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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Eigenes Wissen vom Gegenüber erweitern und über die Kontakte den Einfluss der eigenen Regierung auf dieses Gegenüber erhöhen: Wie Diplomaten ihr Leben und ihre Arbeit sehen
Diplomatisch zu sein ist eine positiv konnotierte Formel, die auch außerhalb der internationalen Beziehungen allgemein in der Politik Verwendung findet. Sie steht für Lösungs- und Kompromissorientierung und die Bereitschaft, sich in die Lage anderer zu versetzen, deren Wünsche und Interessen zu erkennen. Solche Eigenschaften sind in einer sich polarisierenden politischen Landschaft heute mehr denn je gefragt. Der Begriff Diplomatie und die aus ihm abgeleitete Berufsbezeichnung des Diplomaten muten dagegen in einer Welt, in der sich die Kommunikationsmöglichkeiten und -bedingungen durch die Digitalisierung fundamental verändert haben, antiquiert an. Wozu braucht es noch diplomatische Vertretungen vor Ort, wenn die Regierungen in den Hauptstädten direkt miteinander in Verbindung treten können? Und steht es nicht im Widerspruch zur Idee und zum Wesen der Diplomatie, wenn diplomatisches Handeln sich zunehmend in der Öffentlichkeit abspielt, wo Aufmerksamkeit und Erregung mehr zählen als Zurückhaltung?
Dass die Diplomatie ihre Bedeutung auch im klassischen Sinne behält, machen zwei Neuerscheinungen deutlich, in denen die Botschafterinnen und Botschafter selbst zu Wort kommen und aus ihrer diplomatischen Praxis berichten. Der von Otto Lampe herausgegebene Band versammelt Beiträge deutscher Diplomaten, die aus dem aktiven Dienst ausgeschieden sind, sich aber in verschiedenen ehrenamtlichen Funktionen weiter engagieren. Der Titel des Buches und der Verlagstitel stellen eine Reminiszenz an den Ururgroßvater des Herausgebers und dessen - als Autorin mitvertretene - Schwester Susanne Pross dar; im Hamburger "Verlag von Otto Meissner" war 1867 Karl Marx' Werk "Das Kapital" verlegt worden. Das Marx'sche Leitmotiv des "Mehrwerts" durchzieht als roter Faden sämtliche der 16 Beiträge, die ansonsten ganz unterschiedliche Tätigkeitsfelder behandeln - von der Kultur- und Erinnerungspolitik über den Demokratie- und Menschenrechtsschutz bis hin zur Gewaltprävention und zum globalen Klimaschutz. Beleuchtet werden auch gerne übersehene Themen wie die Rolle der im Jargon "MAP" genannten "mitausreisenden Partnern / Partnerinnen" oder die Verwendung von ausgebildeten Diplomaten als "Leiharbeiter" außerhalb des Auswärtigen Dienstes, etwa im Präsidialamt oder Bundestag.
Das andere Werk stammt von Leigh Turner, der als diplomatischer Vertreter des Vereinigten Königreichs von 1983 an in unterschiedlichen Funktionen unter anderem in Wien (dort zuletzt von 2016 bis 2021 als Botschafter), Moskau, Hongkong, Berlin, Kiew und Istanbul im Einsatz war. Weil Turner Österreich über sein Ausscheiden hinaus verbunden blieb, ist das Original des Buches in einem Wiener Verlag auf Deutsch erschienen. Seine Darstellung beginnt mit einem chronologisch angeordneten biographischen Teil, dem sich ein wesentlich längeres, freilich unsystematisch wirkendes Kapitel über "Lehren aus der Diplomatie" und ein kürzeres Kapitel über lebenslanges Lernen und diplomatisches Urteilsvermögen anschließen, abgerundet von einer Liste der wichtigsten Ratschläge für Diplomaten und Botschafter. Turners Rückschau liefert Einblicke in epochale Ereignisse der Zeitgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, etwa den Putsch gegen Gorbatschow, die Übergabe der Kolonie Hongkong, die russische Aggression gegen die Ukraine oder die autoritäre Wende in der Türkei unter Erdogan. Der Autor stützt seine Reflexionen überwiegend auf anekdotische Evidenz. Unterlegt mit britischem Humor und Understatement, liest man die aneinandergereihten, zumeist sehr knapp und pointiert gefassten und thematisch nur lose verknüpften Episoden mit Vergnügen, auch wenn sich gegen Ende eine gewisse Ermüdung einstellt. Etwas mehr Struktur und Stringenz hätten dem Buch gutgetan.
Das Erfolgsgeheimnis der Diplomatie, das in Zeiten multipler Krisen wie den heutigen so unentbehrlich scheint wie ehedem, ist der niemals abreißende Gesprächsfaden. Selbst dort, wo sich Staaten in kriegerische Auseinandersetzungen begeben - wie aktuell Russland gegenüber der Ukraine -, bleiben die diplomatischen Kanäle zwischen ihnen und den jeweiligen Unterstützern bestehen, begegnen sich ihre Vertreter weiterhin in multilateralen Foren und Organisationen. Leigh Turner betrachtet das Knüpfen von ergiebigen Verbindungen als Wesenskern der Diplomatie. Ziel sei es, das eigene Wissen vom Gegenüber zu erweitern und über die Kontakte den eigenen Einfluss beziehungsweise den der Regierung auf dieses Gegenüber zu erhöhen. Dies setze die unermüdliche Bereitschaft zu Treffen und Gesprächen voraus, die wiederum spezifische Qualifikationen erfordere. An erster Stelle stehen die Beherrschung der Landessprache und der Wille, sich mit den kulturellen Gepflogenheiten des Gastlandes vertraut zu machen und ihnen, so gut es geht, zu folgen. Das gelte insbesondere für die Trinksitten, weil Alkohol in den meisten Gesellschaften als "Schmiermittel" diplomatischer Kontakte nicht wegzudenken sei.
Ein neueres Thema der Diplomatie, das unter dem Begriff "Public Diplomacy" firmiert und über die traditionelle Öffentlichkeitsarbeit der Außenministerien hinausweist, gewinnt durch das Aufkommen der sozialen Medien zusätzliche Brisanz. Neben Gesprächen mit der Regierung und den Vertretern wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Eliten gehört zu den Beeinflussungsstrategien von Diplomaten der Dialog mit der Bevölkerung. Welche Bedeutung das gewinnen kann, hat sich im Zuge des russischen Angriffs auf die Ukraine im Falle Andrij Melnyks gezeigt, des ukrainischen Botschafters in der Bundesrepublik. Mithilfe von Twitter gelang es Melnyk, auf maßgebliche Teile der Öffentlichkeit so einzuwirken, dass die Bundesregierung unter Druck geriet, von ihrer anfänglich eher zögerlichen Unterstützung der Ukraine zugunsten einer entschiedeneren Haltung abzurücken. Ob Melnyks Medienkampagne dafür ausschlaggebend war oder vielleicht doch andere Faktoren wie der Druck aus dem Ausland oder die Bilder von den Kriegsgräueln in Butscha eine wichtigere Rolle spielten, bleibt aber offen.
Die beiden Bände vermitteln wertvolle Einblicke in die Usancen des diplomatischen Betriebs - von der Einbestellung von Botschaftern über "das notwendige Übel der Immunität" und den Umgang mit Spionagetätigkeit bis hin zu der im Auswärtigen Dienst nicht nur der Bundesrepublik üblichen Praxis, die Botschafter rotieren zu lassen. Die begrenzte Aufenthaltsdauer soll Gewähr dafür bieten, dass die Diplomaten sich mit ihrem Gastland nicht zu sehr "gemein" machen, ist es doch ihre Aufgabe, dort die Interessen des eigenen Landes zu vertreten. Etwas unterbelichtet bleibt die Rolle der klassischen Diplomatie im Verhältnis der EU-Staaten untereinander und innerhalb der EU, die in einem in weiten Bereichen integrierten Staatenverbund eine andere sein muss als in herkömmlichen zwischenstaatlichen Beziehungen. Im Kompendium der deutschen Diplomaten liegt das Hauptaugenmerk auf den anderen großen Weltregionen - Nord- und Lateinamerika, Afrika und Asien. Und für Leigh Turner spielt das Thema nur im Kontext des Brexit eine Rolle, den er - obwohl selbst eher proeuropäisch gesinnt - als Botschafter eines von jeher EU-skeptischen Landes auf seinem Posten in Österreich zu vertreten hatte und den er vor allem wegen der damit verbundenen außenpolitischen Schwächung beider Seiten - Großbritanniens wie der EU - bedauert. FRANK DECKER
Leigh Turner: The Hitchhiker's Guide to Diplomacy. Wie Diplomatie die Welt erklärt.
Czernin Verlag, Wien 2023. 432 S., 28, - Euro.
Otto Lampe (Hrsg.): Mehrwert Diplomatie. Einblicke - Einsichten - Erkenntnisse.
Otto Meißners Verlag / Frieling & Huffmann, Berlin 2023. 236 S., 15,- Euro.
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