter Unmutsbekundungen und Wahlfälschungsvorwürfen Tandemspräsident Medwedjew im Kreml ablöste, gab das Signal zur ideologischen Hochrüstung. 2012 strahlte das Staatsfernsehen NTW eine "Dokumentation" namens "Anatomie des Protests" aus, die nachzuweisen vorgab, dass die Opposition, die Manipulationen bei den Wahlen und Bezahlung von Pro-Putin-Demonstranten nachgewiesen hatte, umgekehrt selbst vom Westen manipuliert und bezahlt werde. 2013 wurde die Nachrichtenagentur RIA Nowosti umgemodelt zur Nachfolgeorganisation "Russland heute", die unter Chefeinpeitscher Dmitri Kisseljow die Annexion der Krim als Fernsehspektakel aufbereitete. Die Russlands Interessen zuwiderlaufende Politik der EU und Amerikas wird in den Staatskanälen immer gröber beschimpft. Falschmeldungen wie die vom russischen Jungen, der 2014 angeblich von ukrainischen Soldaten gekreuzigt wurde, oder jetzt die vom angeblich vergewaltigten russlanddeutschen Mädchen in Berlin werden bewusst hochgespielt, um das Publikum zu beschäftigen und zu zeigen, dass die Wahrheit unergründlich ist.
Umso wichtiger dürfen sich die Eingeweihten vorkommen, die der Kreml ermächtigt, verborgene Wahrheiten kundzutun. Sei es der Ideologe des Eurasiertums, Alexander Dugin, der es als Russlands Mission ansieht, sich einer sakralen Macht zu unterwerfen und den globalen Kapitalismus zu bekriegen. Oder der Beichtvater von Präsident Putin, Bischof Tichon Schewkunow, ein professioneller Filmregisseur, der den Westen als korrupt und Russland als aufsteigende Zivilisation ansieht. Als Mitglied im präsidialen Kulturrat kuratierte Tichon vorigen Herbst die patriotische Moskauer Multimediaausstellung "Meine Geschichte. Von großen Erschütterungen zu großen Siegen" mit (F.A.Z. vom 22. Dezember 2015).
Schmid beschreibt das Syndrom einer Verlierergesellschaft, die unausgesprochen übereingekommen ist, sich vom Realitätsprinzip zu verabschieden, mit Ausnahme einiger unerschrockener Schriftsteller wie Tatjana Tolstaja oder Ljudmila Ulizkaja, die die Inkompetenz und Aggressivität der russischen Elite mit einer wuchernden Krebserkrankung vergleicht, sowie kleiner intellektueller Inseln. Einen dissidentischen Kontrapunkt setzen zwar das neue Gefängnisschrifttum mit seinem Authentizitätspathos und die kritische Kriegs- und Bürgerkriegsliteratur des Journalisten und Schriftstellers Arkadi Babtschenko. Doch es sind vor allem Emigranten, etwa der Essayist Boris Schumazki und der Romancier Michail Schischkin, die ihrem Land, wie es Solschenizyn tat, totale Verlogenheit bescheinigen.
Russlands Probleme haben auch mit seiner geostrategischen Lage und räumlichen Übergröße zu tun. Der Schriftsteller und Nationalbolschewik Eduard Limonow, der eine furchtlose Kriegerkaste heranziehen will und nur deshalb einen Oppositionskurs zu Putin hält, hat sich, wie er gestand, als Jugendlicher an der russischen Landkarte berauscht wie an Wein. Auch ein anderer literarischer Linksimperialist, Sachar Prilepin, sucht ein Leben im Superlativ, wozu er sogar am Tschetschenien-Krieg teilnahm. Für den religiösen Dichter und Prosaautor Michail Tarkowski, der aus Moskau in die sibirische Taiga umsiedelte, ist die Zerrissenheit seiner Heimat zwischen Europa und Asien auch ein Kreuzeszeichen.
Nach dem Mord an Boris Nemzow sind seriöse russische Oppositionspolitiker rar geworden. Die verbliebenen, der unerschrockene Korruptionsjäger Alexej Nawalnyj und der exilierte Ex-Oligarch Michail Chodorkowskij, bekommen von Schmid schlechte Noten, weil beide sich als Patrioten verstehen, Russlands territoriale Einheit bewahren wollen und die annektierte Krim nicht der Ukraine zurückgeben möchten. Dabei hätten, trotz aller Kritik an Putins Methoden, der Wunsch der meisten Krim-Bewohner und die militärstrategische Bedeutung der Schwarzmeerhalbinsel, zumal angesichts des keineswegs virtuellen Vorrückens der Nato, eine Erörterung verdient.
Auch dass Chodorkowskij sich nicht als Jude versteht, sondern als Russe, scheint Schmid zu missfallen. Dabei könnte man sich eigentlich freuen, wenn ein geläuterter, couragierter Mann, der sich um die gemarterte Heimat verdient gemacht hat, sich emphatisch zu ihr bekennt.
KERSTIN HOLM
Ulrich Schmid: "Technologien der Seele". Vom Verfertigen der Wahrheit in der russischen Gegenwartskultur.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 366 S., br., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie man nationale Ideologien fabriziert und die Medien dafür auf Linie bringt: Ulrich Schmid zeigt Putins Russland auf dem Weg in die totale Verlogenheit.
Das neue Buch des Schweizer Slawisten Ulrich Schmid hat das Zeug, zum Standardwerk über die kulturell-politische Entwicklung im Russland der Putin-Zeit zu werden. Schmids Panorama der Diskurse und Ideologieproduktionstechniken, mit dem Untertitel "Vom Verfertigen der Wahrheit in der russischen Gegenwartskultur", imponiert durch seine Breite und Tiefe. Es schildert die neuere Fernsehgeschichte, erläutert wichtige Propagandaformeln, zeichnet literarische Debatten und Lebenswege nach, analysiert patriotische Videospiele und ist auch eine exemplarische Studie der infolge des Ukraine-Konflikts offenbar endgültig gescheiterten Beziehung Russlands zum Westen. Ein Scheitern, das dazu führte, dass Russland sich in einen Kokon von Projektionen einspinnt.
Schmid kommt zu dem wenig erfreulichen Schluss, dass Wladimir Putins postmoderne Diktatur dank gezielter Realityshow-Verdummung der Bevölkerungsmehrheit, aber auch infolge der Uneinigkeit der Oppositionellen und der Selbstentmündigung der Intelligenzija trotz Krise fest im Sattel sitzt. Er erinnert an die Zweiteilung des russischen Wahrheitsbegriffs in die gesetzte Wahrheit des Rechtsempfindens, "Prawda", und die ontologische Wahrheit, "Istina", die, wie die religiösen Denker Nikolai Berdjajew und Wladimir Solowjow darlegten, nur mit schöpferischer geistiger Anstrengung zu erlangen ist.
Der Anspruch der Religionsphilosophen, die verborgene Essenz der Wahrheit erkennen zu können, wurde ironischerweise von der sowjetmarxistischen, dann aber auch der Putinschen Staatsideologie übernommen. Schmid schildert, wie noch nach Stalins Tod der offizielle Siegesdiskurs die realen Katastrophenerfahrungen zu überkleistern versuchte, was Kämpfer wie Alexander Solschenizyn auf den Plan rief.
Der Meister der russischen Polittechnologie während der "fetten" nuller Jahre, der schillernde Kreml-Guru Wladislaw Surkow, hat bezeichnenderweise sowohl Ingenieurtechnik als auch Regie studiert. Surkow prägte den Terminus "souveräne" oder "gelenkte Demokratie" für den Putin-Staat, er erfand die Kreml-Jugendorganisation der "Unsrigen" ("Naschi"), die Dissens niederkämpfen sollte, er desavouierte aber auch mit seinem Gangster-Roman "Nahe Null" das kriminelle Spiel hinter den politischen Kulissen.
Der Protestwinter 2011/2012, als Putin trotz breit geäußerter Unmutsbekundungen und Wahlfälschungsvorwürfen Tandemspräsident Medwedjew im Kreml ablöste, gab das Signal zur ideologischen Hochrüstung. 2012 strahlte das Staatsfernsehen NTW eine "Dokumentation" namens "Anatomie des Protests" aus, die nachzuweisen vorgab, dass die Opposition, die Manipulationen bei den Wahlen und Bezahlung von Pro-Putin-Demonstranten nachgewiesen hatte, umgekehrt selbst vom Westen manipuliert und bezahlt werde. 2013 wurde die Nachrichtenagentur RIA Nowosti umgemodelt zur Nachfolgeorganisation "Russland heute", die unter Chefeinpeitscher Dmitri Kisseljow die Annexion der Krim als Fernsehspektakel aufbereitete. Die Russlands Interessen zuwiderlaufende Politik der EU und Amerikas wird in den Staatskanälen immer gröber beschimpft. Falschmeldungen wie die vom russischen Jungen, der 2014 angeblich von ukrainischen Soldaten gekreuzigt wurde, oder jetzt die vom angeblich vergewaltigten russlanddeutschen Mädchen in Berlin werden bewusst hochgespielt, um das Publikum zu beschäftigen und zu zeigen, dass die Wahrheit unergründlich ist.
Umso wichtiger dürfen sich die Eingeweihten vorkommen, die der Kreml ermächtigt, verborgene Wahrheiten kundzutun. Sei es der Ideologe des Eurasiertums, Alexander Dugin, der es als Russlands Mission ansieht, sich einer sakralen Macht zu unterwerfen und den globalen Kapitalismus zu bekriegen. Oder der Beichtvater von Präsident Putin, Bischof Tichon Schewkunow, ein professioneller Filmregisseur, der den Westen als korrupt und Russland als aufsteigende Zivilisation ansieht. Als Mitglied im präsidialen Kulturrat kuratierte Tichon vorigen Herbst die patriotische Moskauer Multimediaausstellung "Meine Geschichte. Von großen Erschütterungen zu großen Siegen" mit (F.A.Z. vom 22. Dezember 2015).
Schmid beschreibt das Syndrom einer Verlierergesellschaft, die unausgesprochen übereingekommen ist, sich vom Realitätsprinzip zu verabschieden, mit Ausnahme einiger unerschrockener Schriftsteller wie Tatjana Tolstaja oder Ljudmila Ulizkaja, die die Inkompetenz und Aggressivität der russischen Elite mit einer wuchernden Krebserkrankung vergleicht, sowie kleiner intellektueller Inseln. Einen dissidentischen Kontrapunkt setzen zwar das neue Gefängnisschrifttum mit seinem Authentizitätspathos und die kritische Kriegs- und Bürgerkriegsliteratur des Journalisten und Schriftstellers Arkadi Babtschenko. Doch es sind vor allem Emigranten, etwa der Essayist Boris Schumazki und der Romancier Michail Schischkin, die ihrem Land, wie es Solschenizyn tat, totale Verlogenheit bescheinigen.
Russlands Probleme haben auch mit seiner geostrategischen Lage und räumlichen Übergröße zu tun. Der Schriftsteller und Nationalbolschewik Eduard Limonow, der eine furchtlose Kriegerkaste heranziehen will und nur deshalb einen Oppositionskurs zu Putin hält, hat sich, wie er gestand, als Jugendlicher an der russischen Landkarte berauscht wie an Wein. Auch ein anderer literarischer Linksimperialist, Sachar Prilepin, sucht ein Leben im Superlativ, wozu er sogar am Tschetschenien-Krieg teilnahm. Für den religiösen Dichter und Prosaautor Michail Tarkowski, der aus Moskau in die sibirische Taiga umsiedelte, ist die Zerrissenheit seiner Heimat zwischen Europa und Asien auch ein Kreuzeszeichen.
Nach dem Mord an Boris Nemzow sind seriöse russische Oppositionspolitiker rar geworden. Die verbliebenen, der unerschrockene Korruptionsjäger Alexej Nawalnyj und der exilierte Ex-Oligarch Michail Chodorkowskij, bekommen von Schmid schlechte Noten, weil beide sich als Patrioten verstehen, Russlands territoriale Einheit bewahren wollen und die annektierte Krim nicht der Ukraine zurückgeben möchten. Dabei hätten, trotz aller Kritik an Putins Methoden, der Wunsch der meisten Krim-Bewohner und die militärstrategische Bedeutung der Schwarzmeerhalbinsel, zumal angesichts des keineswegs virtuellen Vorrückens der Nato, eine Erörterung verdient.
Auch dass Chodorkowskij sich nicht als Jude versteht, sondern als Russe, scheint Schmid zu missfallen. Dabei könnte man sich eigentlich freuen, wenn ein geläuterter, couragierter Mann, der sich um die gemarterte Heimat verdient gemacht hat, sich emphatisch zu ihr bekennt.
KERSTIN HOLM
Ulrich Schmid: "Technologien der Seele". Vom Verfertigen der Wahrheit in der russischen Gegenwartskultur.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 366 S., br., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Spekulationen über die russische Seele und Mentalität sind Urlich Schmids Sache nicht ... sorgfältig recherchiert, an Detailinformationen überaus reiches Buch. Es ist jedem zu empfehlen, der sich für Russland interessiert.« Ilma Rakusa Neue Zürcher Zeitung 20160305