THE INTERNATIONAL BESTSELLER 'Hums with living history, human warmth and indignation' New York Times Less a mystery unsolved than a secret well kept
The mystery has haunted generations since the Second World War: Who betrayed Anne Frank and her family? And why?
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.01.2022Rätsel ohne Lösung
Wer war der Verräter? Das Buch von Rosemary Sullivan gibt darauf keine überzeugende Antwort. Doch die Lektüre von "The Betrayal of Anne Frank" lohnt trotzdem.
Von Meron Mendel
Die Geschichte von Anne Frank habe ich unzählige Male Jugendlichen erzählt, von ihrer Geburt in Frankfurt bis zur Verhaftung in Amsterdam durch die Nazis und den Tod im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Früher oder später kommt immer die Frage auf: Wer hat die Familie Frank verraten? Dazu gibt es mehrere Vermutungen, abschließend geklärt wurde der Fall nie. Jetzt will die kanadische Autorin Rosemary Sullivan, die 2015 den Bestseller "Stalin's daughter" geschrieben hat, mit ihrem neues Buch "The Betrayal of Anne Frank. A Cold Case Investigation" Licht ins Dunkel bringen. Es basiert auf umfangreichen Recherchen eines internationalen Teams samt ehemaligen FBI-Ermittlern, fast schon in True-Crime-Manier wird erfolgreich eine spitze These lanciert, die dieser Tage Schlagzeilen machte: "Jüdischer Notar soll Anne Frank verraten haben." Schon wird über die Kernaussage des Buchs unter Historikern und Experten öffentlichkeitswirksam gestritten.
Spoiler: Entgegen dem Versprechen der Autorin bleibt eine endgültige Antwort auf die Frage des Verrats auch nach der Lektüre der knapp vierhundert Seiten noch aus. Aber das Buch ist mehr als ein PR-Coup: Es widmet sich einigen vergessenen Aspekten der NS-Geschichte - und lenkt den Blick auch auf das schwierige Thema der jüdischen Kollaboration und der Verstrickungen von Jüdinnen und Juden in den Nationalsozialismus. Nicht zuletzt wirft die Debatte um das Buch die Frage auf, wer eigentlich bei relevanten Fragen rund um Anne Frank das letzte Wort behält.
Das internationale Cold-Case-Team unter der Leitung des pensionierten FBI-Ermittlers Vincent Pankoke, bestehend aus Kriminologen, Wissenschaftlern und einem Rabbi, greift dabei auf, was Millionen Menschen weltweit bis heute bewegt: Wie konnte es dazu kommen, dass das Versteck in der Prinsengracht 263 in Amsterdam aufflog, die Familie Frank und vier weitere dort versteckte Juden verhaftet und deportiert wurden? Die Frankfurter Familie emigrierte 1933 nach der Machtergreifung Hitlers in die Niederlande und tauchte 1942 in ein Versteck im Gebäude der früheren Firma von Otto Frank unter. Fast zwei Jahre hielten sie sich dort auf, wenige enge Vertraute waren eingeweiht, die sie mit Essen versorgten. Im August 1944 wurden sie von der Gestapo verhaftet und in das Durchgangslager Westerbork gebracht, wo sie mit dem letzten Transport von Westerbork nach Auschwitz deportiert wurden. Von den acht Versteckten überlebte nur Annes Vater, Otto Frank. Er veröffentlichte 1947 das Tagebuch seiner Tochter, das ihm Miep Gies übergeben hatte, die gemeinsam mit anderen zu den Helferinnen der Untergetauchten gehörte.
Wie es zur Verhaftung kam, ist bis heute unklar. Zwei offizielle Untersuchungen der niederländischen Polizei aus den Jahren 1947 und 1963 blieben ergebnislos. Im Laufe der Jahre wurden mehr als dreißig Personen verdächtigt. Die beiden Polizeiermittlungen liefen gegen Willem van Maaren, einen besonders neugierigen Angestellten von Otto Frank. Eine weitere Verdächtige war Lena Hartog, die Putzfrau des Warenlagers der Firma. Sie wurde von der Journalistin Melissa Müller in ihrer Anne-Frank-Biographie 1998 als Hauptverdächtige benannt. Ein paar Jahre später äußerte die britische Publizistin Carol Anne Lee den Verdacht, dass der niederländische Nazi Tonny Ahlers, der in Otto Franks Firma aushalf, die Familie verraten habe. Nachweislich hatte Ahlers Otto Frank bereits vor der Zeit im Versteck bedroht: Ahlers hatte mitbekommen, wie Otto Frank sich skeptisch über die Siegeschancen der Deutschen geäußert hatte. Daraufhin erpresste er Otto Frank und nahm Geld für sein Schweigen von ihm. Otto Frank selbst, der 1980 verstarb, hatte ebenfalls Ahlers verdächtigt, so schrieb er es nach dem Krieg in einem Brief an die niederländischen Behörden. Im Jahr 2017 wiederum veröffentlichte das Anne-Frank-Haus in Amsterdam auf der Grundlage von neueren Untersuchungen die Theorie, dass es gar keinen Verrat gab: Die SS habe wahrscheinlich nur nach illegalen Waren und Waffen gesucht und dabei die Untergetauchten zufällig entdeckt.
Das Cold-Case-Team meint die bisherigen Mutmaßungen widerlegen zu können und nimmt einen weiteren Verräter ins Visier: den Notar Arnold van den Bergh, der, selbst Jude, andere Juden verraten haben soll, um sich und seine Familie vor der Deportation zu retten. Van den Bergh war Mitglied in dem von der deutschen Besatzungsmacht eingerichteten Judenrat in Amsterdam. Nachdem Juden vom öffentlichen Leben ausgeschlossen wurden, übernahm der Judenrat die Organisation jüdischen Lebens und bot Arbeitsplätze, Wohnungen und Lebensmittel für die sozial Bedürftigen an. Zugleich assistierte der Judenrat bei der Selektion von Juden zur Deportation nach Osten.
Van den Bergh war bereits in den beiden früheren polizeilichen Untersuchungen als möglicher Verräter in Betracht gezogen worden. Die neue Theorie, die ihn in den Fokus nimmt, stützt sich nun auf ein einziges Beweisstück: einen Zettel, den Otto Frank kurz nach dem Krieg erhalten hat. Absender: unbekannt. Auf dem Zettel wird Van den Bergh als Verräter des Verstecks beschuldigt. Er soll eine Liste mit Adressen von untergetauchten Juden geführt und diese an die Nazis weitergegeben haben. Otto Frank fertigte eine Kopie des Zettels an und übergab sie 1964 der niederländischen Polizei. Diese wurde vom Cold-Case-Team im Privatarchiv des damaligen Polizeibeamten gefunden.
Kann die Entdeckung der Kopie als ausreichender Beweis gelten, um Van den Bergh schuldig zu sprechen? Das Cold-Case-Team setzte sich zwar mit der Möglichkeit auseinander, dass der anonyme Schreiber (oder die Schreiberin) aus Rachegedanken gegenüber dem Mitglied des unbeliebten Judenrats so gehandelt haben könnte. Diese Option gänzlich auszuschließen gelang den Forschern allerdings nicht. Das Team kann nicht erklären, ob dem Judenrat die Adresse der Prinsengracht 263 tatsächlich vorlag und ob van den Bergh in eine solche angebliche Liste überhaupt Einsicht hatte. Auch der Versuch, die bisherigen Verdächtigen wie die Putzfrau Hartog oder den Nazi Ahlers auszuschließen, gelang dem Team nicht. Worauf FBI-Mann Pankoke seine Behauptung stützt, die Theorie habe eine Wahrscheinlichkeit von mehr als 85 Prozent, lässt sich auch nach sorgfältiger Lektüre nicht erkennen. So folgte auf die spekta kuläre Veröffentlichung des Cold-Case-Teams schnell die Kritik von Historikern an der Vorgehensweise und den Schlussfolgerungen. Wenn man so will, besteht das Hauptverdienst der umfangreichen Recherche darin, gezeigt zu haben, dass wir nie erfahren werden, wer das Versteck verraten hat.
Das Buch überzeugt hingegen mit anderen Einsichten - indem es Licht auf den Alltag im besetzten Amsterdam der Jahre 1940 bis 1945 wirft und auf die Situation der in den Niederlanden lebenden Juden. Im Vergleich zu den Nachbarländern stellen die Niederlande einen Negativrekord auf, was die jüdischen Opferzahlen betrifft. 73 Prozent der niederländischen Juden haben die deutschen Vernichtungslager nicht überlebt (F.A.Z. von gestern). Von den Tausenden Versteckten wie die Familie Frank wurden etwa ein Drittel verraten. Die detaillierte Rekonstruktion der Biographien zeigt eindrucksvoll, wie das Leben von Juden und Nichtjuden unter deutscher Besatzung war. Was Hannah Arendt die "Banalität des Bösen" nannte, wird in der Beschreibung des Alltags deutlich. Die Klassifizierung als Jude, "deutschblütig" oder "Mischling" ersten oder zweiten Grades entschied über Leben und Tod. Mit Verwaltungsakten und Dokumenten, die jeder von uns kennt: mit Pässen, Anträgen oder dem Erheben von Einsprüchen gegen behördliche Entscheidungen. Menschen, die unter Verdacht standen, jüdisch zu sein, konnten mit genealogischen Berichten und einer notariellen Erklärung ihre "Reinrassigkeit" vor Gericht unter Beweis stellen, mit dem sogenannten "Sperr-Stempel" im Pass konnten Deportationen verzögert werden, etwa, wenn man etwa für den Judenrat arbeitete. Wie das Leben unter Bedingungen von Angst, Misstrauen aber auch Solidarität - alles gleichzeitig - bestimmt wurde, wird anhand der Beschreibung der Handlungen und Motive der potentiellen Verräter deutlich.
So kommt ein bisher in Deutschland kaum rezipiertes Thema zur Sprache: die Rolle der Judenräte und die Frage der jüdischen Kollaboration im Holocaust. Hochrangige Nazis zwangen anerkannte jüdische Personen, ihnen bei der systematischen Erfassung, Deportation und Vernichtung der eigenen Gemeinschaft zu assistieren. Die Brisanz dieses Aspekts in den Erinnerungsdiskursen der Nachkriegszeit liegt sofort auf der Hand: Hier droht die Entlastung der NS-Täter, indem eine Teilschuld auf die Juden verlagert wird. Unter den Überlebenden hingegen führte die Kollaboration schon früh zur Auseinandersetzung. Unmittelbar nach Kriegsende mischten sich in den DP-Lagern jüdische Kollaborateure unter die Flüchtlinge und versuchten, ihre Vergangenheit zu kaschieren. In Fällen, in denen sie enttarnt wurden, kam es bisweilen sogar zu Lynchmorden. Auch im jungen Staat Israel spielte das Thema eine gewichtige Rolle. Das 1950 verabschiedete "Gesetz zur Bestrafung von Nazis und Nazi-Helfern" zielte im Vordergrund gegen jüdische Kollaborateure ab. Der damalige Justizminister erklärte, das Nazi-Gesetz werde wohl kaum zur Exekution von Nazis führen. Die Geschichte wusste es besser: Zehn Jahre später wurde Adolf Eichmann nach Israel entführt und in Jerusalem auf Grundlage ebenjenes Gesetzes vor Gericht gestellt.
In den fünfziger Jahren wurden dem Historiker Tom Segev zufolge etwa dreißig Juden als NS-Kollaborateure der Prozess gemacht. Dabei ging es fast ausschließlich um Juden, die in den Konzentrations- und Vernichtungslagern als sogenannte "Kapos" im Dienst der Nationalsozialisten tätig gewesen waren. Der Eichmann-Prozess diente dem israelischen Staat für einen Richtungswechsel. Generalanwalt Gideon Hausner hat, so notiert es der Historiker Dan Porat, dafür gesorgt, "jeden Bericht zum Schweigen zu bringen, der moralische Zweifel am Verhalten eines jeden Juden während des Holocaust aufkommen lässt". In seinem Eröffnungsstatement stellte Hausner fest: "Wir werden uns nicht mit Juden befassen, die Befehle ausgeführt haben", denn sie sollten als Opfer gesehen werden, deren Handlung durch Zwang entstand. Ganz anders fiel das Urteil von Hanna Arendt aus. In ihrem Buch "Eichmann in Jerusalem" (1964) bezeichnet sie die Rolle der Judenräte und anderer Kollaborateure als "zweifellos das dunkelste Kapitel in der ganzen dunklen Geschichte". Für die NS-Bürokratie, so Arendt, seien die Judenräte essenziell und sogar der "Eckpfeiler" des totalitären Projekts der Judenvernichtung gewesen. Hanna Arendts klare moralische Verurteilung der Judenräte löste eine große Debatte aus.
In den letzten Jahrzehnten hat sich in der Forschung die Ansicht durchgesetzt, dass die jüdische Kollaboration als eine Art "graue Zone" (Dan Porat) zu verstehen ist. Jedes Urteil über sie müsse ihre komplizierte Situation und Dilemmata miteinbeziehen. Die Kanadierin Rosemary Sullivan spricht in ihrem Buch mit Blick auf den Fall des Amsterdamer Judenrats Van den Bergh von einem "höllischen Dilemma", in das er geraten sei aufgrund von Umständen, die er nicht verschuldet hatte. Niemand, der nicht selbst den Abgrund der Schoa miterlebt hat, kann wohl mit Gewissheit sagen, anders gehandelt zu haben.
Ob aber Van den Bergh auch tatsächlich das Versteck in der Prinsengracht an die Nationalsozialisten verraten hat, wird ungewiss bleiben. Zu den schärfsten Kritikern von Sullivans These gehört unter anderem der Anne Frank Fonds in Basel. Er wurde 1963 von Otto Frank gegründet, um das Tagebuch zu verbreiten und das Copyright der Familie Frank zu verwalten. Nach dem Tod von Otto übernahm Annes Cousin Buddy Elias den AFF. Seit seinem Tod 2015 ist die Familie nicht mehr im Stiftungsrat vertreten. Dennoch sieht sich der Fonds weiterhin als Wächterin über das Vermächtnis von Anne Frank. In der Vergangenheit führte er mehrere Gerichtsverfahren unter anderem aufgrund von Copyright-Fragen gegen das Anne-Frank-Haus in Amsterdam.
Beim Recherche-Team um die Buchautorin Sullivan will der Anne Frank Fonds schon früh kommerzielle Gründe ausgemacht haben, wie Stiftungspräsident John Goldsmith dem Schweizer "SonntagsBlick" sagte. Wer das mächtige PR-Aufgebot rund um die Veröffentlichung samt erfolgreicher Lancierung der Story bei "60 Minutes" - dem renommierten Primetime-Format im amerikanischen Fernsehen - verfolgt hat, wird zu dem Schluss kommen, dass bei der Autorin und dem Rechercheteam nicht ausschließlich wissenschaftliche, sondern auch kommerzielle Motive eine Rolle gespielt haben. Es ist allerdings verwunderlich, dass diese Kritik ausgerechnet vom AFF kommt, der solch pompöse Projekte wie etwa das Musicaltheater "Anne" in Amsterdam ins Leben gerufen hat. Das gescheiterte Großprojekt ist weniger durch seine künstlerische Bearbeitung in Erinnerung geblieben als vielmehr durch das angebotene Kombi-Ticket mit Dinner-Arrangement.
Rosemary Sullivan wiederum beklagt sich fast schon raunend in ihrem Buch über die "geheimnisvollen Interessensgruppen" der Nachlassverwalter, die sogar die Streichung des Namens von Anne Frank aus dem Titel gefordert hatten. So weit geht die Macht des Fonds dann aber nicht, wie "The betrayal of Anne Frank" beweist, das am 22. März unter dem Titel "Der Verrat an Anne Frank" auf Deutsch erscheint.
Was bleibt, ist das moralische Urteil des AFF: "Ein Jude verrät Juden" ist für Goldsmith die beunruhigende Kernaussage des Buchs. So schlüssig die Kritik an der öffentlichkeitswirksamen Zuspitzung eines fünfundachtizgprozentigen Wahrheitsgehalts sein mag, sollten wir uns der Auseinandersetzung mit den beunruhigenden, ja verstörenden Aspekten von Geschichte nicht entziehen. Es besteht die Möglichkeit, dass Anne Frank von einem Juden verraten wurde, ob uns dies gefällt oder nicht. Der Verdacht kursierte auch schon vor dieser Veröffentlichung. Es ist besser, die Fragen und Ungereimtheiten direkt und offensiv anzusprechen und zu bearbeiten, um bestenfalls ein Verständnis des Nationalsozialismus als umfassendem Unrechtssystem zu vermitteln, statt sie vom Tisch zu wischen. Es ist das Herunterspielen und Abwehren, das Verschwörungsideologien nährt - nicht andersherum.
Jetzt ist das Buch da und der Rezeption überlassen. Anne Franks Biographn Melissa Müller hat mit Blick auf die Rezeptionsgeschichte von Anne Franks Tagebuch in einem Aufsatz für die F.A.Z. 2015 notiert: "Man kann Menschen nicht vorschreiben, was sie beim Lesen eines Buchs, beim Gang durch ein Museum, beim Betrachten eines Films zu denken haben . . . Es ist sein Erfolgsgeheimnis und sein Dilemma gleichermaßen, dass viele Leser Annes Tagebuch als Spiegel ihrer persönlichen Befindlichkeiten verstehen und eben nicht als Lehrbuch über die Schoa."
Am 12. Juni ist es achtzig Jahre her, dass Anne Frank das Tagebuch von ihrem Vater zum Geburtstag geschenkt bekam. Rosemary Sullivans Buch kann den Spekulationen, wer das Versteck der Familie im Hinterhaus der Prinsengracht verraten hat, kein Ende setzen. Allerdings vermag es wichtige Diskussionen zur aktuellen Auseinandersetzung mit der NS-Zeit sowie der Erinnerung an Anne Frank anstoßen.
Meron Mendel, 1976 in Israel geboren, ist Professor für Soziale Arbeit und Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wer war der Verräter? Das Buch von Rosemary Sullivan gibt darauf keine überzeugende Antwort. Doch die Lektüre von "The Betrayal of Anne Frank" lohnt trotzdem.
Von Meron Mendel
Die Geschichte von Anne Frank habe ich unzählige Male Jugendlichen erzählt, von ihrer Geburt in Frankfurt bis zur Verhaftung in Amsterdam durch die Nazis und den Tod im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Früher oder später kommt immer die Frage auf: Wer hat die Familie Frank verraten? Dazu gibt es mehrere Vermutungen, abschließend geklärt wurde der Fall nie. Jetzt will die kanadische Autorin Rosemary Sullivan, die 2015 den Bestseller "Stalin's daughter" geschrieben hat, mit ihrem neues Buch "The Betrayal of Anne Frank. A Cold Case Investigation" Licht ins Dunkel bringen. Es basiert auf umfangreichen Recherchen eines internationalen Teams samt ehemaligen FBI-Ermittlern, fast schon in True-Crime-Manier wird erfolgreich eine spitze These lanciert, die dieser Tage Schlagzeilen machte: "Jüdischer Notar soll Anne Frank verraten haben." Schon wird über die Kernaussage des Buchs unter Historikern und Experten öffentlichkeitswirksam gestritten.
Spoiler: Entgegen dem Versprechen der Autorin bleibt eine endgültige Antwort auf die Frage des Verrats auch nach der Lektüre der knapp vierhundert Seiten noch aus. Aber das Buch ist mehr als ein PR-Coup: Es widmet sich einigen vergessenen Aspekten der NS-Geschichte - und lenkt den Blick auch auf das schwierige Thema der jüdischen Kollaboration und der Verstrickungen von Jüdinnen und Juden in den Nationalsozialismus. Nicht zuletzt wirft die Debatte um das Buch die Frage auf, wer eigentlich bei relevanten Fragen rund um Anne Frank das letzte Wort behält.
Das internationale Cold-Case-Team unter der Leitung des pensionierten FBI-Ermittlers Vincent Pankoke, bestehend aus Kriminologen, Wissenschaftlern und einem Rabbi, greift dabei auf, was Millionen Menschen weltweit bis heute bewegt: Wie konnte es dazu kommen, dass das Versteck in der Prinsengracht 263 in Amsterdam aufflog, die Familie Frank und vier weitere dort versteckte Juden verhaftet und deportiert wurden? Die Frankfurter Familie emigrierte 1933 nach der Machtergreifung Hitlers in die Niederlande und tauchte 1942 in ein Versteck im Gebäude der früheren Firma von Otto Frank unter. Fast zwei Jahre hielten sie sich dort auf, wenige enge Vertraute waren eingeweiht, die sie mit Essen versorgten. Im August 1944 wurden sie von der Gestapo verhaftet und in das Durchgangslager Westerbork gebracht, wo sie mit dem letzten Transport von Westerbork nach Auschwitz deportiert wurden. Von den acht Versteckten überlebte nur Annes Vater, Otto Frank. Er veröffentlichte 1947 das Tagebuch seiner Tochter, das ihm Miep Gies übergeben hatte, die gemeinsam mit anderen zu den Helferinnen der Untergetauchten gehörte.
Wie es zur Verhaftung kam, ist bis heute unklar. Zwei offizielle Untersuchungen der niederländischen Polizei aus den Jahren 1947 und 1963 blieben ergebnislos. Im Laufe der Jahre wurden mehr als dreißig Personen verdächtigt. Die beiden Polizeiermittlungen liefen gegen Willem van Maaren, einen besonders neugierigen Angestellten von Otto Frank. Eine weitere Verdächtige war Lena Hartog, die Putzfrau des Warenlagers der Firma. Sie wurde von der Journalistin Melissa Müller in ihrer Anne-Frank-Biographie 1998 als Hauptverdächtige benannt. Ein paar Jahre später äußerte die britische Publizistin Carol Anne Lee den Verdacht, dass der niederländische Nazi Tonny Ahlers, der in Otto Franks Firma aushalf, die Familie verraten habe. Nachweislich hatte Ahlers Otto Frank bereits vor der Zeit im Versteck bedroht: Ahlers hatte mitbekommen, wie Otto Frank sich skeptisch über die Siegeschancen der Deutschen geäußert hatte. Daraufhin erpresste er Otto Frank und nahm Geld für sein Schweigen von ihm. Otto Frank selbst, der 1980 verstarb, hatte ebenfalls Ahlers verdächtigt, so schrieb er es nach dem Krieg in einem Brief an die niederländischen Behörden. Im Jahr 2017 wiederum veröffentlichte das Anne-Frank-Haus in Amsterdam auf der Grundlage von neueren Untersuchungen die Theorie, dass es gar keinen Verrat gab: Die SS habe wahrscheinlich nur nach illegalen Waren und Waffen gesucht und dabei die Untergetauchten zufällig entdeckt.
Das Cold-Case-Team meint die bisherigen Mutmaßungen widerlegen zu können und nimmt einen weiteren Verräter ins Visier: den Notar Arnold van den Bergh, der, selbst Jude, andere Juden verraten haben soll, um sich und seine Familie vor der Deportation zu retten. Van den Bergh war Mitglied in dem von der deutschen Besatzungsmacht eingerichteten Judenrat in Amsterdam. Nachdem Juden vom öffentlichen Leben ausgeschlossen wurden, übernahm der Judenrat die Organisation jüdischen Lebens und bot Arbeitsplätze, Wohnungen und Lebensmittel für die sozial Bedürftigen an. Zugleich assistierte der Judenrat bei der Selektion von Juden zur Deportation nach Osten.
Van den Bergh war bereits in den beiden früheren polizeilichen Untersuchungen als möglicher Verräter in Betracht gezogen worden. Die neue Theorie, die ihn in den Fokus nimmt, stützt sich nun auf ein einziges Beweisstück: einen Zettel, den Otto Frank kurz nach dem Krieg erhalten hat. Absender: unbekannt. Auf dem Zettel wird Van den Bergh als Verräter des Verstecks beschuldigt. Er soll eine Liste mit Adressen von untergetauchten Juden geführt und diese an die Nazis weitergegeben haben. Otto Frank fertigte eine Kopie des Zettels an und übergab sie 1964 der niederländischen Polizei. Diese wurde vom Cold-Case-Team im Privatarchiv des damaligen Polizeibeamten gefunden.
Kann die Entdeckung der Kopie als ausreichender Beweis gelten, um Van den Bergh schuldig zu sprechen? Das Cold-Case-Team setzte sich zwar mit der Möglichkeit auseinander, dass der anonyme Schreiber (oder die Schreiberin) aus Rachegedanken gegenüber dem Mitglied des unbeliebten Judenrats so gehandelt haben könnte. Diese Option gänzlich auszuschließen gelang den Forschern allerdings nicht. Das Team kann nicht erklären, ob dem Judenrat die Adresse der Prinsengracht 263 tatsächlich vorlag und ob van den Bergh in eine solche angebliche Liste überhaupt Einsicht hatte. Auch der Versuch, die bisherigen Verdächtigen wie die Putzfrau Hartog oder den Nazi Ahlers auszuschließen, gelang dem Team nicht. Worauf FBI-Mann Pankoke seine Behauptung stützt, die Theorie habe eine Wahrscheinlichkeit von mehr als 85 Prozent, lässt sich auch nach sorgfältiger Lektüre nicht erkennen. So folgte auf die spekta kuläre Veröffentlichung des Cold-Case-Teams schnell die Kritik von Historikern an der Vorgehensweise und den Schlussfolgerungen. Wenn man so will, besteht das Hauptverdienst der umfangreichen Recherche darin, gezeigt zu haben, dass wir nie erfahren werden, wer das Versteck verraten hat.
Das Buch überzeugt hingegen mit anderen Einsichten - indem es Licht auf den Alltag im besetzten Amsterdam der Jahre 1940 bis 1945 wirft und auf die Situation der in den Niederlanden lebenden Juden. Im Vergleich zu den Nachbarländern stellen die Niederlande einen Negativrekord auf, was die jüdischen Opferzahlen betrifft. 73 Prozent der niederländischen Juden haben die deutschen Vernichtungslager nicht überlebt (F.A.Z. von gestern). Von den Tausenden Versteckten wie die Familie Frank wurden etwa ein Drittel verraten. Die detaillierte Rekonstruktion der Biographien zeigt eindrucksvoll, wie das Leben von Juden und Nichtjuden unter deutscher Besatzung war. Was Hannah Arendt die "Banalität des Bösen" nannte, wird in der Beschreibung des Alltags deutlich. Die Klassifizierung als Jude, "deutschblütig" oder "Mischling" ersten oder zweiten Grades entschied über Leben und Tod. Mit Verwaltungsakten und Dokumenten, die jeder von uns kennt: mit Pässen, Anträgen oder dem Erheben von Einsprüchen gegen behördliche Entscheidungen. Menschen, die unter Verdacht standen, jüdisch zu sein, konnten mit genealogischen Berichten und einer notariellen Erklärung ihre "Reinrassigkeit" vor Gericht unter Beweis stellen, mit dem sogenannten "Sperr-Stempel" im Pass konnten Deportationen verzögert werden, etwa, wenn man etwa für den Judenrat arbeitete. Wie das Leben unter Bedingungen von Angst, Misstrauen aber auch Solidarität - alles gleichzeitig - bestimmt wurde, wird anhand der Beschreibung der Handlungen und Motive der potentiellen Verräter deutlich.
So kommt ein bisher in Deutschland kaum rezipiertes Thema zur Sprache: die Rolle der Judenräte und die Frage der jüdischen Kollaboration im Holocaust. Hochrangige Nazis zwangen anerkannte jüdische Personen, ihnen bei der systematischen Erfassung, Deportation und Vernichtung der eigenen Gemeinschaft zu assistieren. Die Brisanz dieses Aspekts in den Erinnerungsdiskursen der Nachkriegszeit liegt sofort auf der Hand: Hier droht die Entlastung der NS-Täter, indem eine Teilschuld auf die Juden verlagert wird. Unter den Überlebenden hingegen führte die Kollaboration schon früh zur Auseinandersetzung. Unmittelbar nach Kriegsende mischten sich in den DP-Lagern jüdische Kollaborateure unter die Flüchtlinge und versuchten, ihre Vergangenheit zu kaschieren. In Fällen, in denen sie enttarnt wurden, kam es bisweilen sogar zu Lynchmorden. Auch im jungen Staat Israel spielte das Thema eine gewichtige Rolle. Das 1950 verabschiedete "Gesetz zur Bestrafung von Nazis und Nazi-Helfern" zielte im Vordergrund gegen jüdische Kollaborateure ab. Der damalige Justizminister erklärte, das Nazi-Gesetz werde wohl kaum zur Exekution von Nazis führen. Die Geschichte wusste es besser: Zehn Jahre später wurde Adolf Eichmann nach Israel entführt und in Jerusalem auf Grundlage ebenjenes Gesetzes vor Gericht gestellt.
In den fünfziger Jahren wurden dem Historiker Tom Segev zufolge etwa dreißig Juden als NS-Kollaborateure der Prozess gemacht. Dabei ging es fast ausschließlich um Juden, die in den Konzentrations- und Vernichtungslagern als sogenannte "Kapos" im Dienst der Nationalsozialisten tätig gewesen waren. Der Eichmann-Prozess diente dem israelischen Staat für einen Richtungswechsel. Generalanwalt Gideon Hausner hat, so notiert es der Historiker Dan Porat, dafür gesorgt, "jeden Bericht zum Schweigen zu bringen, der moralische Zweifel am Verhalten eines jeden Juden während des Holocaust aufkommen lässt". In seinem Eröffnungsstatement stellte Hausner fest: "Wir werden uns nicht mit Juden befassen, die Befehle ausgeführt haben", denn sie sollten als Opfer gesehen werden, deren Handlung durch Zwang entstand. Ganz anders fiel das Urteil von Hanna Arendt aus. In ihrem Buch "Eichmann in Jerusalem" (1964) bezeichnet sie die Rolle der Judenräte und anderer Kollaborateure als "zweifellos das dunkelste Kapitel in der ganzen dunklen Geschichte". Für die NS-Bürokratie, so Arendt, seien die Judenräte essenziell und sogar der "Eckpfeiler" des totalitären Projekts der Judenvernichtung gewesen. Hanna Arendts klare moralische Verurteilung der Judenräte löste eine große Debatte aus.
In den letzten Jahrzehnten hat sich in der Forschung die Ansicht durchgesetzt, dass die jüdische Kollaboration als eine Art "graue Zone" (Dan Porat) zu verstehen ist. Jedes Urteil über sie müsse ihre komplizierte Situation und Dilemmata miteinbeziehen. Die Kanadierin Rosemary Sullivan spricht in ihrem Buch mit Blick auf den Fall des Amsterdamer Judenrats Van den Bergh von einem "höllischen Dilemma", in das er geraten sei aufgrund von Umständen, die er nicht verschuldet hatte. Niemand, der nicht selbst den Abgrund der Schoa miterlebt hat, kann wohl mit Gewissheit sagen, anders gehandelt zu haben.
Ob aber Van den Bergh auch tatsächlich das Versteck in der Prinsengracht an die Nationalsozialisten verraten hat, wird ungewiss bleiben. Zu den schärfsten Kritikern von Sullivans These gehört unter anderem der Anne Frank Fonds in Basel. Er wurde 1963 von Otto Frank gegründet, um das Tagebuch zu verbreiten und das Copyright der Familie Frank zu verwalten. Nach dem Tod von Otto übernahm Annes Cousin Buddy Elias den AFF. Seit seinem Tod 2015 ist die Familie nicht mehr im Stiftungsrat vertreten. Dennoch sieht sich der Fonds weiterhin als Wächterin über das Vermächtnis von Anne Frank. In der Vergangenheit führte er mehrere Gerichtsverfahren unter anderem aufgrund von Copyright-Fragen gegen das Anne-Frank-Haus in Amsterdam.
Beim Recherche-Team um die Buchautorin Sullivan will der Anne Frank Fonds schon früh kommerzielle Gründe ausgemacht haben, wie Stiftungspräsident John Goldsmith dem Schweizer "SonntagsBlick" sagte. Wer das mächtige PR-Aufgebot rund um die Veröffentlichung samt erfolgreicher Lancierung der Story bei "60 Minutes" - dem renommierten Primetime-Format im amerikanischen Fernsehen - verfolgt hat, wird zu dem Schluss kommen, dass bei der Autorin und dem Rechercheteam nicht ausschließlich wissenschaftliche, sondern auch kommerzielle Motive eine Rolle gespielt haben. Es ist allerdings verwunderlich, dass diese Kritik ausgerechnet vom AFF kommt, der solch pompöse Projekte wie etwa das Musicaltheater "Anne" in Amsterdam ins Leben gerufen hat. Das gescheiterte Großprojekt ist weniger durch seine künstlerische Bearbeitung in Erinnerung geblieben als vielmehr durch das angebotene Kombi-Ticket mit Dinner-Arrangement.
Rosemary Sullivan wiederum beklagt sich fast schon raunend in ihrem Buch über die "geheimnisvollen Interessensgruppen" der Nachlassverwalter, die sogar die Streichung des Namens von Anne Frank aus dem Titel gefordert hatten. So weit geht die Macht des Fonds dann aber nicht, wie "The betrayal of Anne Frank" beweist, das am 22. März unter dem Titel "Der Verrat an Anne Frank" auf Deutsch erscheint.
Was bleibt, ist das moralische Urteil des AFF: "Ein Jude verrät Juden" ist für Goldsmith die beunruhigende Kernaussage des Buchs. So schlüssig die Kritik an der öffentlichkeitswirksamen Zuspitzung eines fünfundachtizgprozentigen Wahrheitsgehalts sein mag, sollten wir uns der Auseinandersetzung mit den beunruhigenden, ja verstörenden Aspekten von Geschichte nicht entziehen. Es besteht die Möglichkeit, dass Anne Frank von einem Juden verraten wurde, ob uns dies gefällt oder nicht. Der Verdacht kursierte auch schon vor dieser Veröffentlichung. Es ist besser, die Fragen und Ungereimtheiten direkt und offensiv anzusprechen und zu bearbeiten, um bestenfalls ein Verständnis des Nationalsozialismus als umfassendem Unrechtssystem zu vermitteln, statt sie vom Tisch zu wischen. Es ist das Herunterspielen und Abwehren, das Verschwörungsideologien nährt - nicht andersherum.
Jetzt ist das Buch da und der Rezeption überlassen. Anne Franks Biographn Melissa Müller hat mit Blick auf die Rezeptionsgeschichte von Anne Franks Tagebuch in einem Aufsatz für die F.A.Z. 2015 notiert: "Man kann Menschen nicht vorschreiben, was sie beim Lesen eines Buchs, beim Gang durch ein Museum, beim Betrachten eines Films zu denken haben . . . Es ist sein Erfolgsgeheimnis und sein Dilemma gleichermaßen, dass viele Leser Annes Tagebuch als Spiegel ihrer persönlichen Befindlichkeiten verstehen und eben nicht als Lehrbuch über die Schoa."
Am 12. Juni ist es achtzig Jahre her, dass Anne Frank das Tagebuch von ihrem Vater zum Geburtstag geschenkt bekam. Rosemary Sullivans Buch kann den Spekulationen, wer das Versteck der Familie im Hinterhaus der Prinsengracht verraten hat, kein Ende setzen. Allerdings vermag es wichtige Diskussionen zur aktuellen Auseinandersetzung mit der NS-Zeit sowie der Erinnerung an Anne Frank anstoßen.
Meron Mendel, 1976 in Israel geboren, ist Professor für Soziale Arbeit und Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt.
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"Sullivan's narrative, full of twists and turns and dead-end leads, commands attention at every page, dramatic without being sensational." - Kirkus Reviews (starred review)
"Hums with living history, human warmth and indignation....Sullivan circles all of these possibilities like Agatha Christie with Zoom and a time machine." - New York Times
"The Betrayal of Anne Frank is a stunning piece of historical detective work, cleverly structured and grippingly written." - Telegraph (UK)
"Hums with living history, human warmth and indignation....Sullivan circles all of these possibilities like Agatha Christie with Zoom and a time machine." - New York Times
"The Betrayal of Anne Frank is a stunning piece of historical detective work, cleverly structured and grippingly written." - Telegraph (UK)