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Die Zerstörung der Privatsphäre durch die amerikanische Justiz
Jeffrey Rosen: The Unwanted Gaze. The Destruction of Privacy in America. Random House, New York 2000. 275 Seiten, 24,95 Dollar.
Darf ein Untersuchungsausschuß ein intimes Tagebuch lesen? Darf ein Arbeitgeber kontrollieren, worum es in den E-Mails geht, die Angestellte in den Pausen austauschen? Darf ein Staatsanwalt Kreditkartenbelege in einem Buchladen beschlagnahmen? Wer Amerikaner ist, muß auf diese Fragen derzeit mit "ja" antworten. Für Jeffrey Rosen ist das ein deprimierender Befund, der sich einfügt in eine Reihe von Erosionen, die die "Zerstörung der Privatsphäre in Amerika" bedeuten würden.
Angestoßen durch ein bekanntes Paradebeispiel, Kenneth Starrs Ermittlungen im Fall Clinton, will Rosen ergründen, warum der Teil des Lebens, der von Rechts wegen niemanden etwas anzugehen hat, in den Vereinigten Staaten ziemlich geschrumpft ist. Sein Buch ist voller erdrückender Beispiele, die zeigen, daß man nicht Monica Lewinsky heißen muß, um allerlei Bloßstellungen ausgesetzt zu werden. Er zeichnet nach, wie der entsprechende Rechtsschutz im klagefreudigen Amerika immer schwächer wurde. Ende des 19. Jahrhunderts hatte der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten private Papiere noch für sakrosankt und dem staatlichen Zugriff verwehrt erklärt. Hundert Jahre später ordnete ein Bundesgericht an, Senator Bob Packwood habe seine privaten Tagebücher dem Senat zu übergeben, der Vorwürfe "sexuell motivierten Fehlverhaltens" gegen ihn prüfte.
In der Zeit dazwischen liegt der richterliche Versuch, neuen Problemen wie der aufkommenden Wirtschaftskriminalität zu begegnen. Geschäftliche Aufzeichnungen, entschieden die Gerichte, sollten vom strikten Beschlagnahmeverbot ausgenommen sein. Es hat ein wenig gedauert, aber irgendwann waren auch Tagebücher juristisch gesehen kaum mehr als schriftliche Unterlagen. Auf der anderen Seite war gerade die verfassungsrechtliche Strenge, mit der der Supreme Court in den sechziger Jahren Polizeiwillkür zu disziplinieren suchte, ein Grund dafür, den Bereich, der als privat und damit dieser Strenge würdig gelten sollte, alsbald möglichst eng zu definieren.
Demgegenüber geht es Rosen darum, die Privatsphäre wieder zu schützen. Nur wenn niemand zusehe, öffne sich der Mensch und lasse seinen Gedanken freien Lauf. Die Privatsphäre ermögliche erst Kreativität und den freien Austausch von Gedanken - Freiheit also mit allen ihren Segnungen. Fatal sei es daher, daß solch ein Schutz gerade im Internet rechtlich wie technisch kaum entwickelt sei. Das Gespräch mit Freunden und Kollegen habe sich zu einem guten Teil ins Netz verlagert, in E-Mails und elektronische Diskussionskreise - bei denen aber potentiell immer jemand zuschauen kann. Wer im Internet blättert, hinterläßt zudem unmerklich elektronische Fußspuren, die für Dritte interessant werden. Rosen warnt davor, daß all dies allzu beständig gespeichert wird. Texte, die man längst gelöscht hat, können mit entsprechender Technik auch nach langer Zeit noch "exhumiert" werden.
Schuld trifft nach Rosen auch die amerikanische "Kultur der Veröffentlichung", nach der alles, was irgendwo geschrieben steht, in einer freien Gesellschaft im Zweifel auch allen zugänglich sein müsse. Das gilt auch, wenn es in Gerichtsakten nachzulesen ist. "Jurisprurience" nennt Rosen den übertrieben eifernden Zugriff der Justiz auf so manches Intime im Namen einer gut gemeinten Sache (etwa Frauen vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz zu schützen), was langfristig die Privatsphäre beschädige.
Ob Rosen mit seinem pauschalen Rückgriff auf den klassischen Liberalismus viel ausrichten wird? Daß Freiheit eine schöne Sache ist, sagen auch jene, die überall unbeschränkten Einblick verlangen. Die juristische Kunst (und das Schwitzen) beginnt bei der Frage, wie man zwei noblen, aber gegenläufigen Anliegen gleichermaßen gerecht wird. Rosen setzt größere Hoffnungen auf Techniken, mit denen jeder einzelne den "unerwünschten Blick", auf den der Titel anspielt, abblocken kann: E-Mails, die sich selbst vernichten, sobald sie ihren Zweck erfüllt haben, und Verschlüsselungscodes.
Letztlich soll laut Rosen jeder selbst bestimmen, wer was wann über ihn wissen darf. Wenn schon per Zwang Persönliches aufgedeckt werde, müsse das Anliegen entsprechend gewichtig sein. Rosen verweist auf Europa, wo Daten grundsätzlich nur für einen bestimmten Zweck gespeichert und nur für diesen Zweck verarbeitet und weitergegeben werden dürfen. Diesseits des Atlantiks gehört zum richterlichen Handwerkszeug, was Rosen in den Vereinigten Staaten vermißt: die Fähigkeit, zwischen Ehebruch und Mord zu unterscheiden, wenn es darum geht, was man lesen darf, um Vorwürfe aufzuklären.
KARIN MATUSSEK
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Rosen makes a complex subject fascinating by showing us how vulnerable we all are. His message: Pay attention. It could happen to you. The Denver Post
This remarkably rich and detailed book sharpens our understanding of a problem that most of us prefer not to think about. The New York Times Book Review