"Der Roman ist tot", verkündete der US-amerikanische Schriftsteller Tom Wolfe zu Beginn der 70er Jahre – es war der Beginn eines neuen Zeitalters: das des New Journalism. Wolfe bezeichnete mit diesem Begriff Schreibweisen zwischen Literatur und Journalismus, die zunächst in Kolumnen oder Reportagen, zunehmend aber auch in neuen Romantypen wie der 'Nonfiction Novel' zu finden waren. Auch im deutschsprachigen Bereich gab es zur selben Zeit vermehrt produktive Wechselbeziehungen zwischen Journalismus und Gegenwartsliteratur, bei denen mit Beobachterpositionen, Reporterfiguren, literarischen Erzählverfahren, Techniken der Verfremdung oder Fiktionalisierung experimentiert wurde. Der TEXT+KRITIK-Sonderband nimmt Spielarten dieses deutschsprachigen New Journalism seit den 1970er Jahren in den Blick. Neben einzelnen Autoren und Werken von Jorg Fauser bis Stefanie Sargnagel werden auch Publikationsmedien, privilegierte Gattungen sowie Vermarktungsformen der Journalliteratur untersucht. Darüber hinaus enthalt der Band einen poetologischen Text zum Verhältnis von Literatur und Journalismus von Moritz von Uslar sowie ein Interview über die Geschichte des deutschsprachigen New Journalism mit Diedrich Diederichsen.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Jan Wiele findet es mutig, in Zeiten von Fake News und den Reportage-Skandalen um Claas Relotius ein Buch über das "heiße Eisen" des literarischen Journalismus zu veröffentlichen. Wie die Herausgeberin Erika Thomalla, Literaturwissenschaftlerin an der HU Berlin, das aufzieht, scheint ihm aber zu gefallen - auch wenn er ihr nicht unbedingt darin zustimmen würde, dass die Lobhudelei um den New Journalism so gar nichts mit dem Aufkommen von Fake News zu tun gehabt habe. Wie in den Aufsätzen von Ethel Matala de Mazza, Georg Stanitzek oder Moritz von Uslar dann aber verschiedene Spielarten und auch die Möglichkeiten eines literarischen Journalismus aufgezeigt werden, liest Wiele gerne - so gehe es unter anderem um die Beatdichter, um Jörg Fausers fiktive Reportagefigur Harry Gelb, um "fundamentalistische" und offenkundig widersprüchliche Thesen zu Literatur und Journalismus, oder um Pop-Anklänge im Schreiben etwa von Rainald Goetz oder Christian Kracht. Ein interessantes und zuweilen "amüsantes" Buch, lobt Wiele.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.01.2023Harry Gelb trifft Joseph Roth
Perspektivgebunden: Ein "Text + Kritik"-Sonderband zum literarischen Journalismus
Wer heute in einem Seminar über Journalismus versuchen wollte, bei einer Unterscheidung von objektiven und subjektiven Texten das Genre der Reportage einer Seite zuzuordnen, hätte seine liebe Mühe: In ihren Anfängen stand die Reportage unter einem Objektivitätsideal ("Kamera-Auge"); spätestens seit dem amerikanischen "New Journalism" ist sie geprägt von einer mitunter radikalen Subjektivität, ja sogar von Fiktionalität.
Angesichts des Problems von "Fake News" und insbesondere durch den Skandal der Reportage-Fälschungen von Claas Relotius ist das Thema "Literarischer Journalismus" ein heißes Eisen - es ist also mutig, ihm gerade jetzt einen Sonderband der Zeitschrift "Text + Kritik" zu widmen.
In ihrem eröffnenden Essay thematisiert die Herausgeberin Erika Thomalla, Literaturwissenschaftlerin an der Humboldt-Universität, auch den "Vorwurf, der New Journalism habe einem Wahrheitsrelativismus und damit dem Zeitalter von Fake News Vorschub geleistet", kommt aber zu dem Schluss, diese "Genealogie" sei "nicht korrekt". Da könnte man gewisse Zweifel anmelden, denn gerade ein bestimmter, vermeintlich literarischer Schreibduktus, wie er über Jahre durch Auszeichnungen herbeigelobt und verstärkt wurde, also eine Art "Nannenpreisprosa", hat vielleicht eben doch mit zum Fall Relotius geführt.
Aber zurecht merkt Thomalla dann an, dass Relotius eine Wahrheitsillusion erzeugte, die literarischer Journalismus oft gerade nicht suche, sondern gezielt "Fiktionalitätsmarker" verwende: "Das Mittel der Fiktionalisierung diente in den Reportagen des New Journalism nicht dazu, die eigene Perspektive als einzig gültige darzustellen, sondern wurde im Gegenteil oft dazu eingesetzt, die Relativität, Perspektivgebundenheit und me-diale Vermitteltheit von Weltbeschreibungen kenntlich zu machen."
Wie das geschehen kann und auf welch verschiedene Art, zeigt der Band in einer Fülle von interessanten und teils auch amüsanten Beiträgen, deren Gegenstände von Jörg Fausers literarjournalistischer Sozialisation in der "Cut-up-Brigade" der Beatdichter bis zur Schreibweise der österreichischen Gonzo-Literatin Stefanie Sargnagel reichen.
In ihrem Aufsatz mit dem schlagenden Titel "Harry Gelb und Joseph Roth" geben Ethel Matala de Mazza und Dariya Manova einen Aufriss der Reportageliteratur von Roth, Kisch, Fallada und anderen, um daraus Fausers "Rohstoff"-Projekt um die fiktive Reporterfigur des Harry Gelb zu erhellen. Georg Stanitzek liefert die für das Thema unverzichtbare Basis über die "Neue Sensibilität" des Reportageroman-Stars Tom Wolfe. Darin werden die Verbindungen zum Pop deutlich, die dann auch für Autoren wie Wolfgang Welt, Rainald Goetz und Christian Kracht stilprägend werden - im Journalismus von Magazinen wie "Tempo" und "Spex", aber erst recht auch im Roman.
Moritz von Uslar, dessen teilnehmende und als Buch veröffentlichte Reportage "Deutschboden" zunächst den Gegenstand eines Beitrags bildet, steuert dann selbst "100 und noch mehr fundamentalistische Thesen zu Literatur und zum Journalismus" bei, die teils gezielt widersprüchlich sind ("Gut schreiben kann praktisch jeder, der einigermaßen gut dahinquatschen kann"; "Eine große Lüge ist, dass der, der gut quatschen, automatisch auch gut schreiben kann") und die zum Widerspruch reizen. So behauptet er etwa: "'Borchardts, 19:22 Uhr, der Tisch rechts neben Helmut Dietl' ist ein guter Einstieg." Da möchte man entschieden rufen: Nein, ist es nicht! JAN WIELE
Erika Thomalla (Hrsg.): "Literarischer
Journalismus".
Edition Text + Kritik
(Sonderband), München 2022. 234 S., Abb., br., 39,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perspektivgebunden: Ein "Text + Kritik"-Sonderband zum literarischen Journalismus
Wer heute in einem Seminar über Journalismus versuchen wollte, bei einer Unterscheidung von objektiven und subjektiven Texten das Genre der Reportage einer Seite zuzuordnen, hätte seine liebe Mühe: In ihren Anfängen stand die Reportage unter einem Objektivitätsideal ("Kamera-Auge"); spätestens seit dem amerikanischen "New Journalism" ist sie geprägt von einer mitunter radikalen Subjektivität, ja sogar von Fiktionalität.
Angesichts des Problems von "Fake News" und insbesondere durch den Skandal der Reportage-Fälschungen von Claas Relotius ist das Thema "Literarischer Journalismus" ein heißes Eisen - es ist also mutig, ihm gerade jetzt einen Sonderband der Zeitschrift "Text + Kritik" zu widmen.
In ihrem eröffnenden Essay thematisiert die Herausgeberin Erika Thomalla, Literaturwissenschaftlerin an der Humboldt-Universität, auch den "Vorwurf, der New Journalism habe einem Wahrheitsrelativismus und damit dem Zeitalter von Fake News Vorschub geleistet", kommt aber zu dem Schluss, diese "Genealogie" sei "nicht korrekt". Da könnte man gewisse Zweifel anmelden, denn gerade ein bestimmter, vermeintlich literarischer Schreibduktus, wie er über Jahre durch Auszeichnungen herbeigelobt und verstärkt wurde, also eine Art "Nannenpreisprosa", hat vielleicht eben doch mit zum Fall Relotius geführt.
Aber zurecht merkt Thomalla dann an, dass Relotius eine Wahrheitsillusion erzeugte, die literarischer Journalismus oft gerade nicht suche, sondern gezielt "Fiktionalitätsmarker" verwende: "Das Mittel der Fiktionalisierung diente in den Reportagen des New Journalism nicht dazu, die eigene Perspektive als einzig gültige darzustellen, sondern wurde im Gegenteil oft dazu eingesetzt, die Relativität, Perspektivgebundenheit und me-diale Vermitteltheit von Weltbeschreibungen kenntlich zu machen."
Wie das geschehen kann und auf welch verschiedene Art, zeigt der Band in einer Fülle von interessanten und teils auch amüsanten Beiträgen, deren Gegenstände von Jörg Fausers literarjournalistischer Sozialisation in der "Cut-up-Brigade" der Beatdichter bis zur Schreibweise der österreichischen Gonzo-Literatin Stefanie Sargnagel reichen.
In ihrem Aufsatz mit dem schlagenden Titel "Harry Gelb und Joseph Roth" geben Ethel Matala de Mazza und Dariya Manova einen Aufriss der Reportageliteratur von Roth, Kisch, Fallada und anderen, um daraus Fausers "Rohstoff"-Projekt um die fiktive Reporterfigur des Harry Gelb zu erhellen. Georg Stanitzek liefert die für das Thema unverzichtbare Basis über die "Neue Sensibilität" des Reportageroman-Stars Tom Wolfe. Darin werden die Verbindungen zum Pop deutlich, die dann auch für Autoren wie Wolfgang Welt, Rainald Goetz und Christian Kracht stilprägend werden - im Journalismus von Magazinen wie "Tempo" und "Spex", aber erst recht auch im Roman.
Moritz von Uslar, dessen teilnehmende und als Buch veröffentlichte Reportage "Deutschboden" zunächst den Gegenstand eines Beitrags bildet, steuert dann selbst "100 und noch mehr fundamentalistische Thesen zu Literatur und zum Journalismus" bei, die teils gezielt widersprüchlich sind ("Gut schreiben kann praktisch jeder, der einigermaßen gut dahinquatschen kann"; "Eine große Lüge ist, dass der, der gut quatschen, automatisch auch gut schreiben kann") und die zum Widerspruch reizen. So behauptet er etwa: "'Borchardts, 19:22 Uhr, der Tisch rechts neben Helmut Dietl' ist ein guter Einstieg." Da möchte man entschieden rufen: Nein, ist es nicht! JAN WIELE
Erika Thomalla (Hrsg.): "Literarischer
Journalismus".
Edition Text + Kritik
(Sonderband), München 2022. 234 S., Abb., br., 39,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Sonderband von Text+Kritik stärkt den literarischen Journalismus, stärkt den Glauben an die Pluralität des Wirklichen, die Kraft des Fantastischen in einer immer komplexeren Gegenwart. Denn längst ist klargeworden: Die wahre Gefahr für die Demokratie geht nicht von literarisch schreibenden Journalisten aus, sondern von Trollfabriken, die unseren gesunden Menschenverstand zu manipulieren versuchen. Tom Kummer, Die Weltwoche, 19/2023Wie das geschehen kann und auf welch verschiedene Art, zeigt der Band in einer Fülle von interessanten und teils auch amüsanten Beiträgen, deren Gegenstände von Jörg Fausers literarjournalistischer Sozialisation in der "Cut-up-Brigade" der Beatdichter bis hin zur österreichischen Gonzo-Literatin Stefanie Sargnagel reichen.Jan Wiele, FAZ, 28.1.2023