Russlands Politik gegen innere und äußere »Feinde« hält die Welt in Atem. »Wir brauchen Filme, Bücher, Ausstellungen, Videospiele, patriotisches Internet, Radio, Fernsehen. Wir müssen einen Gegenangriff starten in diesem Krieg um die Seelen«, hieß es im Januar 2015 auf einer kremlnahen Website. Polittechnologen und Medienschaffende, Künstler und Schriftsteller arbeiten daran, Russland seine Größe, den Bürgern ihren Nationalstolz zurückzugeben. Welcher Mechanismen bedienen sie sich? Wo wächst Widerstand gegen ihre Manipulationen? Innenansichten einer Gesellschaft, die ihren Nachbarn immer rätselhafter wird.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Ilma Rakusa empfiehlt Ulrich Schmids Buch jedem, der sich für Russland interessiert. Auch wenn der Autor keine Prognosen abgibt, wohin der Putinismus das Land treibt, stimmen Schmids Befunde über die Machttechniken des Kremls die Rezensentin mehr als nachdenklich. Derart kenntnisreich berichtet ihr der Autor über die Strategien, Manipulationen und Inszenierungen der politischen Klasse unter Putin, der laut Schmid nationalistisch-patriotisch agiert. Wenn der Autor zentrale Figuren aus Putins Kreis vorstellt, Romane und Filme mit neoimperialer Tendenz sowie die kritische Intelligenz im Land, sieht Rakusa den Kampf um die russische Seele in vollem Gang.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.02.2016Pumps und Pkws
Russland verstehen: Über die „praktisch nicht herzustellende Wirklichkeit“ in dem
riesigen russischen Reich berichtet in einem erhellenden Buch der Kulturwissenschaftler Ulrich Schmid
VON FRANZISKA AUGSTEIN
Misst man die russische Staatsführung an westlichen Vorstellungen von Demokratie, fällt das Ergebnis verheerend aus. Präsident Putin geht daraus als selbstherrlicher Verächter demokratischer Prozesse, wenn nicht des Wählervolks selbst hervor. Die Frage, warum viele Russen das nicht zu merken scheinen und Putin dennoch verehren, wird beantwortet mit dem Verweis auf die vom Kreml betriebene mediale Indoktrination der Bevölkerung sowie auf Putins emsiges Bemühen, sich als starker Max zu präsentieren, in der Nachfolge Stalins und berühmt-berüchtigter Zaren.
Der sinkende Ölpreis hat für große Teile der russischen Gesellschaft Entbehrungen mit sich gebracht. Aber anstatt ihren Präsidenten dafür verantwortlich zu machen, nimmt eine Mehrheit der Russen das klaglos hin. Diesbezüglich wird im Westen gern auf die nicht bloß sprichwörtliche Leidensfähigkeit des Volkes verwiesen. Die ist auch heute gewiss viel größer als zum Beispiel in der Bundesrepublik. Aber reicht das zur Erklärung hin, warum Putin bei sich zu Hause immer noch sehr angesehen ist? Ganz so einfach kann es nicht sein, oder doch?
In seiner fabelhaften Analyse „vom Verfertigen der Wahrheit in der russischen Gegenwartskultur“ gibt Ulrich Schmid einen Einblick in Topoi des Denkens, die westlichen Gesellschaften spätestens seit der Zeit der Aufklärung ziemlich fremd sind. Der Staat, schreibt Schmid, sei in Russland seit Jahrhunderten als „metaphysisch begründete Ordnung“ verstanden worden, „als Organismus, dessen Elemente in einer prästabilierten Harmonie angeordnet sind“. Das habe zu einer „symbolischen Trennung des Machthabers von seinem politischen Amt geführt“.
In Nazi-Deutschland redeten sich die Leute ihren Hitler schön, indem sie angesichts beunruhigender Detailmaßnahmen konstatierten: Wenn das der Führer wüsste! Hitler war für alles verantwortlich. Angesichts von Schrecklichkeiten musste ihm also Nicht-Wissen unterstellt werden. Solche Ausweichargumentation war und ist in Russland Schmid zufolge nicht nötig: Auf der traditionellen „Unterscheidung zwischen einem idealisierten Herrscher und einer bösen Staatsmacht“ beruhe „das scheinbare Paradox, dass eine Mehrheit der Bevölkerung der Regierung misstraut, gleichzeitig aber den Präsidenten mit hohen Zustimmungsraten unterstützt“. Hinter allem, was schlecht läuft, stehe in der öffentlichen Wahrnehmung „die gesichtslose Bürokratie“.
Ein Herrscher, der für sein Tun vom Volk nicht verantwortlich gemacht werden will, muss brachial PR betreiben. Darauf war schon Boris Jelzin, Liebling des Westens, dringend angewiesen. Schmid zitiert aus einem aufschlussreichen Papier. Als 1996 Jelzins Wiederwahl anstand, die vom ersten Tschetschenienkrieg und einer miserablen Wirtschaftslage überschattet wurde, waren seine Helfer eifrig damit beschäftigt, Gegenkandidaten öffentlich zu diskreditieren.
Jelzins damaliger publizistischer Zuarbeiter Gleb Pawlowski machte Vorschläge zur medialen Verklärung des Präsidenten: „Notwendig ist die Schaffung eines Images, d. h. eines symbolischen Images einer zwar notwendigen, aber (. . .) praktisch nicht herzustellenden Wirklichkeit. (. . .) Der Präsident muss wieder der ,Herrscher über die Gefühle‘ der Bevölkerung werden, ihr ,Held‘.“ Jelzin gewann die Wahlen. Höchstwahrscheinlich hat Putin daraus gelernt.
Dankenswerterweise zitiert Schmid viel aus den Studien russischer Wissenschaftler. Die Soziologin Natalja Subarewitsch hat 2012 Russland als ein Reich von drei Sphären beschrieben: „Russland 1“ - das sei die urbane, westlich orientierte Bevölkerung. Um sie bemühe Putin sich nicht mehr. „Russland 2“ seien die „hauptsächlich von Industriebetrieben geprägten Provinzstädte“. „Russland 3“ bezeichne die ländlichen Regionen. Russland 2 und Russland 3 seien die Gegenden, um die Putin sich kümmere, um seine Macht zu erhalten. Das mag aus seiner Sicht sinnvoll sein: Dort lebt die Masse des Volkes.
Westliche Wissenschaftler besuchen vor allem russische Universitäten und Großstädte. Der Mangel an Vertrautheit mit dem Riesenland führt dazu, dass manche vielleicht etwas vorschnell einen baldigen Umsturz des „Systems Putin“ voraussagen. Westliche Wissenschaftler setzen auf die urbane Mittelschicht, wie sie an den Universitäten anzutreffen ist, wo die Kritik an der russischen Staatsführung sehr oft in zornige Resignation umschlägt: Viele junge, talentierte Leute ziehen es vor, ihr Glück in anderen Ländern zu suchen.
Dass es eine „Mittelschicht“ im westlichen Sinn gebe, bestreitet indes der Soziologe Alexander Bitkow. Aus dessen Sicht, so Schmid, sei „die vielbeschworene neue ,Mittelklasse‘ (. . .) eine Konstruktion der Medien“, um die Demonstrationen gegen Putin zu erklären. „In Tat und Wahrheit“, zitiert Schmid weiter, sei die ,Mittelklasse‘ „ein Produkt der Breschnew-Zeit“.
Breschnew achtete darauf, Konsumbedürfnisse möglichst zu befriedigen. Der Art von Mittelklasse, die damals entstand, so Bitkow, sei mehr an Pumps und Pkws gelegen gewesen als an politischer Partizipation.
Im Verlauf seines Buches gibt Ulrich Schmid einen guten Überblick darüber, was in der russischen Gegenwartskultur von Belang ist: Pop-Gruppen, Theaterperformances, Kunstspektakel, Filme. Er schildert private Initiativen, die über die social media großen Zuspruch erfuhren, ebenso wie die Aktionen von Staates Seite und deren Vordenker.
Schmids Leser merken zwei Dinge: Der Autor, Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen, hat ein Faible für Russland, auch wenn er vieles gern anders sähe. Und: Er gefällt sich nicht im wohlfeilen Putin-Bashing. Sein Buch setzt all jenen ein Licht auf, die nicht viel von Russland wissen, aber gern mehr verstünden.
Ulrich Schmid: Technologien der Seele. Vom Verfertigen der Wahrheit in der russischen Gegenwartskultur. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 386 Seiten, 18 Euro. E-Book: 17,99 Euro.
Viele unterscheiden aus Tradition
zwischen dem guten Herrscher
und der bösen Staatsmacht
Der Autor hat ein Faible
für das Land, auch wenn
er vieles gern anders sähe
Blick auf das Geschäftszentrum von Moskau, Russland freilich ist viel größer. Die Mehrheit der Bevölkerung lebt in den von Industriebetrieben geprägten Provinzstädten und auf dem Lande.
Foto: dpa
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Russland verstehen: Über die „praktisch nicht herzustellende Wirklichkeit“ in dem
riesigen russischen Reich berichtet in einem erhellenden Buch der Kulturwissenschaftler Ulrich Schmid
VON FRANZISKA AUGSTEIN
Misst man die russische Staatsführung an westlichen Vorstellungen von Demokratie, fällt das Ergebnis verheerend aus. Präsident Putin geht daraus als selbstherrlicher Verächter demokratischer Prozesse, wenn nicht des Wählervolks selbst hervor. Die Frage, warum viele Russen das nicht zu merken scheinen und Putin dennoch verehren, wird beantwortet mit dem Verweis auf die vom Kreml betriebene mediale Indoktrination der Bevölkerung sowie auf Putins emsiges Bemühen, sich als starker Max zu präsentieren, in der Nachfolge Stalins und berühmt-berüchtigter Zaren.
Der sinkende Ölpreis hat für große Teile der russischen Gesellschaft Entbehrungen mit sich gebracht. Aber anstatt ihren Präsidenten dafür verantwortlich zu machen, nimmt eine Mehrheit der Russen das klaglos hin. Diesbezüglich wird im Westen gern auf die nicht bloß sprichwörtliche Leidensfähigkeit des Volkes verwiesen. Die ist auch heute gewiss viel größer als zum Beispiel in der Bundesrepublik. Aber reicht das zur Erklärung hin, warum Putin bei sich zu Hause immer noch sehr angesehen ist? Ganz so einfach kann es nicht sein, oder doch?
In seiner fabelhaften Analyse „vom Verfertigen der Wahrheit in der russischen Gegenwartskultur“ gibt Ulrich Schmid einen Einblick in Topoi des Denkens, die westlichen Gesellschaften spätestens seit der Zeit der Aufklärung ziemlich fremd sind. Der Staat, schreibt Schmid, sei in Russland seit Jahrhunderten als „metaphysisch begründete Ordnung“ verstanden worden, „als Organismus, dessen Elemente in einer prästabilierten Harmonie angeordnet sind“. Das habe zu einer „symbolischen Trennung des Machthabers von seinem politischen Amt geführt“.
In Nazi-Deutschland redeten sich die Leute ihren Hitler schön, indem sie angesichts beunruhigender Detailmaßnahmen konstatierten: Wenn das der Führer wüsste! Hitler war für alles verantwortlich. Angesichts von Schrecklichkeiten musste ihm also Nicht-Wissen unterstellt werden. Solche Ausweichargumentation war und ist in Russland Schmid zufolge nicht nötig: Auf der traditionellen „Unterscheidung zwischen einem idealisierten Herrscher und einer bösen Staatsmacht“ beruhe „das scheinbare Paradox, dass eine Mehrheit der Bevölkerung der Regierung misstraut, gleichzeitig aber den Präsidenten mit hohen Zustimmungsraten unterstützt“. Hinter allem, was schlecht läuft, stehe in der öffentlichen Wahrnehmung „die gesichtslose Bürokratie“.
Ein Herrscher, der für sein Tun vom Volk nicht verantwortlich gemacht werden will, muss brachial PR betreiben. Darauf war schon Boris Jelzin, Liebling des Westens, dringend angewiesen. Schmid zitiert aus einem aufschlussreichen Papier. Als 1996 Jelzins Wiederwahl anstand, die vom ersten Tschetschenienkrieg und einer miserablen Wirtschaftslage überschattet wurde, waren seine Helfer eifrig damit beschäftigt, Gegenkandidaten öffentlich zu diskreditieren.
Jelzins damaliger publizistischer Zuarbeiter Gleb Pawlowski machte Vorschläge zur medialen Verklärung des Präsidenten: „Notwendig ist die Schaffung eines Images, d. h. eines symbolischen Images einer zwar notwendigen, aber (. . .) praktisch nicht herzustellenden Wirklichkeit. (. . .) Der Präsident muss wieder der ,Herrscher über die Gefühle‘ der Bevölkerung werden, ihr ,Held‘.“ Jelzin gewann die Wahlen. Höchstwahrscheinlich hat Putin daraus gelernt.
Dankenswerterweise zitiert Schmid viel aus den Studien russischer Wissenschaftler. Die Soziologin Natalja Subarewitsch hat 2012 Russland als ein Reich von drei Sphären beschrieben: „Russland 1“ - das sei die urbane, westlich orientierte Bevölkerung. Um sie bemühe Putin sich nicht mehr. „Russland 2“ seien die „hauptsächlich von Industriebetrieben geprägten Provinzstädte“. „Russland 3“ bezeichne die ländlichen Regionen. Russland 2 und Russland 3 seien die Gegenden, um die Putin sich kümmere, um seine Macht zu erhalten. Das mag aus seiner Sicht sinnvoll sein: Dort lebt die Masse des Volkes.
Westliche Wissenschaftler besuchen vor allem russische Universitäten und Großstädte. Der Mangel an Vertrautheit mit dem Riesenland führt dazu, dass manche vielleicht etwas vorschnell einen baldigen Umsturz des „Systems Putin“ voraussagen. Westliche Wissenschaftler setzen auf die urbane Mittelschicht, wie sie an den Universitäten anzutreffen ist, wo die Kritik an der russischen Staatsführung sehr oft in zornige Resignation umschlägt: Viele junge, talentierte Leute ziehen es vor, ihr Glück in anderen Ländern zu suchen.
Dass es eine „Mittelschicht“ im westlichen Sinn gebe, bestreitet indes der Soziologe Alexander Bitkow. Aus dessen Sicht, so Schmid, sei „die vielbeschworene neue ,Mittelklasse‘ (. . .) eine Konstruktion der Medien“, um die Demonstrationen gegen Putin zu erklären. „In Tat und Wahrheit“, zitiert Schmid weiter, sei die ,Mittelklasse‘ „ein Produkt der Breschnew-Zeit“.
Breschnew achtete darauf, Konsumbedürfnisse möglichst zu befriedigen. Der Art von Mittelklasse, die damals entstand, so Bitkow, sei mehr an Pumps und Pkws gelegen gewesen als an politischer Partizipation.
Im Verlauf seines Buches gibt Ulrich Schmid einen guten Überblick darüber, was in der russischen Gegenwartskultur von Belang ist: Pop-Gruppen, Theaterperformances, Kunstspektakel, Filme. Er schildert private Initiativen, die über die social media großen Zuspruch erfuhren, ebenso wie die Aktionen von Staates Seite und deren Vordenker.
Schmids Leser merken zwei Dinge: Der Autor, Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen, hat ein Faible für Russland, auch wenn er vieles gern anders sähe. Und: Er gefällt sich nicht im wohlfeilen Putin-Bashing. Sein Buch setzt all jenen ein Licht auf, die nicht viel von Russland wissen, aber gern mehr verstünden.
Ulrich Schmid: Technologien der Seele. Vom Verfertigen der Wahrheit in der russischen Gegenwartskultur. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 386 Seiten, 18 Euro. E-Book: 17,99 Euro.
Viele unterscheiden aus Tradition
zwischen dem guten Herrscher
und der bösen Staatsmacht
Der Autor hat ein Faible
für das Land, auch wenn
er vieles gern anders sähe
Blick auf das Geschäftszentrum von Moskau, Russland freilich ist viel größer. Die Mehrheit der Bevölkerung lebt in den von Industriebetrieben geprägten Provinzstädten und auf dem Lande.
Foto: dpa
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.02.2016Abschied vom Realitätsprinzip
Wie man nationale Ideologien fabriziert und die Medien dafür auf Linie bringt: Ulrich Schmid zeigt Putins Russland auf dem Weg in die totale Verlogenheit.
Das neue Buch des Schweizer Slawisten Ulrich Schmid hat das Zeug, zum Standardwerk über die kulturell-politische Entwicklung im Russland der Putin-Zeit zu werden. Schmids Panorama der Diskurse und Ideologieproduktionstechniken, mit dem Untertitel "Vom Verfertigen der Wahrheit in der russischen Gegenwartskultur", imponiert durch seine Breite und Tiefe. Es schildert die neuere Fernsehgeschichte, erläutert wichtige Propagandaformeln, zeichnet literarische Debatten und Lebenswege nach, analysiert patriotische Videospiele und ist auch eine exemplarische Studie der infolge des Ukraine-Konflikts offenbar endgültig gescheiterten Beziehung Russlands zum Westen. Ein Scheitern, das dazu führte, dass Russland sich in einen Kokon von Projektionen einspinnt.
Schmid kommt zu dem wenig erfreulichen Schluss, dass Wladimir Putins postmoderne Diktatur dank gezielter Realityshow-Verdummung der Bevölkerungsmehrheit, aber auch infolge der Uneinigkeit der Oppositionellen und der Selbstentmündigung der Intelligenzija trotz Krise fest im Sattel sitzt. Er erinnert an die Zweiteilung des russischen Wahrheitsbegriffs in die gesetzte Wahrheit des Rechtsempfindens, "Prawda", und die ontologische Wahrheit, "Istina", die, wie die religiösen Denker Nikolai Berdjajew und Wladimir Solowjow darlegten, nur mit schöpferischer geistiger Anstrengung zu erlangen ist.
Der Anspruch der Religionsphilosophen, die verborgene Essenz der Wahrheit erkennen zu können, wurde ironischerweise von der sowjetmarxistischen, dann aber auch der Putinschen Staatsideologie übernommen. Schmid schildert, wie noch nach Stalins Tod der offizielle Siegesdiskurs die realen Katastrophenerfahrungen zu überkleistern versuchte, was Kämpfer wie Alexander Solschenizyn auf den Plan rief.
Der Meister der russischen Polittechnologie während der "fetten" nuller Jahre, der schillernde Kreml-Guru Wladislaw Surkow, hat bezeichnenderweise sowohl Ingenieurtechnik als auch Regie studiert. Surkow prägte den Terminus "souveräne" oder "gelenkte Demokratie" für den Putin-Staat, er erfand die Kreml-Jugendorganisation der "Unsrigen" ("Naschi"), die Dissens niederkämpfen sollte, er desavouierte aber auch mit seinem Gangster-Roman "Nahe Null" das kriminelle Spiel hinter den politischen Kulissen.
Der Protestwinter 2011/2012, als Putin trotz breit geäußerter Unmutsbekundungen und Wahlfälschungsvorwürfen Tandemspräsident Medwedjew im Kreml ablöste, gab das Signal zur ideologischen Hochrüstung. 2012 strahlte das Staatsfernsehen NTW eine "Dokumentation" namens "Anatomie des Protests" aus, die nachzuweisen vorgab, dass die Opposition, die Manipulationen bei den Wahlen und Bezahlung von Pro-Putin-Demonstranten nachgewiesen hatte, umgekehrt selbst vom Westen manipuliert und bezahlt werde. 2013 wurde die Nachrichtenagentur RIA Nowosti umgemodelt zur Nachfolgeorganisation "Russland heute", die unter Chefeinpeitscher Dmitri Kisseljow die Annexion der Krim als Fernsehspektakel aufbereitete. Die Russlands Interessen zuwiderlaufende Politik der EU und Amerikas wird in den Staatskanälen immer gröber beschimpft. Falschmeldungen wie die vom russischen Jungen, der 2014 angeblich von ukrainischen Soldaten gekreuzigt wurde, oder jetzt die vom angeblich vergewaltigten russlanddeutschen Mädchen in Berlin werden bewusst hochgespielt, um das Publikum zu beschäftigen und zu zeigen, dass die Wahrheit unergründlich ist.
Umso wichtiger dürfen sich die Eingeweihten vorkommen, die der Kreml ermächtigt, verborgene Wahrheiten kundzutun. Sei es der Ideologe des Eurasiertums, Alexander Dugin, der es als Russlands Mission ansieht, sich einer sakralen Macht zu unterwerfen und den globalen Kapitalismus zu bekriegen. Oder der Beichtvater von Präsident Putin, Bischof Tichon Schewkunow, ein professioneller Filmregisseur, der den Westen als korrupt und Russland als aufsteigende Zivilisation ansieht. Als Mitglied im präsidialen Kulturrat kuratierte Tichon vorigen Herbst die patriotische Moskauer Multimediaausstellung "Meine Geschichte. Von großen Erschütterungen zu großen Siegen" mit (F.A.Z. vom 22. Dezember 2015).
Schmid beschreibt das Syndrom einer Verlierergesellschaft, die unausgesprochen übereingekommen ist, sich vom Realitätsprinzip zu verabschieden, mit Ausnahme einiger unerschrockener Schriftsteller wie Tatjana Tolstaja oder Ljudmila Ulizkaja, die die Inkompetenz und Aggressivität der russischen Elite mit einer wuchernden Krebserkrankung vergleicht, sowie kleiner intellektueller Inseln. Einen dissidentischen Kontrapunkt setzen zwar das neue Gefängnisschrifttum mit seinem Authentizitätspathos und die kritische Kriegs- und Bürgerkriegsliteratur des Journalisten und Schriftstellers Arkadi Babtschenko. Doch es sind vor allem Emigranten, etwa der Essayist Boris Schumazki und der Romancier Michail Schischkin, die ihrem Land, wie es Solschenizyn tat, totale Verlogenheit bescheinigen.
Russlands Probleme haben auch mit seiner geostrategischen Lage und räumlichen Übergröße zu tun. Der Schriftsteller und Nationalbolschewik Eduard Limonow, der eine furchtlose Kriegerkaste heranziehen will und nur deshalb einen Oppositionskurs zu Putin hält, hat sich, wie er gestand, als Jugendlicher an der russischen Landkarte berauscht wie an Wein. Auch ein anderer literarischer Linksimperialist, Sachar Prilepin, sucht ein Leben im Superlativ, wozu er sogar am Tschetschenien-Krieg teilnahm. Für den religiösen Dichter und Prosaautor Michail Tarkowski, der aus Moskau in die sibirische Taiga umsiedelte, ist die Zerrissenheit seiner Heimat zwischen Europa und Asien auch ein Kreuzeszeichen.
Nach dem Mord an Boris Nemzow sind seriöse russische Oppositionspolitiker rar geworden. Die verbliebenen, der unerschrockene Korruptionsjäger Alexej Nawalnyj und der exilierte Ex-Oligarch Michail Chodorkowskij, bekommen von Schmid schlechte Noten, weil beide sich als Patrioten verstehen, Russlands territoriale Einheit bewahren wollen und die annektierte Krim nicht der Ukraine zurückgeben möchten. Dabei hätten, trotz aller Kritik an Putins Methoden, der Wunsch der meisten Krim-Bewohner und die militärstrategische Bedeutung der Schwarzmeerhalbinsel, zumal angesichts des keineswegs virtuellen Vorrückens der Nato, eine Erörterung verdient.
Auch dass Chodorkowskij sich nicht als Jude versteht, sondern als Russe, scheint Schmid zu missfallen. Dabei könnte man sich eigentlich freuen, wenn ein geläuterter, couragierter Mann, der sich um die gemarterte Heimat verdient gemacht hat, sich emphatisch zu ihr bekennt.
KERSTIN HOLM
Ulrich Schmid: "Technologien der Seele". Vom Verfertigen der Wahrheit in der russischen Gegenwartskultur.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 366 S., br., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie man nationale Ideologien fabriziert und die Medien dafür auf Linie bringt: Ulrich Schmid zeigt Putins Russland auf dem Weg in die totale Verlogenheit.
Das neue Buch des Schweizer Slawisten Ulrich Schmid hat das Zeug, zum Standardwerk über die kulturell-politische Entwicklung im Russland der Putin-Zeit zu werden. Schmids Panorama der Diskurse und Ideologieproduktionstechniken, mit dem Untertitel "Vom Verfertigen der Wahrheit in der russischen Gegenwartskultur", imponiert durch seine Breite und Tiefe. Es schildert die neuere Fernsehgeschichte, erläutert wichtige Propagandaformeln, zeichnet literarische Debatten und Lebenswege nach, analysiert patriotische Videospiele und ist auch eine exemplarische Studie der infolge des Ukraine-Konflikts offenbar endgültig gescheiterten Beziehung Russlands zum Westen. Ein Scheitern, das dazu führte, dass Russland sich in einen Kokon von Projektionen einspinnt.
Schmid kommt zu dem wenig erfreulichen Schluss, dass Wladimir Putins postmoderne Diktatur dank gezielter Realityshow-Verdummung der Bevölkerungsmehrheit, aber auch infolge der Uneinigkeit der Oppositionellen und der Selbstentmündigung der Intelligenzija trotz Krise fest im Sattel sitzt. Er erinnert an die Zweiteilung des russischen Wahrheitsbegriffs in die gesetzte Wahrheit des Rechtsempfindens, "Prawda", und die ontologische Wahrheit, "Istina", die, wie die religiösen Denker Nikolai Berdjajew und Wladimir Solowjow darlegten, nur mit schöpferischer geistiger Anstrengung zu erlangen ist.
Der Anspruch der Religionsphilosophen, die verborgene Essenz der Wahrheit erkennen zu können, wurde ironischerweise von der sowjetmarxistischen, dann aber auch der Putinschen Staatsideologie übernommen. Schmid schildert, wie noch nach Stalins Tod der offizielle Siegesdiskurs die realen Katastrophenerfahrungen zu überkleistern versuchte, was Kämpfer wie Alexander Solschenizyn auf den Plan rief.
Der Meister der russischen Polittechnologie während der "fetten" nuller Jahre, der schillernde Kreml-Guru Wladislaw Surkow, hat bezeichnenderweise sowohl Ingenieurtechnik als auch Regie studiert. Surkow prägte den Terminus "souveräne" oder "gelenkte Demokratie" für den Putin-Staat, er erfand die Kreml-Jugendorganisation der "Unsrigen" ("Naschi"), die Dissens niederkämpfen sollte, er desavouierte aber auch mit seinem Gangster-Roman "Nahe Null" das kriminelle Spiel hinter den politischen Kulissen.
Der Protestwinter 2011/2012, als Putin trotz breit geäußerter Unmutsbekundungen und Wahlfälschungsvorwürfen Tandemspräsident Medwedjew im Kreml ablöste, gab das Signal zur ideologischen Hochrüstung. 2012 strahlte das Staatsfernsehen NTW eine "Dokumentation" namens "Anatomie des Protests" aus, die nachzuweisen vorgab, dass die Opposition, die Manipulationen bei den Wahlen und Bezahlung von Pro-Putin-Demonstranten nachgewiesen hatte, umgekehrt selbst vom Westen manipuliert und bezahlt werde. 2013 wurde die Nachrichtenagentur RIA Nowosti umgemodelt zur Nachfolgeorganisation "Russland heute", die unter Chefeinpeitscher Dmitri Kisseljow die Annexion der Krim als Fernsehspektakel aufbereitete. Die Russlands Interessen zuwiderlaufende Politik der EU und Amerikas wird in den Staatskanälen immer gröber beschimpft. Falschmeldungen wie die vom russischen Jungen, der 2014 angeblich von ukrainischen Soldaten gekreuzigt wurde, oder jetzt die vom angeblich vergewaltigten russlanddeutschen Mädchen in Berlin werden bewusst hochgespielt, um das Publikum zu beschäftigen und zu zeigen, dass die Wahrheit unergründlich ist.
Umso wichtiger dürfen sich die Eingeweihten vorkommen, die der Kreml ermächtigt, verborgene Wahrheiten kundzutun. Sei es der Ideologe des Eurasiertums, Alexander Dugin, der es als Russlands Mission ansieht, sich einer sakralen Macht zu unterwerfen und den globalen Kapitalismus zu bekriegen. Oder der Beichtvater von Präsident Putin, Bischof Tichon Schewkunow, ein professioneller Filmregisseur, der den Westen als korrupt und Russland als aufsteigende Zivilisation ansieht. Als Mitglied im präsidialen Kulturrat kuratierte Tichon vorigen Herbst die patriotische Moskauer Multimediaausstellung "Meine Geschichte. Von großen Erschütterungen zu großen Siegen" mit (F.A.Z. vom 22. Dezember 2015).
Schmid beschreibt das Syndrom einer Verlierergesellschaft, die unausgesprochen übereingekommen ist, sich vom Realitätsprinzip zu verabschieden, mit Ausnahme einiger unerschrockener Schriftsteller wie Tatjana Tolstaja oder Ljudmila Ulizkaja, die die Inkompetenz und Aggressivität der russischen Elite mit einer wuchernden Krebserkrankung vergleicht, sowie kleiner intellektueller Inseln. Einen dissidentischen Kontrapunkt setzen zwar das neue Gefängnisschrifttum mit seinem Authentizitätspathos und die kritische Kriegs- und Bürgerkriegsliteratur des Journalisten und Schriftstellers Arkadi Babtschenko. Doch es sind vor allem Emigranten, etwa der Essayist Boris Schumazki und der Romancier Michail Schischkin, die ihrem Land, wie es Solschenizyn tat, totale Verlogenheit bescheinigen.
Russlands Probleme haben auch mit seiner geostrategischen Lage und räumlichen Übergröße zu tun. Der Schriftsteller und Nationalbolschewik Eduard Limonow, der eine furchtlose Kriegerkaste heranziehen will und nur deshalb einen Oppositionskurs zu Putin hält, hat sich, wie er gestand, als Jugendlicher an der russischen Landkarte berauscht wie an Wein. Auch ein anderer literarischer Linksimperialist, Sachar Prilepin, sucht ein Leben im Superlativ, wozu er sogar am Tschetschenien-Krieg teilnahm. Für den religiösen Dichter und Prosaautor Michail Tarkowski, der aus Moskau in die sibirische Taiga umsiedelte, ist die Zerrissenheit seiner Heimat zwischen Europa und Asien auch ein Kreuzeszeichen.
Nach dem Mord an Boris Nemzow sind seriöse russische Oppositionspolitiker rar geworden. Die verbliebenen, der unerschrockene Korruptionsjäger Alexej Nawalnyj und der exilierte Ex-Oligarch Michail Chodorkowskij, bekommen von Schmid schlechte Noten, weil beide sich als Patrioten verstehen, Russlands territoriale Einheit bewahren wollen und die annektierte Krim nicht der Ukraine zurückgeben möchten. Dabei hätten, trotz aller Kritik an Putins Methoden, der Wunsch der meisten Krim-Bewohner und die militärstrategische Bedeutung der Schwarzmeerhalbinsel, zumal angesichts des keineswegs virtuellen Vorrückens der Nato, eine Erörterung verdient.
Auch dass Chodorkowskij sich nicht als Jude versteht, sondern als Russe, scheint Schmid zu missfallen. Dabei könnte man sich eigentlich freuen, wenn ein geläuterter, couragierter Mann, der sich um die gemarterte Heimat verdient gemacht hat, sich emphatisch zu ihr bekennt.
KERSTIN HOLM
Ulrich Schmid: "Technologien der Seele". Vom Verfertigen der Wahrheit in der russischen Gegenwartskultur.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 366 S., br., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Spekulationen über die russische Seele und Mentalität sind Urlich Schmids Sache nicht ... sorgfältig recherchiert, an Detailinformationen überaus reiches Buch. Es ist jedem zu empfehlen, der sich für Russland interessiert.« Ilma Rakusa Neue Zürcher Zeitung 20160305