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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Politik und künstlerischer Ausdruck gehören bei dieser Musik zusammen: Peter Kemper verknüpft auf überzeugende Weise die Emanzipationsgeschichte der Afroamerikaner mit der Entwicklung des Jazz.
Als am 17. September 1957 ein junger Student in North Dakota ein Hotel betritt, ahnt er nicht, dass das Gespräch, welches er gleich als freier Mitarbeiter seiner Zeitung führen wird, am nächsten Tag die Schlagzeilen im ganzen Land bestimmen wird. Sein Interviewpartner ist der Jazztrompeter Louis Armstrong, bekannt dafür, ausschließlich über seine Musik und leichtere Themen zu sprechen. "No Politics!" lautet so auch die Verabredung für das Interview.
Armstrong gilt in der Jazzszene als dauerlächelnder Onkel Tom, der sich nie aufmüpfig verhält oder die Ordnung hinterfragt, nach der Weiße sozial und kulturell über Schwarzen stehen. Doch dann befragt Larry Lubenow den Musiker zu den Zuständen an einer Schule in Little Rock, Arkansas. Dort hatte der Gouverneur Orval E. Faubus die Nationalgarde eingesetzt, um zu verhindern, dass neun afroamerikanische Schüler gemäß der aufgehobenen Rassentrennung das Gelände betreten.
"Es ist fast so schlimm geworden, dass ein Schwarzer kein Heimatland mehr hat", sagt Armstrong. Er schilt Präsident Eisenhower als falschen Fuffziger. Schließlich singt er noch eine Verballhornung der amerikanischen Nationalhymne, in der er vom Wort "motherfucker" reichlich Gebrauch macht. "Ich habe nur das gesagt, was schon längst mal jemand hätte sagen sollen", wird Armstrong anschließend die Medienresonanz kommentieren.
Wenige Tage später sieht er sich veranlasst, Eisenhower ein Dankestelegramm zu schicken, weil dieser gegen den Rassisten Faubus doch noch das Recht durchsetzt. Mit einem Mal hören schwarze Hipster auf, Louis Armstrong als Leichtgewicht zu begreifen. Dizzie Gillespie erkennt, dass er sich nur nicht sein "phantastisches Lächeln" durch den Zorn über Rassismus hat auslöschen lassen. Dagegen sind die Zeitungen in diesen Tagen voll von hasserfüllten Äußerungen weißer Leserbriefschreiber.
In seinem Buch "The Sound of Rebellion. Zur politischen Ästhetik des Jazz" hat der Musikjournalist Peter Kemper mehr als ein Dutzend solcher Anekdoten zentraler Figuren der Jazzgeschichte versammelt. Sie dienen als Einführung in die politästhetische Verortung von Innovatoren wie Duke Ellington, Billie Holiday, Charlie Parker und Max Roach ("We Insist! Freedom Now Suite").
Schwerpunkt sind die Fünfziger- und Sechzigerjahre, in denen sich Künstler wie Charles Mingus, Archie Shepp oder Sun Ra intellektuell herausfordernd positionierten, Afrofuturismus und Black Consciousness ideelle Voraussetzungen auch für immer anspruchsvollere tonale und rhythmische Ausdrucksformen der Jazzmusik wurden. Diesen Faden spinnt Kemper bis in die heutige Zeit: Den Abschluss bilden ausführliche Reflexionen über führende zeitgenössische Künstler wie Kamasi Washington, Shabaka Hutchings, Angel Bat Dawid, Moor Mother und Matana Roberts. Dabei dehnt er den Jazzbegriff nachvollziehbar bis hin zum Hip-Hop-Erneuerer Kendrick Lamar.
Das Buch akzentuiere die Jazzgeschichte neu: Es beschreibe anhand der "race conflicts" die allmähliche Politisierung von Jazzmusikern, führt der Autor aus, der früher das "Abendstudio" des Hessischen Rundfunks leitete und Musikrezensionen für diese Zeitung schreibt. "Erstmals wird hier also die Emanzipationsgeschichte der Afroamerikaner in den letzten 100 Jahren anhand der Jazzgeschichte nachgezeichnet". Mit mehr als sechshundert Seiten hat er sich den für das ambitionierte Vorhaben angemessenen Raum genommen.
Dabei ist "Sound of Rebellion" weit mehr als nur eine beeindruckende Fleißarbeit. Kemper widmet sich den wichtigsten Jazzinnovatoren aus hundert Jahren, lässt die sozialen Verhältnisse ihrer Epoche lebendig werden, verortet sie über schriftliche und verbale Äußerungen (rassen-)politisch und verknüpft ihre Haltung mit ihren ästhetischen Konzepten, mit denen sie sich von ihren Vorgängern abgrenzen.
So hat der vermeintlich angepasste Aufsteiger Duke Ellington, von manchen als wichtigster Komponist des zwanzigsten Jahrhunderts gehandelt, schwarze Musik seinerzeit für origineller gehalten als die gültigen Standards der Musikindustrie - und dies öffentlich postuliert. Der Jazz sei während der Sklaverei die Reaktion auf die weiße Tyrannei gewesen. "Ich bin überzeugt, dass die Musik meiner 'race' etwas ist, das überleben und im Rückblick höher eingeschätzt werden wird als die gerade aktuelle Ballroom-Musik", sagte Ellington 1931 im Gespräch mit einem Magazin für Tanzmusik.
Diese Einschätzung bringt Kemper in Verbindung mit Ellingtons Ziel, mit der Komplexität eigener Kompositionen die kulturelle Leistungsfähigkeit der Afroamerikaner zu unterstreichen. Sein orchestrales Großwerk "Black, Brown and Beige" von 1943 zeigt, dass seine Einschätzung zutraf. Es verarbeitet die Geschichte der Afroamerikaner und legt, wie der Autor betont, für Künstler wie Shepp, Mingus, Max Roach oder Sonny Rollins die Grundlage für ihre noch explizitere Protestmusik zwei Jahrzehnte später.
"Sound of Rebellion" kann als Einführung in das Werk einiger der wichtigsten afroamerikanischen Jazzmusiker gelesen werden. Ob Ornette Coleman, John Coltrane, Miles Davis, Albert Ayler oder Pharoah Sanders - in jedem Kapitel schafft es der Autor, die spieltechnischen Errungenschaften und ästhetischen Neuerungen in einen Kontext mit mal impliziteren, mal expliziteren rassismuskritischen Haltungen zu stellen. Die radikalen Saxofonklagen Aylers, dem es nicht mehr darum ging, Noten zu spielen, sondern Gefühle, sind ein überzeugendes Beispiel.
Besondere Erwähnung verdienen die Kapitel über den Bassisten Charles Mingus und den Saxofonisten Archie Shepp, die sich mit Elan in die politische Schlacht geworfen haben. Mingus wehrte sich als Komponist, Workshop-Initiator und Labelbetreiber erfolgreich gegen die weiße Strategie, schwarzen Erfindungsgeist zu ersticken. Dem Rassisten Faubus, gegen den Louis Armstrong gewettert hatte, setze er ein musikalisches Denkmal. Den "Haitian Fight Song" führte er als "ästhetischen Sabotageakt" in der "Ed Sullivan Show" auf. Freiheit war für ihn immer mit dem Kampf um politische Teilhabe verbunden.
Archie Shepp, Wegbereiter des Free Jazz, den Kemper als Bluespropheten einführt, ist mit heute 86 Jahren der letzte Überlebende der goldenen Ära des Jazz, Vertreter eines nichtmilitanten Black Consciousness und Urheber zeitloser Alben wie "Four for Trane", "The Cry of My People" oder "Attica Blues". Mit letztgenanntem Werk, das den folgenreichen Gefängnisaufstand in Attica State im Bundesstaat New York 1971 reflektiert, führt Kemper in die Gedankenwelt des Saxofonisten, Komponisten und Kulturwissenschaftlers ein. "Mit Attica Blues habe ich versucht, vom sogenannten Free Jazz wegzukommen und eine diszipliniertere, fokussiertere Musik zu entwickeln", erzählt Shepp in einem Interview, das der Autor für dieses Buch geführt hat und aus dem er immer wieder ausgiebig zitiert.
Shepp weist auf die Benachteiligungen der afroamerikanischen Bevölkerung in den Vereinigten Staaten hin - von der Nixon-Ära bis heute. Das verband sich mit neuen musikalischen Ausdrucksformen. "Mir ging es in den Sechzigern ja darum, eine Form von Expressivität zu finden, die meinen damaligen Gefühlen, meiner Wahrnehmung der Zeitumstände, vor allem der politischen Situation entsprach", erläutert Shepp.
Dennoch kann sich Politik Kemper zufolge nie allein durch die Töne vermitteln. Das Saxofon (das häufigste unter seinen Musikern vertretene Instrument) könne zwar die dahinterliegenden Emotionen hörbar machen, musikalische Phrasen hätten auch Verwandtschaft zur Sprache. Und Kollektivimprovisationen seien ein Beispiel gelungener musikalischer Kommunikation. Doch erst über den Gestus des Musikers kann eine politische Haltung tatsächlich angenommen werden.
Peter Kempers "The Sound of Rebellion" ist der Glücksfall eines Jazzbuchs, in dem die Leidenschaft des Autors aus jeder Zeile herauszulesen ist. Sorgfältig arbeitet er sich durch eine Vielzahl von Quellen und Werken, die er kundig analysiert. Nie verlässt er seinen erzählerischen Pfad, der ihn nah an die afroamerikanischen Mythen heranführt, die besonders in aktuellen Werken von Angel Bat Dawid oder Moor Mother zur Inspiration geworden sind.
Die Frage, ob er all das als weißer, alter Mann schreiben dürfe, lässt er seinen besten Gewährsmann beantworten. Schwarze verstünden mehr vom Schwarzsein, sagt Shepp im Schlusskapitel. "Auf der anderen Seite aber können gerade die Menschen, die sich von außen mit schwarzer Kultur und ihren Menschen intensiv beschäftigen, neue Sichtweisen, andere Wahrnehmungen ins Spiel bringen, von denen Schwarze lernen können, weil sie darüber noch nicht nachgedacht haben." Diesen Test hat Peter Kemper bestanden. PHILIPP KROHN
Peter Kemper: "The Sound of Rebellion". Zur politischen Ästhetik des Jazz.
Reclam Verlag, Ditzingen 2023. 752 S., Abb., geb.,
38,- Euro.
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