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Eine Studie über internationale Organisationen zeigt unfreiwillig, wo auch die Bundesregierung zu kurz denkt
Ein Kuriosum der deutschen Nationalen Sicherheitsstrategie liegt darin, dass sie die Aussage "ohne Sicherheit, keine Stabilität" (so im Vorwort von Bundeskanzler Olaf Scholz) und ihr handlungsleitendes Bekenntnis zum Multilateralismus "auf Grundlage der Charta der Vereinten Nationen" gleichermaßen axiomatisch hervorheben. Dies aber, ohne zu deutlich zu machen, dass Stabilität immer eine bestimmte Konfiguration des Machtgewichts in der Weltpolitik voraussetzt, durch die erst das multilaterale Regelwerk westlichen Charakter erhält und dessen Interessen durchsetzt. Normen und Völkerrecht ohne Grundierung in einer Machtkonstellation sui generis werden sonst Verhandlungsmasse der anarchischen internationalen Politik. "The jungle grows back" (Robert Kagan), wird dann zur unvermeidlichen Konsequenz. Dass die institutionelle Ordnung der Welt auch ohne die Vormacht einer bestimmten Staatengruppe funktionieren können soll, offenbart ein technokratisches Missverständnis von Regeln. Die Zwischenkriegszeit hatte dies unzweideutig demonstriert.
Die universitären Internationalen Beziehungen (IB) in Deutschland entwickelten sich nach dem Krieg wesentlich zu einer Institutionenwissenschaft. Seit Ende des Kalten Krieges widmen sie sich fast exklusiv Fragen von Global Governance, mit Blick auf internationale Organisationen, Nichtregierungsorganisationen und deren liberale Normverbreitung. Grundlegende Fragen zu den machtpolitischen Voraussetzungen westlicher Ordnung wurden und werden nicht gestellt. Habermasdurchtränkt verlässt das Fach sich allein auf die rationale Durchdringbarkeit internationaler Widersprüche mit der Kraft des Arguments. Die Kategorie Macht ist in den IB etwas Ähnliches wie Persona non grata in der Diplomatie. Es ist daher nur konsequent, dass das intellektuelle IB-Milieu der sogenannten Exzellenzuniversitäten den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine weder begreifbar machen kann noch dazu schreib- und sprechfähig ist.
Der französische Emeritus für Globale Politik, Yves Schemeil, steht dieser Tradition nahe. Der Autor ordnet sich so der normativen institutionellen Schule zu, weshalb er folgerichtig jede "geopolitische Kontextualisierung" seines Untersuchungsgegenstands a priori ausschließt.
Schemeils Kernargument lautet: Gerade weil die zunehmende Komplexität des internationalen Umfelds nicht von einzelnen Akteuren erfasst werden kann, entstehen Koalitionen von Handelnden, die diese Komplexität in eine "produktive Arbeitsteilung" umwandeln. Der Ort, an dem dies geschieht, sind internationale Organisationen. Während diese Erklärung eher konventionell ist, wird es interessanter, wenn Schemeil herausarbeitet, welches Gewicht der Prozess der interorganisationellen Zusammenarbeit in den vergangenen 20 Jahren gewonnen hat. Die Veranschaulichung anhand von WTO und WHO gibt hiervon entsprechend Eindruck.
Diese empirische Entwicklung erklärt er damit, dass sich zwischen internationalen Organisationen eine Verflechtung von Expertise durch eine ständig wachsende Zahl an internationalen Stabsmitarbeitern ergeben hat, die durch ihre "Wissensherrschaft" (epistemocracy) der Bereitstellung von globalen Gütern dienen. Abgesehen von Fragen demokratischer Legitimation, scheint der normativ-progressive Glaube an die Weltgemeinschaft hier am stärksten durch. Regierungen sollen dieser bisher national weisungsgebundenen, aber kosmopolitisch denkenden Expertenelite deshalb mehr eigenständige Macht geben, damit sie globale Güter erarbeiten kann. An dieser Stelle angekommen, lässt sich eine Vielzahl realistischer Kritikpunkte anführen. Zuvörderst gewiss, dass die Motoren entwicklungspolitischer Verbesserungen Staaten sind (China, Indien), nicht internationale Organisationen, so wie sie die Treiber der Fragmentierung internationaler Kooperation sein können und es häufig sind. Das triftigste Gegenargument zu Schemeil ist jedoch, dass er die Wichtigkeit der Zusammenarbeit in weichen Politikfeldern derart überhöht, dass er Fragen der ersten Ordnung, nämlich die nach den machtpolitischen Voraussetzungen einer bestimmten Ordnung, völlig ignoriert. Krieg und politisch-strategischer Machtkampf um den grundsätzlichen Charakter einer Ordnung sind keine Kategorien in seiner progressiven funktionalen Expertenweltsicht.
Er unterstreicht dies, wenn er die relative Schwächung des Westens für unaufhaltbar hält und argumentiert, diese werde durch zwei Faktoren aufgefangen ("taken for granted everywhere"): durch die Vielzahl amerikanischer Nichtregierungsorganisationen, die das progressive Bild vom globalen Guten aufrecht hält. Und durch die erwähnte, global denkende Expertenelite, die sich seiner Ansicht nach gleichermaßen aus dem Westen und dem sogenannten globalen Süden rekrutiert, die sich dieser Mission verschrieben hat. Nun lassen sich auch in der Zwischenkriegszeit supranationale Netzwerke pazifistischer Aktivisten und nach dem Zweiten Weltkrieg kosmopolitische Netzwerke der antinuklearen Bewegung leicht ausmachen. Aber Schemeil sieht den Geist seiner Expertokratie bereits am Werk und will den Experten ein Maximum an exekutiver Verantwortung geben, sieht aber partout nicht, dass er fundamentale, rekurrierende Aspekte der Weltpolitik in seiner Bias für eine kommende Weltregierung ausblendet.
Schemeils kosmopolitischer Blick auf den sogenannten globalen Süden lässt sich dabei für die Vorstellung des Bundeskanzlers zu diesem Thema fruchtbar machen. Gewiss, anders als der Autor kennt Kanzler Scholz Staaten wie Indien, China oder Indonesien aus eigener Anschauung und liest auch postkoloniale Bücher wie das von Pankaj Mishra zur intellektuellen Emanzipation Asiens von Europa. Scholz schreibt in der Nationalen Sicherheitsstrategie, dass "neue Machtzentren entstehen", und konstatiert, dass "die Welt des 21. Jahrhunderts multipolar ist". Wie bei Schemeil ist diese Entstehung ein simpler empirischer Befund.
Dass diese "Machtzentren" aber nationale Machtansprüche haben und diese sich auf Kosten der bestehenden "Stabilität", sprich Ordnung, durchsetzen werden, sobald sie die materielle Macht dazu haben, spiegelt sich nicht in der Strategie wider - kann aber schon bei Thukydides nachgelesen werden. Auch steht in ihr nicht, wie sich der Westen angesichts der Systemgefahr durch China selbst reformieren muss; und nicht, wie neue Alliierte (Indien) strategisch gebunden werden; und schließlich nicht, wie Widersprüche der Achse China-Russland strategisch manipuliert werden können. Dies sind machtpolitische Grundsatzfragen erster Ordnung, ohne deren Inangriffnahme der Glaube an Multilateralismus hohl ist. Schemeils Buch ist für diese unbeabsichtigte Sensibilisierung nützlich. MAXIMILIAN TERHALLE
Yves Schemeil: The Making of the World. How International Organizations shape our Future.
Verlag Barbara Budrich, Leverkusen-Opladen, 2023. 406 S., 44,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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