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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Perspektivgebunden: Ein "Text + Kritik"-Sonderband zum literarischen Journalismus
Wer heute in einem Seminar über Journalismus versuchen wollte, bei einer Unterscheidung von objektiven und subjektiven Texten das Genre der Reportage einer Seite zuzuordnen, hätte seine liebe Mühe: In ihren Anfängen stand die Reportage unter einem Objektivitätsideal ("Kamera-Auge"); spätestens seit dem amerikanischen "New Journalism" ist sie geprägt von einer mitunter radikalen Subjektivität, ja sogar von Fiktionalität.
Angesichts des Problems von "Fake News" und insbesondere durch den Skandal der Reportage-Fälschungen von Claas Relotius ist das Thema "Literarischer Journalismus" ein heißes Eisen - es ist also mutig, ihm gerade jetzt einen Sonderband der Zeitschrift "Text + Kritik" zu widmen.
In ihrem eröffnenden Essay thematisiert die Herausgeberin Erika Thomalla, Literaturwissenschaftlerin an der Humboldt-Universität, auch den "Vorwurf, der New Journalism habe einem Wahrheitsrelativismus und damit dem Zeitalter von Fake News Vorschub geleistet", kommt aber zu dem Schluss, diese "Genealogie" sei "nicht korrekt". Da könnte man gewisse Zweifel anmelden, denn gerade ein bestimmter, vermeintlich literarischer Schreibduktus, wie er über Jahre durch Auszeichnungen herbeigelobt und verstärkt wurde, also eine Art "Nannenpreisprosa", hat vielleicht eben doch mit zum Fall Relotius geführt.
Aber zurecht merkt Thomalla dann an, dass Relotius eine Wahrheitsillusion erzeugte, die literarischer Journalismus oft gerade nicht suche, sondern gezielt "Fiktionalitätsmarker" verwende: "Das Mittel der Fiktionalisierung diente in den Reportagen des New Journalism nicht dazu, die eigene Perspektive als einzig gültige darzustellen, sondern wurde im Gegenteil oft dazu eingesetzt, die Relativität, Perspektivgebundenheit und me-diale Vermitteltheit von Weltbeschreibungen kenntlich zu machen."
Wie das geschehen kann und auf welch verschiedene Art, zeigt der Band in einer Fülle von interessanten und teils auch amüsanten Beiträgen, deren Gegenstände von Jörg Fausers literarjournalistischer Sozialisation in der "Cut-up-Brigade" der Beatdichter bis zur Schreibweise der österreichischen Gonzo-Literatin Stefanie Sargnagel reichen.
In ihrem Aufsatz mit dem schlagenden Titel "Harry Gelb und Joseph Roth" geben Ethel Matala de Mazza und Dariya Manova einen Aufriss der Reportageliteratur von Roth, Kisch, Fallada und anderen, um daraus Fausers "Rohstoff"-Projekt um die fiktive Reporterfigur des Harry Gelb zu erhellen. Georg Stanitzek liefert die für das Thema unverzichtbare Basis über die "Neue Sensibilität" des Reportageroman-Stars Tom Wolfe. Darin werden die Verbindungen zum Pop deutlich, die dann auch für Autoren wie Wolfgang Welt, Rainald Goetz und Christian Kracht stilprägend werden - im Journalismus von Magazinen wie "Tempo" und "Spex", aber erst recht auch im Roman.
Moritz von Uslar, dessen teilnehmende und als Buch veröffentlichte Reportage "Deutschboden" zunächst den Gegenstand eines Beitrags bildet, steuert dann selbst "100 und noch mehr fundamentalistische Thesen zu Literatur und zum Journalismus" bei, die teils gezielt widersprüchlich sind ("Gut schreiben kann praktisch jeder, der einigermaßen gut dahinquatschen kann"; "Eine große Lüge ist, dass der, der gut quatschen, automatisch auch gut schreiben kann") und die zum Widerspruch reizen. So behauptet er etwa: "'Borchardts, 19:22 Uhr, der Tisch rechts neben Helmut Dietl' ist ein guter Einstieg." Da möchte man entschieden rufen: Nein, ist es nicht! JAN WIELE
Erika Thomalla (Hrsg.): "Literarischer
Journalismus".
Edition Text + Kritik
(Sonderband), München 2022. 234 S., Abb., br., 39,- Euro.
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