Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.09.2016Das Gruseln im Dauerregen
Als die Sonne wieder schien, legten die anderen die Feder hin. Nur Mary Shelley brachte ihren "Frankenstein" zu Ende.
Auf Kälte lässt er nichts kommen, der junge Forschungsreisende Walton, der mitten im Winter in der russischen Hauptstadt Sankt Petersburg angekommen ist und sich anschickt, in noch kältere Regionen aufzubrechen, nach Archangelsk am Weißen Meer. Der kalte Wind, der durch die Gassen fegt, wird ihm gar zum "Wind der Verheißung", weil er von dort kommt, wohin Walton will: vom Nordpol, den sich der junge Mann, wie viele seiner Zeitgenossen, als Wunderland träumt, eisfrei, aber verborgen hinter den schweren Schollen des Polarmeers.
So beginnt der Roman "Frankenstein", dessen eigentlicher Erzähler ebenjener Walton ist und nicht der unglückliche Wissenschaftler, der seinen Namen gleichwohl für den Titel hergibt. Die wachen Sinne aber, die Walton für Landschaft und Wetter besitzt und für deren Entschlüsselung einsetzt, teilt er mit vielen anderen Figuren dieses Romans, der in Gebirgspanoramen, in Mondnächten oder Herbststimmungen schwelgt und zugleich davon handelt, all diese Überwältigungsstrategien des Kosmos zurückzuweisen: Viktor Frankenstein, der kurz vor seinem Tod im tiefsten arktischen Eis noch die Gelegenheit hat, Walton von seinem wissenschaftlichen Triumph und seiner tiefen Reue zu berichten, hat aus Leichenteilen ein menschliches Wesen zusammengefügt und es belebt. Er ist tiefer in die Geheimnisse der Natur eingedrungen als jeder andere vor ihm, und mit den Geheimnissen hat sie für ihn auch den Zauber verloren.
Auch die Geschichte jener Entzauberung durch Frankenstein verdankt sich der umgebenden Natur, in Gestalt von Wetterphänomenen, die damals noch weit davon entfernt waren, ihrerseits entschlüsselt zu werden: "Das Wetter war von einer so anhaltenden Kälte und Nässe", heißt es im Vorwort zu dem Roman, das die Entstehung des Werks nachzeichnet, "dass wir uns allabendlich um das im Kamin lodernde Holzfeuer scharten" - um sich Gruselgeschichten zu erzählen.
"Wir", das waren im Wesentlichen Lord Byron, sein junger und ausnehmend hübscher Leibarzt John William Polidori, Percy Shelley mit seiner Geliebten und späteren Frau Mary Godwin sowie deren Halbschwester Claire Clairmont. Der Kamin war Teil der Villa Diodati am Genfer See, der Zeitpunkt war der Sommer 1816, dessen feuchtes und kühles Gesicht man sich nicht erklären konnte und wahlweise auf die Vorsehung schob oder darauf, dass Eisberge in großer Zahl aus dem Norden nach Süden getrieben seien und die Kälte einfach mitgebracht hätten - die Schuld des Vulkans Tambora an der Misere wurde erst mehr als hundert Jahre später vermutet.
Das Wüten der Natur also begünstigte die bösen Träume, so hat es die 1797 geborene Mary Shelley, die Autorin von "Frankenstein oder Der neue Prometheus", später suggeriert, so wie umgekehrt das einziehende, bessere Wetter dann ihre Begleiter, die sich während der Regenzeit mit ihr zum Schreiben von Gruselgeschichten verschworen hatten, wieder davon abbrachte. Sie allein hielt durch und brachte einen Roman zustande, der sie bis heute weltberühmt machte, während der genialische Percy Shelley, der sie als Sechzehnjährige ihrem tyrannischen Vater William Godwin geradezu entführt hatte, heute nur noch von wenigen gelesen wird.
Was den Roman allerdings weiter begünstigte, war die Diskussion, die damals unter ständig veränderten Vorzeichen in der Wissenschaft so gut wie in der Literatur geführt wurde und danach fragte, was den Menschen eigentlich von der Maschine einerseits und von anderen Lebewesen wie Pflanzen und Tieren andererseits unterscheidet. Die Literatur öffnete sich Androiden, belebten Marionetten, Menschmaschinen oder Übergangsformen zwischen Mensch und Tier. Autoren wie Jean Paul oder E. T. A. Hoffmann nahmen die Position des humanen Betrachters ein, der zwischen Natur und Kunst nicht mehr unterscheiden kann, wenn er in die Gesichter derer schaut, die ihn umgeben. Und in einer Satire Karl Immermanns von 1822 findet dann gleich eine ganze ritualisierte Soirée unter Robotern statt, deren Programmierung sogar Verstöße gegen die Etikette vorsieht. Im Sommer 1816 bewegten allerdings zwei Vorträge, die der Anatomieprofessor William Lawrence kurz zuvor in Oxford gehalten hatte, die Gemüter und befeuerten die Diskussion: Lawrence, den 1814 Shelley ebenso wie Mary Godwin konsultiert hatten, musste sich zwei Jahre später heftiger Angriffe erwehren, weil er als dezidierter Materialist auch für die menschlichen Gedanken und Empfindungen einen körperlichen Ursprung annahm.
Mary überlebte ihren Mann, der 1822 mit knapp 26 Jahren vor La Spezia ertrank, um beinahe drei Jahrzehnte. Sie hatte bereits als Kind im Verlag ihres Vaters einige Geschichten veröffentlicht, sie schrieb nach "Frankenstein" noch eine Reihe von Romanen, von denen "The Last Man", erschienen 1826, sicherlich der seltsamste und beeindruckendste ist - er spielt gegen Ende des einundzwanzigsten Jahrhunderts in einem politisch verwirrten England, vor allem aber erlebt sein Erzähler, wie nach und nach alle Menschen um ihn herum sterben, bis nur noch er da ist, um zu erzählen. Das Bild völliger Isolation jedenfalls, das hier entworfen wird, dürfte dem Empfinden einer Frau entsprochen haben, die mehrere Fehlgeburten hatte und alle Kinder bis auf eines in jungen Jahren verlor.
Einsamkeit ist auch das große Thema in "Frankenstein", schließlich beginnt das von Frankenstein geschaffene Wesen seine Mordserie an allen Menschen, die seinem Schöpfer nahestehen, weil der sich weigert, ihm eine Gefährtin zu erschaffen und damit das Wesen aus seiner Einsamkeit zu erlösen. Und keine Landschaft spiegelt dieses Gefühl literarisch besser als die Eiswüste, Anfang und Ende dieses Romans.
TILMAN SPRECKELSEN
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Als die Sonne wieder schien, legten die anderen die Feder hin. Nur Mary Shelley brachte ihren "Frankenstein" zu Ende.
Auf Kälte lässt er nichts kommen, der junge Forschungsreisende Walton, der mitten im Winter in der russischen Hauptstadt Sankt Petersburg angekommen ist und sich anschickt, in noch kältere Regionen aufzubrechen, nach Archangelsk am Weißen Meer. Der kalte Wind, der durch die Gassen fegt, wird ihm gar zum "Wind der Verheißung", weil er von dort kommt, wohin Walton will: vom Nordpol, den sich der junge Mann, wie viele seiner Zeitgenossen, als Wunderland träumt, eisfrei, aber verborgen hinter den schweren Schollen des Polarmeers.
So beginnt der Roman "Frankenstein", dessen eigentlicher Erzähler ebenjener Walton ist und nicht der unglückliche Wissenschaftler, der seinen Namen gleichwohl für den Titel hergibt. Die wachen Sinne aber, die Walton für Landschaft und Wetter besitzt und für deren Entschlüsselung einsetzt, teilt er mit vielen anderen Figuren dieses Romans, der in Gebirgspanoramen, in Mondnächten oder Herbststimmungen schwelgt und zugleich davon handelt, all diese Überwältigungsstrategien des Kosmos zurückzuweisen: Viktor Frankenstein, der kurz vor seinem Tod im tiefsten arktischen Eis noch die Gelegenheit hat, Walton von seinem wissenschaftlichen Triumph und seiner tiefen Reue zu berichten, hat aus Leichenteilen ein menschliches Wesen zusammengefügt und es belebt. Er ist tiefer in die Geheimnisse der Natur eingedrungen als jeder andere vor ihm, und mit den Geheimnissen hat sie für ihn auch den Zauber verloren.
Auch die Geschichte jener Entzauberung durch Frankenstein verdankt sich der umgebenden Natur, in Gestalt von Wetterphänomenen, die damals noch weit davon entfernt waren, ihrerseits entschlüsselt zu werden: "Das Wetter war von einer so anhaltenden Kälte und Nässe", heißt es im Vorwort zu dem Roman, das die Entstehung des Werks nachzeichnet, "dass wir uns allabendlich um das im Kamin lodernde Holzfeuer scharten" - um sich Gruselgeschichten zu erzählen.
"Wir", das waren im Wesentlichen Lord Byron, sein junger und ausnehmend hübscher Leibarzt John William Polidori, Percy Shelley mit seiner Geliebten und späteren Frau Mary Godwin sowie deren Halbschwester Claire Clairmont. Der Kamin war Teil der Villa Diodati am Genfer See, der Zeitpunkt war der Sommer 1816, dessen feuchtes und kühles Gesicht man sich nicht erklären konnte und wahlweise auf die Vorsehung schob oder darauf, dass Eisberge in großer Zahl aus dem Norden nach Süden getrieben seien und die Kälte einfach mitgebracht hätten - die Schuld des Vulkans Tambora an der Misere wurde erst mehr als hundert Jahre später vermutet.
Das Wüten der Natur also begünstigte die bösen Träume, so hat es die 1797 geborene Mary Shelley, die Autorin von "Frankenstein oder Der neue Prometheus", später suggeriert, so wie umgekehrt das einziehende, bessere Wetter dann ihre Begleiter, die sich während der Regenzeit mit ihr zum Schreiben von Gruselgeschichten verschworen hatten, wieder davon abbrachte. Sie allein hielt durch und brachte einen Roman zustande, der sie bis heute weltberühmt machte, während der genialische Percy Shelley, der sie als Sechzehnjährige ihrem tyrannischen Vater William Godwin geradezu entführt hatte, heute nur noch von wenigen gelesen wird.
Was den Roman allerdings weiter begünstigte, war die Diskussion, die damals unter ständig veränderten Vorzeichen in der Wissenschaft so gut wie in der Literatur geführt wurde und danach fragte, was den Menschen eigentlich von der Maschine einerseits und von anderen Lebewesen wie Pflanzen und Tieren andererseits unterscheidet. Die Literatur öffnete sich Androiden, belebten Marionetten, Menschmaschinen oder Übergangsformen zwischen Mensch und Tier. Autoren wie Jean Paul oder E. T. A. Hoffmann nahmen die Position des humanen Betrachters ein, der zwischen Natur und Kunst nicht mehr unterscheiden kann, wenn er in die Gesichter derer schaut, die ihn umgeben. Und in einer Satire Karl Immermanns von 1822 findet dann gleich eine ganze ritualisierte Soirée unter Robotern statt, deren Programmierung sogar Verstöße gegen die Etikette vorsieht. Im Sommer 1816 bewegten allerdings zwei Vorträge, die der Anatomieprofessor William Lawrence kurz zuvor in Oxford gehalten hatte, die Gemüter und befeuerten die Diskussion: Lawrence, den 1814 Shelley ebenso wie Mary Godwin konsultiert hatten, musste sich zwei Jahre später heftiger Angriffe erwehren, weil er als dezidierter Materialist auch für die menschlichen Gedanken und Empfindungen einen körperlichen Ursprung annahm.
Mary überlebte ihren Mann, der 1822 mit knapp 26 Jahren vor La Spezia ertrank, um beinahe drei Jahrzehnte. Sie hatte bereits als Kind im Verlag ihres Vaters einige Geschichten veröffentlicht, sie schrieb nach "Frankenstein" noch eine Reihe von Romanen, von denen "The Last Man", erschienen 1826, sicherlich der seltsamste und beeindruckendste ist - er spielt gegen Ende des einundzwanzigsten Jahrhunderts in einem politisch verwirrten England, vor allem aber erlebt sein Erzähler, wie nach und nach alle Menschen um ihn herum sterben, bis nur noch er da ist, um zu erzählen. Das Bild völliger Isolation jedenfalls, das hier entworfen wird, dürfte dem Empfinden einer Frau entsprochen haben, die mehrere Fehlgeburten hatte und alle Kinder bis auf eines in jungen Jahren verlor.
Einsamkeit ist auch das große Thema in "Frankenstein", schließlich beginnt das von Frankenstein geschaffene Wesen seine Mordserie an allen Menschen, die seinem Schöpfer nahestehen, weil der sich weigert, ihm eine Gefährtin zu erschaffen und damit das Wesen aus seiner Einsamkeit zu erlösen. Und keine Landschaft spiegelt dieses Gefühl literarisch besser als die Eiswüste, Anfang und Ende dieses Romans.
TILMAN SPRECKELSEN
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