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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Walt Whitman, Oprah Winfrey und Prada stehen fest an Amanda Gormans Seite: Heute erscheint ihr erstes Buch auf Deutsch
Kann ein Gedicht die Welt verändern? Vermutlich nicht. Aber es kann ein Leben verändern. Vierzig Millionen Amerikaner haben Amanda Gormans Auftritt bei der Feier zur Amtseinführung von Joe Biden am 20. Januar gesehen. Sie selbst blickte in ungezählte Kameras und ein Meer von 191 500 amerikanischen Flaggen, die auf dem Capitol Hill das amerikanische Volk repräsentieren sollten. Als sie drei Wochen später in der Pause des Super Bowl ein weiteres Gedicht vortrug, saßen 800 Millionen Menschen vor den Fernsehern.
All dies geschah nur sechs Jahre nachdem ihr erster und bislang einziger Gedichtband angekündigt wurde: "The One For Whom Food Is Not Enough" wurde häufig erwähnt, aber allem Anschein nach nie rezensiert. Über den Inhalt ist im Grunde nichts bekannt. Dennoch gilt Amanda Gormans lyrisches Werk als Grundlage ihres märchenhaften Aufstiegs zum Medienstar. In ihren beiden soeben erschienenen Biographien wird auf "ihre Werke" verwiesen, sie selbst spricht auf ihrer Homepage von "meinen Worten". 2017 trat Amanda Gorman in der Library of Congress auf. Keine Bibliothek der Welt verfügt über mehr Bücher als diese Institution. Amanda Gormans Debütband ist nicht darunter.
Heute erscheint das erste Buch Amanda Gormans in deutscher Sprache. Als es unmittelbar nach Bidens Amtseinführung angekündigt wurde, durfte man spekulieren, was es enthalten würde. Bei einem Umfang von etwa sechzig Seiten durfte man auf etwa zwei Dutzend Gedichte hoffen. Tatsächlich enthält Amanda Gormans erstes Buch auf Deutsch nur ein einziges, seit der Amtseinführung weltbekanntes Gedicht. "The Hill We Climb" wird zweisprachig abgedruckt, ergänzt um einige Fußnoten eines dreiköpfigen Übersetzerinnenteams sowie eine Einführung von Oprah Winfrey, die exakt zwölf salbungsvolle Sätze umfasst. Macht 64 Seiten zum Preis von zehn Euro. Die Startauflage von "Den Hügel hinauf" beträgt 50 000 Exemplare, die dritte Auflage wird gerade gedruckt. Kaffeetassen und T-Shirts mit Gormans Konterfei waren schon vorher erhältlich. Die Marketingmaschine war angeworfen, und es sieht zurzeit nicht so aus, als sollte sie jemals wieder zum Stillstand kommen.
Amerika, schrieb der Politologe Sacvan Bercovitch, sei wohl die einzige Nation, deren Identität vor allem auf ihrer Rhetorik beruht. Das Land und seine Bewohner haben eine große Tradition darin, den Geschichten, die sie sich über sich selbst erzählen, Glauben zu schenken. Krisen der amerikanischen Gesellschaft gehen häufig mit einer Krise der amerikanischen Rhetorik einher. Bercovitch hat zu einem Phänomen geforscht, das der Soziologe Robert N. Bellah als Amerikas "Civil Religion" bezeichnet hat. Es geht dabei um jene Elemente der säkularen amerikanischen Gesellschaft, die aus einem religiösen Bereich stammen oder eine religiöse Funktion erfüllen. Anders gesagt: Es geht um jene Erzählungen, Traditionen, Ideale und im kollektiven Bewusstsein verankerten rhetorischen Figuren, die Identität stiften, Akzeptanz schaffen, eine Gemeinschaft konstituieren und stabilisieren. Amerika hat kein religiöses Oberhaupt. Aber es hat einen Präsidenten. Die Rhetorik der Zivilreligion zählt zu den Disziplinen, in denen er sich beweisen muss.
Amanda Gorman dürfte mit den Arbeiten von Bellah und Bercovitch vertraut sein - sie hat in Harvard Soziologie studiert. Als sie fünf Jahre alt war, begann sie sich "in schriftlicher Form auszudrücken", zunächst wollte sie Songwriter werden, dann wandte sie sich dem Tanz zu. Wie Biden hat sie als Kind gestottert, und wie er hat sie eisern trainiert, um ihre Beeinträchtigung zu überwinden. Im Juni 2014 wurde sie in der Public Library der Stadt zur ersten "Los Angeles Youth Poet Laureate" ernannt. Die Auszeichnung galt nicht nur ihren Gedichten, sondern wurde ausdrücklich auch für soziales Engagement und Aktivismus vergeben. Dass Lyrik sehr wohl etwas mit Politik zu tun haben kann, hat Amanda Gorman früh erfahren. Mit der Auszeichnung verbunden war ein Buchvertrag mit dem Verlag Penmanship Books, in dem ihr erster Lyrikband erscheinen sollte. Heute informiert der Verlag auf seiner Website darüber, dass keines seiner Bücher lieferbar sei. Als der Wettbewerb zum "Youth Poet Laureate" erstmals landesweit ausgetragen wurde, war Amanda Gorman unter den Finalisten, die ins Weiße Haus eingeladen wurden. Einige Monate später stand sie als erster "National Youth Poet Laureate" fest. Bei der Amtseinführung von Tracy K. Smith als "Poet Laureate" 2017 trug Amanda Gorman ein eigenes Gedicht vor: "In This Place (An American Lyric)".
Auch dieses Gedicht beschwört in der Tradition eines Walt Whitman amerikanische Landschaften, nennt Städtenamen von Küste zu Küste und beschwört die Einheit des Landes: "our country / our America, / our American lyric to write / a poem by the people, the poor". Dann folgt eine Aufzählung, die von Protestanten, Muslimen und Juden über Schwarze, Braune, Blinde und Mutige bis zu Männern, Frauen, Nichtbinären und Trans-Personen reicht. Der Gestus ist einigend, umarmend und heroisch: "Tyrants fear the poet".
Amanda Gorman weiß, in welche Tradition sie sich stellt, wenn sie auf dem Hügel des Kapitols von einem Hügel spricht, den es zu erklimmen gelte. "Den Hügel hinauf" ist Appell und Ankündigung. "Die Stadt auf dem Hügel" ist seit der berühmten Predigt, die der Pilgervater John Winthrop 1630 hielt, wohl das wichtigste Element der amerikanischen Zivilreligion. Die Stadt auf dem Hügel ist das Symbol des idealen Gemeinwesens, weithin sichtbar, von Gott auserwählt und gesegnet, der Welt ein Vorbild. Eine dieser Beschreibungen der Stadt auf dem Hügel lautet wie folgt: "Eine hoch aufragende stolze Stadt, die auf Felsen stärker als Ozeane gebaut, von Winden umtost, von Gott gesegnet war und von Menschen aller Art bewohnt, die in Eintracht und Frieden lebten ... und falls diese Stadt Mauern benötigte, hatten diese Mauern Tore, und diese Tore standen jedermann offen, der den Willen und die Kraft hatte, dorthin zu gelangen." Die Beschwörung dieser Idealstadt wird eng verknüpft mit der geglückten "Wiederherstellung unserer Moral: Amerika wird in der Welt wieder respektiert und bekommt eine Führungsrolle zugewiesen." So weit Ronald Reagan in seiner Abschiedsrede als Präsident 1989. Nach ihm haben sich so unterschiedliche Politiker wie Barack Obama, Ted Cruz oder Mike Pompeo auf Winthrop bezogen. Als Mitt Romney 2016 Trump die Eignung zum Präsidenten absprach, sagte er voraus, mit Trump würde Amerika "aufhören, die Stadt auf dem Hügel zu sein".
Zu den wichtigsten Aufgaben amerikanischer Präsidenten gehört es, den Glauben des Landes an sich selbst zu erhalten. Deshalb versprechen Präsidenten nie etwas Neues, sondern immer nur Erneuerung und die Rückkehr zu früherer Stärke und Moral. Amanda Gorman, die 2036 Präsidentin werden will, hat damit schon jetzt angefangen. Sie beruft sich auf Walt Whitman und Martin Luther King, Elizabeth Bishop und Maya Angelou, unterstützt wird sie von Michelle Obama und Jill Biden, Oprah Winfrey und Prada. Sie mischt Slam-Poetry und Predigt, Whitmans Pathos und die oft stark rhythmisierte Mündlichkeit schwarzer Kultur. Ihre Verse drängen mehr auf die Bühne als zwischen zwei Buchdeckel. Wenn ein amerikanischer Präsident Dichter wäre, würde er Verse schreiben wie Amanda Gorman. Und wenn eine amerikanische Dichterin Präsidentin wäre, täte sie dasselbe.
HUBERT SPIEGEL
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