Wie wurde aus dem Kosmopoliten und assimilierten europäischen Juden der wichtigste Anführer der zionistischen Bewegung? Theodor Herzl (1860-1904) ist als Begründer des politischen Zionismus weltberühmt geworden. Dennoch wirft sein kurzes Leben viele Fragen auf: Wie konnte er gleichzeitig Künstler und Staatsmann sein, Rationalist und Ästhet, strenger Moralist und doch getrieben von tiefen, manchmal dunklen, Leidenschaften? Und warum wurde er von so vielen – auch traditionellen – Juden als Führungsfigur verehrt? Anhand eines umfangreichen Korpus der privaten, literarischen und politischen Schriften zeigt Derek Penslar, dass Herzls Weg zum Zionismus nicht nur vom grassierenden Antisemitismus angetrieben wurde, sondern sich auch aus persönlichen Krisen erklärt. Einmal dem Zionismus verschrieben, zeichnete sich Herzl als vollendete Führungspersönlichkeit aus – voller unermüdlicher Energie, organisatorischem Geschick und mitreißendem Charisma. Er wurde zu einer Projektionsfläche für viele Juden seiner Zeit, für ihre Bedürfnisse und Sehnsüchte.
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Rezensent Till Schmidt zeigt sich im Ganzen nicht zufrieden mit Derek Penslars nun auf Deutsch erscheinender Herzl-Biografie von 2020. Der Fokus auf Herzls Innenleben und die "vielen Psychologisierungen" im Band gefallen ihm nicht. Zudem liefert der Autor zwar knappe propädeutische Darstellungen von Herzls Texten und ihrer Rezeptionsgeschichte, für die Forschung aber bietet er wenig Neues, stellt Schmidt fest. Bloß anekdotisch anstatt zeithistorisch kontextualisiert bleiben laut Rezensent die Ausführungen über Herzls Ausstrahlung und Erscheinung. Zwar vermeidet der Autor Hagiografisches, er bietet aber auch keinen überzeugenden Ersatz, findet Schmidt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.04.2022Von der Machtlosigkeit zur Macht
Derek Penslar zeichnet ein treffliches Bild von Theodor Herzl. Er sieht den Visionär des „Judenstaats“
weniger als großen Denker und Theoretiker, sondern als „amateurhaften Staatsmann“
VON LUDGER HEID
Auch mehr als 100 Jahre nach seinem ersten Auftreten als Zionist ist Theodor Herzl (1860–1904) im heutigen Israel allgegenwärtig: eine Stadt ist nach ihm benannt, keine Stadt ohne Herzl-Straße. Der Mount Herzl in Jerusalem, vis-à-vis der nationalen Gedenkstätte Yad Vashem gelegen, steht symbolisch für den Übergang der Juden von der Machtlosigkeit zur Macht, von der Vernichtung zur Wiedergeburt, dem zentralen Ziel des Zionismus.
Zehn Jahre nach seinem Tod erschien 1914 im Jüdischen Verlag Berlin die erste Herzl-Biografie. Viele weitere folgten. Nunmehr hat der Harvard-Professor Derek Penslar seine biografische Studie vorgelegt, die Herzl als gescheiterten Staatsmann porträtiert.
Herzl, Jude der Religion nach, Ungar von Geburt, Österreicher durch seine Staatsbürgerschaft und Deutscher durch Erziehung und Kultur, ist ein Musterbeispiel für eine verwirrende, auseinanderstrebende vielschichtige Persönlichkeit.
Vor dem Jahre 1896 war der zionistische Gedanke noch Utopie, eine verrückte Idee. Der Mann, der die Utopie zur Wirklichkeit umformte und den entscheidenden Durchbruch erreichte, war Theodor Herzl – ein Stückeschreiber in Wien, der bislang mit einigen Salonkomödien hervorgetreten war. Herzl war ein weltläufig gebildeter, erfolgreicher Feuilletonist, ausgestattet mit einem Stil makelloser Reinheit und ein mitreißender Redner mit einem Talent zur Selbstinszenierung. In seinen Tagebucheintragungen ab Sommer 1895 präsentierte er sich selbst als großer Staatsmann. Er schrieb, er werde im künftigen jüdischen Staat ein allmächtiger, Gehorsam verlangender Führer sein.
In Paris sollte Herzl für die Wiener Neuen Freien Presse vom Dreyfus-Prozess 1896 berichten. In diesem Verfahren ging es um den jüdischen Generalstabskapitän Alfred Dreyfus, der wegen angeblicher Spionage für Deutschland angeklagt und zu lebenslänglicher Verbannung verurteilt wurde. Den Prozess begleiteten antisemitische Ausfälle, die über Frankreich hinausstrahlten. Diese pogromistische Stimmung weckte in Herzl ein bislang wenig ausgeprägtes jüdisches Bewusstsein. Er verschrieb sich der Aufgabe, die Juden vor dem virulenten Antisemitismus zu retten und sie in einen eigenen Staat zu führen. Nur ein Staat, in dem die Juden über sich selbst bestimmten könnten, würde das „Judenproblem“ lösen.
Mit seiner 1896 veröffentlichten Schrift „Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage“, hatte Herzl gleichsam das Gründungsmanifest der zionistischen Bewegung verfasst. Die Broschüre verursachte Aufsehen. Ganz Wien sprach darüber – in einer Mischung aus Verärgerung und Überraschung. Auf das Staunen folgte die Verachtung. Herzls Ideen veränderten die geistige Situation des Judentums radikal, und der „Judenstaat“ hatte dabei, so Stefan Zweig, die „Durchschlagskraft eines stählernen Bolzens“. Im Journalisten- und Schriftstellerverein „Concordia“ fragte man Herzl: „Was wollen Sie in Ihrem Judenstaat werden? Ministerpräsident oder Kammervorsitzender?“ Herzl jedoch war es „blutig ernst“. Seinen Kritikern hielt er entgegen: „Wer in dreißig Jahren recht behalten will, muss in den ersten drei Wochen seines Auftretens für verrückt erklärt werden.“
Das erste Fazit seiner zionistischen Tätigkeit fiel nicht eben bescheiden aus: „Fasse ich den Baseler Congress in ein Wort zusammen – das ich mich hüten werde öffentlich auszusprechen – so ist es dieses: in Basel habe ich den Judenstaat gegründet.“ Und er fügte hinzu: „Ich hetzte die Leute allmälig in die Staatsstimmung hinein.“
Manche seiner Biografen haben Herzl als eine überlebensgroße Lichtgestalt dargestellt und in ihm einen Propheten mit messianischen Zügen sowie als Märtyrer für sein Volk gesehen. Andere haben ihn als Phantasten und gescheiterten Diplomaten in seiner Rivalität mit anderen Zionisten beschrieben, seine psychischen Leiden, seine gestörten Familienverhältnisse und seine gar abgründigen Leidenschaften herausgehoben. Wie immer man ihn beurteilen mag, Herzl war eine außerordentliche Persönlichkeit in der langen jüdischen Geschichte, mit der eine neue Zeitrechnung begonnen hatte. Penslar wählt einen anderen Ansatz: Er vermeidet jedwede Form von Hagiografie ebenso wie die Dekonstruktion der Person. Für Penslar ist Herzl kein großer Denker, gleichwohl der „große Führer“, dessen zionistische Schriften nicht als Traktate, sondern als Manifeste zu lesen seien – als Aufrufe zum Handeln, nicht als theoretische Diskurse.
Hatte Herzl sich im Jahre 1895 noch der Rettung der Juden verschrieben, wollte er danach auch ihr Führer werden. Und es gelang ihm, trotz seiner Stellung als säkularer, assimilierter, westlicher Jude, dem die Welt der traditionellen jüdischen Bräuche und Kultur fremd war, und obwohl er von außerhalb des jüdischen Establishments kam, als Akteur im Namen des gesamten jüdischen Volkes zu handeln.
Herzl pendelte als zionistischer Unterhändler zwischen den europäischen Höfen hin und her – und gab sich staatsmännisch. Gleichwohl blieb er, so Penslar, ein „amateurhafter Staatsmann“. Als Herzl 1898 vom deutschen Kaiser auf dessen Palästinareise im Zeltlager von Jerusalem empfangen wurde, war dieser in die Realität zurückgeholt worden. Die Audienz endete im Fiasko – Wilhelm II. ließ Herzl mit den Worten: „Der Zionismus ist eine prachtvolle Idee – nur mit den Juden ist sie nicht auszuführen“, kühl abblitzen.
Unter welchen Realitäten wurde Herzls „Märchen“ von einem national-jüdischen Staat wahr? Ist es ein Land geworden, dessen autochthone Bevölkerung von den Juden „unbemerkt über die Grenze geschafft“ wurden, wie Herzl 1895 in sein Tagebuch notierte, oder eines, in dem, wie in seinem „Altneuland“ beschrieben, Araber und Juden gleichberechtigt in einer friedlichen Gesellschaft zusammenleben? Ein Staat mit einer starken Armee oder das friedfertige Paradies aus seinem Roman? Wie immer man ihn retrospektiv beurteilen mag, Herzl war der Visionär des Judenstaats – der hozeh ha-medinah.
Das letzte Wort über Herzl ist noch nicht geschrieben, was vor allem an dessen in seine Gefühlswelt Einblick gebenden Briefen – 6000 sind erhalten! – und Tagebüchern liegt, die seit 1983 bis 1996 siebenbändig vorliegen und eine unerschöpfliche Quelle kühner, mitunter auch verrückter Gedanken sind. Derek Penslar ist der aktuelle Herzl-Biograf. Er wird nicht der letzte sein.
Ludger Heid ist Neuzeithistoriker. Er lebt in Duisburg.
Der weltläufig gebildete
Feuilletonist meinte es
„blutig ernst“ mit seiner Idee
Lang ersehnte Staatsgründung: David Ben-Gurion proklamiert am 14. Mai 1948 den Staat Israel. Über ihm ein Porträt von Theodor Herzl.
Foto: dpa
Derek Penslar:
Theodor Herzl: Staatsmann ohne Staat. Eine Biografie. Aus dem Englischen übersetzt von Norbert Juraschitz. Wallstein-Verlag, Göttingen 2022.
256 Seiten, 24 Euro.
E-Book: 18,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Derek Penslar zeichnet ein treffliches Bild von Theodor Herzl. Er sieht den Visionär des „Judenstaats“
weniger als großen Denker und Theoretiker, sondern als „amateurhaften Staatsmann“
VON LUDGER HEID
Auch mehr als 100 Jahre nach seinem ersten Auftreten als Zionist ist Theodor Herzl (1860–1904) im heutigen Israel allgegenwärtig: eine Stadt ist nach ihm benannt, keine Stadt ohne Herzl-Straße. Der Mount Herzl in Jerusalem, vis-à-vis der nationalen Gedenkstätte Yad Vashem gelegen, steht symbolisch für den Übergang der Juden von der Machtlosigkeit zur Macht, von der Vernichtung zur Wiedergeburt, dem zentralen Ziel des Zionismus.
Zehn Jahre nach seinem Tod erschien 1914 im Jüdischen Verlag Berlin die erste Herzl-Biografie. Viele weitere folgten. Nunmehr hat der Harvard-Professor Derek Penslar seine biografische Studie vorgelegt, die Herzl als gescheiterten Staatsmann porträtiert.
Herzl, Jude der Religion nach, Ungar von Geburt, Österreicher durch seine Staatsbürgerschaft und Deutscher durch Erziehung und Kultur, ist ein Musterbeispiel für eine verwirrende, auseinanderstrebende vielschichtige Persönlichkeit.
Vor dem Jahre 1896 war der zionistische Gedanke noch Utopie, eine verrückte Idee. Der Mann, der die Utopie zur Wirklichkeit umformte und den entscheidenden Durchbruch erreichte, war Theodor Herzl – ein Stückeschreiber in Wien, der bislang mit einigen Salonkomödien hervorgetreten war. Herzl war ein weltläufig gebildeter, erfolgreicher Feuilletonist, ausgestattet mit einem Stil makelloser Reinheit und ein mitreißender Redner mit einem Talent zur Selbstinszenierung. In seinen Tagebucheintragungen ab Sommer 1895 präsentierte er sich selbst als großer Staatsmann. Er schrieb, er werde im künftigen jüdischen Staat ein allmächtiger, Gehorsam verlangender Führer sein.
In Paris sollte Herzl für die Wiener Neuen Freien Presse vom Dreyfus-Prozess 1896 berichten. In diesem Verfahren ging es um den jüdischen Generalstabskapitän Alfred Dreyfus, der wegen angeblicher Spionage für Deutschland angeklagt und zu lebenslänglicher Verbannung verurteilt wurde. Den Prozess begleiteten antisemitische Ausfälle, die über Frankreich hinausstrahlten. Diese pogromistische Stimmung weckte in Herzl ein bislang wenig ausgeprägtes jüdisches Bewusstsein. Er verschrieb sich der Aufgabe, die Juden vor dem virulenten Antisemitismus zu retten und sie in einen eigenen Staat zu führen. Nur ein Staat, in dem die Juden über sich selbst bestimmten könnten, würde das „Judenproblem“ lösen.
Mit seiner 1896 veröffentlichten Schrift „Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage“, hatte Herzl gleichsam das Gründungsmanifest der zionistischen Bewegung verfasst. Die Broschüre verursachte Aufsehen. Ganz Wien sprach darüber – in einer Mischung aus Verärgerung und Überraschung. Auf das Staunen folgte die Verachtung. Herzls Ideen veränderten die geistige Situation des Judentums radikal, und der „Judenstaat“ hatte dabei, so Stefan Zweig, die „Durchschlagskraft eines stählernen Bolzens“. Im Journalisten- und Schriftstellerverein „Concordia“ fragte man Herzl: „Was wollen Sie in Ihrem Judenstaat werden? Ministerpräsident oder Kammervorsitzender?“ Herzl jedoch war es „blutig ernst“. Seinen Kritikern hielt er entgegen: „Wer in dreißig Jahren recht behalten will, muss in den ersten drei Wochen seines Auftretens für verrückt erklärt werden.“
Das erste Fazit seiner zionistischen Tätigkeit fiel nicht eben bescheiden aus: „Fasse ich den Baseler Congress in ein Wort zusammen – das ich mich hüten werde öffentlich auszusprechen – so ist es dieses: in Basel habe ich den Judenstaat gegründet.“ Und er fügte hinzu: „Ich hetzte die Leute allmälig in die Staatsstimmung hinein.“
Manche seiner Biografen haben Herzl als eine überlebensgroße Lichtgestalt dargestellt und in ihm einen Propheten mit messianischen Zügen sowie als Märtyrer für sein Volk gesehen. Andere haben ihn als Phantasten und gescheiterten Diplomaten in seiner Rivalität mit anderen Zionisten beschrieben, seine psychischen Leiden, seine gestörten Familienverhältnisse und seine gar abgründigen Leidenschaften herausgehoben. Wie immer man ihn beurteilen mag, Herzl war eine außerordentliche Persönlichkeit in der langen jüdischen Geschichte, mit der eine neue Zeitrechnung begonnen hatte. Penslar wählt einen anderen Ansatz: Er vermeidet jedwede Form von Hagiografie ebenso wie die Dekonstruktion der Person. Für Penslar ist Herzl kein großer Denker, gleichwohl der „große Führer“, dessen zionistische Schriften nicht als Traktate, sondern als Manifeste zu lesen seien – als Aufrufe zum Handeln, nicht als theoretische Diskurse.
Hatte Herzl sich im Jahre 1895 noch der Rettung der Juden verschrieben, wollte er danach auch ihr Führer werden. Und es gelang ihm, trotz seiner Stellung als säkularer, assimilierter, westlicher Jude, dem die Welt der traditionellen jüdischen Bräuche und Kultur fremd war, und obwohl er von außerhalb des jüdischen Establishments kam, als Akteur im Namen des gesamten jüdischen Volkes zu handeln.
Herzl pendelte als zionistischer Unterhändler zwischen den europäischen Höfen hin und her – und gab sich staatsmännisch. Gleichwohl blieb er, so Penslar, ein „amateurhafter Staatsmann“. Als Herzl 1898 vom deutschen Kaiser auf dessen Palästinareise im Zeltlager von Jerusalem empfangen wurde, war dieser in die Realität zurückgeholt worden. Die Audienz endete im Fiasko – Wilhelm II. ließ Herzl mit den Worten: „Der Zionismus ist eine prachtvolle Idee – nur mit den Juden ist sie nicht auszuführen“, kühl abblitzen.
Unter welchen Realitäten wurde Herzls „Märchen“ von einem national-jüdischen Staat wahr? Ist es ein Land geworden, dessen autochthone Bevölkerung von den Juden „unbemerkt über die Grenze geschafft“ wurden, wie Herzl 1895 in sein Tagebuch notierte, oder eines, in dem, wie in seinem „Altneuland“ beschrieben, Araber und Juden gleichberechtigt in einer friedlichen Gesellschaft zusammenleben? Ein Staat mit einer starken Armee oder das friedfertige Paradies aus seinem Roman? Wie immer man ihn retrospektiv beurteilen mag, Herzl war der Visionär des Judenstaats – der hozeh ha-medinah.
Das letzte Wort über Herzl ist noch nicht geschrieben, was vor allem an dessen in seine Gefühlswelt Einblick gebenden Briefen – 6000 sind erhalten! – und Tagebüchern liegt, die seit 1983 bis 1996 siebenbändig vorliegen und eine unerschöpfliche Quelle kühner, mitunter auch verrückter Gedanken sind. Derek Penslar ist der aktuelle Herzl-Biograf. Er wird nicht der letzte sein.
Ludger Heid ist Neuzeithistoriker. Er lebt in Duisburg.
Der weltläufig gebildete
Feuilletonist meinte es
„blutig ernst“ mit seiner Idee
Lang ersehnte Staatsgründung: David Ben-Gurion proklamiert am 14. Mai 1948 den Staat Israel. Über ihm ein Porträt von Theodor Herzl.
Foto: dpa
Derek Penslar:
Theodor Herzl: Staatsmann ohne Staat. Eine Biografie. Aus dem Englischen übersetzt von Norbert Juraschitz. Wallstein-Verlag, Göttingen 2022.
256 Seiten, 24 Euro.
E-Book: 18,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.04.2022Werdegang einer Symbolfigur
Derek Penslar legt eine Biographie Theodor Herzls vor, die Hagiographie wie Dekonstruktion vermeidet
Über Theodor Herzl, Gründungsvater des Zionismus, wurden bislang rund zwanzig Biographien geschrieben. Nur etwa ein halbes Dutzend davon erschien auf Deutsch, zuletzt 2016 jene von Shlomo Avineri. Die vor zwei Jahren in Amerika veröffentlichte Biographie des kanadisch-jüdischen Judaisten Derek Penslar hat mit Avineris Werk gemein, dass sie für eine Reihe über berühmte jüdische Persönlichkeiten entstand - in Penslars Fall für die "Jewish Lives" der Yale University Press.
Derek Penslars Herzl-Biographie ist deshalb nicht nur relativ schmal, sie ist auch deutlich neutraler als etliche der Vorgängerwerke, die zwischen Hagiographie und Dekonstruktion der fast schon mythischen Figur schwanken. Hat Avineri in Herzl - vor allem anhand der umfangreichen Tagebücher - neben dem Visionär auch den Zweifler ausgemacht, liest Penslar Herzls ständiges Ringen mit sich selbst vor allem auch als Ausdruck psychischer und innerfamiliärer Probleme. Dabei bezieht er, was nur wenige Biographen bislang getan haben, ebenso Herzls Theaterstücke, Pressebeiträge und sein Wirken als Zeitungsredakteur wie seine selbstkritische Reflexion über die eigene Publizistik in die Analyse mit ein. Und dies aus gutem Grund. Als Theaterautor und Journalist ist der 1860 in Ungarn geborene Wiener Jude nämlich schon in jungen Jahren außerordentlich fleißig und zielstrebig, selten aber mit sich zufrieden.
Erfolgreich ist Herzl, der anfangs von einer Karriere als Bühnenautor träumt, zu seinem Leidwesen denn auch zunächst nur als Feuilletonist - eine Tätigkeit, die er schon als Autor und später Feuilletonchef (1895-1904) der angesehenen Wiener "Neuen Freien Presse" nicht sonderlich schätzt, weil er sich darin nicht als Literat verwirklicht fühlt. Belastend kommen noch der frühe Tod seiner ein Jahr älteren Schwester Pauline und eine enttäuschte Liebe hinzu, die Penslar zufolge Herzls melancholische Ader nicht nur verstärken. Er zieht sich auch innerlich zurück und flüchtet als bereits Mittzwanziger in erotische Phantasien über "kaum pubertierende Mädchen". Julie Naschauer ist achtzehn Jahre alt, als er sie kennenlernt, und die drei Jahre später geschlossene Ehe ist von Beginn an problembehaftet. Die Tochter eines wohlhabenden jüdischen Geschäftsmanns, von deren Mitgift der umtriebige Herzl noch Jahre zehren wird, neigt zu Wutausbrüchen und ist psychisch offenbar noch labiler als er. Penslar, der Psychoanalytiker konsultiert hat, stuft Herzl als manisch-depressiv ein. Das zum Schlachtfeld werdende Eheleben bleibt nicht ohne Wirkungen auf Herzls ohnehin schwankende Gemütszustände.
Als Herzl 1889 heiratet, ist er ein angesehener Journalist, der bereits zwei Sammlungen seiner Feuilletonbeiträge in Leipzig veröffentlicht hat, über deren Rezeption der Leser jedoch nichts erfährt. Ebenfalls unerwähnt bleibt, dass auch eine Auswahl seiner von 1891 bis 1895 als Korrespondent in Paris verfassten Frankreich-Berichte in Buchform erscheint, was Herzl noch bekannter macht. Indes geht Penslar auf mehrere dieser Frankreich-Feuilletons detailliert ein, um - wie schon Avineri vor ihm - die These zu untermauern, dass Herzl in Paris zwar zu einem politisch denkenden Intellektuellen wird, es aber nicht die Dreyfus-Affäre ist, die ihn zum Zionismus führt.
Die "Judensache" beschäftigt Herzl während seiner Zeit in Frankreich durchaus, jedoch weniger als Berichterstatter denn als Theaterautor. Erst kurz vor seiner Rückkehr nach Wien im Sommer 1895 kommen mehrere Faktoren zusammen, die aus dem Journalisten auch einen politischen Aktivisten machen: vor allem die Wahl des Antisemiten Karl Lueger zum Bürgermeister der Stadt und eine tiefe existenzielle Krise, die in einem später als "zionistisch" überschriebenen Tagebuch dokumentiert ist. Was Penslar als "Anfälle von Paranoia", gemischt mit "weiser Voraussicht, mit Größenwahn und altruistischem Idealismus", bezeichnet, beschreibt Herzl im Nachhinein als Tage der Angst davor, "irrsinnig zu werden": "So jagten die Gedankenzüge erschütternd durch meine Seele."
Aus diesem brodelnden Gedankenstrom geht schließlich die auf Penslar fast schon bürokratisch wirkende Schrift "Der Judenstaat" hervor, die im Februar 1896 erscheint. Dass der dem Kolonialismus zugeneigte Herzl hier schon Palästina als künftigen Besiedlungsort nennt, führt der Autor nicht nur auf eine immer stärkere Identifizierung mit dem Judentum zurück. Herzl überzeugten auch befreundete zionistische Aktivisten davon, dass nur mit Palästina als propagiertem Zielland eine jüdische Volksbewegung mobilisiert werden könnte. "Der Judenstaat" beschert Herzl allerdings mindestens so viele Feinde wie Unterstützer, was ihn nur darin bestärkt, das jüdische Volk nicht nur retten, sondern es nun auch selbst führen zu wollen. Mit dem von ihm 1897 ins Leben gerufenen Zionistenkongress gelingt es Herzl tatsächlich, eine nationale Institution zu etablieren, die sich unabhängig von seinen scheiternden Siedlungsprojekten, ob in Palästina oder Ostafrika, als dauerhaft erweisen sollte - Herzls nicht nur in Penslars Augen wichtigste Errungenschaft.
Je größer Herzls Ruhm wird, umso autoritärer wird sein Führungsstil. Nicht nur das bringt ihm noch mehr Gegner ein, sondern auch seine minimalistische Auffassung vom Judentum: "Wir sind eine erkennbar zusammengehörende historische Gruppe von Menschen, die durch den gemeinsamen Feind zusammengehalten werden." Herzls selbst auferlegtes ungeheures Arbeitspensum - 1902 veröffentlicht er auch noch den Roman "Altneuland", den Penslar weniger als utopisch denn als national-programmatisch wie sozialreformerisch versteht - bringt den häufig auch reisenden sendungsbewussten Aktivisten und Feuilletonleiter an die Grenzen seiner physischen Belastbarkeit. Der schon länger an Herzproblemen leidende Herzl stirbt schließlich 1904 mit nur vierundvierzig Jahren vermutlich an den Folgen einer Lungenentzündung. Dass er zu einer "universalen Symbolfigur des Zionismus" wurde, lag laut Penslar nicht zuletzt daran, "dass er sich selbst so erfolgreich zu einer Ikone machte". So sei es auch kein Zufall, dass Herzl in Israel heute weitgehend auf dieses eindimensionale Bild reduziert werde. JOSEPH CROITORU
Derek Penslar: "Theodor Herzl". Staatsmann ohne Staat. Eine Biographie.
Wallstein Verlag, Göttingen 2022. 256 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Derek Penslar legt eine Biographie Theodor Herzls vor, die Hagiographie wie Dekonstruktion vermeidet
Über Theodor Herzl, Gründungsvater des Zionismus, wurden bislang rund zwanzig Biographien geschrieben. Nur etwa ein halbes Dutzend davon erschien auf Deutsch, zuletzt 2016 jene von Shlomo Avineri. Die vor zwei Jahren in Amerika veröffentlichte Biographie des kanadisch-jüdischen Judaisten Derek Penslar hat mit Avineris Werk gemein, dass sie für eine Reihe über berühmte jüdische Persönlichkeiten entstand - in Penslars Fall für die "Jewish Lives" der Yale University Press.
Derek Penslars Herzl-Biographie ist deshalb nicht nur relativ schmal, sie ist auch deutlich neutraler als etliche der Vorgängerwerke, die zwischen Hagiographie und Dekonstruktion der fast schon mythischen Figur schwanken. Hat Avineri in Herzl - vor allem anhand der umfangreichen Tagebücher - neben dem Visionär auch den Zweifler ausgemacht, liest Penslar Herzls ständiges Ringen mit sich selbst vor allem auch als Ausdruck psychischer und innerfamiliärer Probleme. Dabei bezieht er, was nur wenige Biographen bislang getan haben, ebenso Herzls Theaterstücke, Pressebeiträge und sein Wirken als Zeitungsredakteur wie seine selbstkritische Reflexion über die eigene Publizistik in die Analyse mit ein. Und dies aus gutem Grund. Als Theaterautor und Journalist ist der 1860 in Ungarn geborene Wiener Jude nämlich schon in jungen Jahren außerordentlich fleißig und zielstrebig, selten aber mit sich zufrieden.
Erfolgreich ist Herzl, der anfangs von einer Karriere als Bühnenautor träumt, zu seinem Leidwesen denn auch zunächst nur als Feuilletonist - eine Tätigkeit, die er schon als Autor und später Feuilletonchef (1895-1904) der angesehenen Wiener "Neuen Freien Presse" nicht sonderlich schätzt, weil er sich darin nicht als Literat verwirklicht fühlt. Belastend kommen noch der frühe Tod seiner ein Jahr älteren Schwester Pauline und eine enttäuschte Liebe hinzu, die Penslar zufolge Herzls melancholische Ader nicht nur verstärken. Er zieht sich auch innerlich zurück und flüchtet als bereits Mittzwanziger in erotische Phantasien über "kaum pubertierende Mädchen". Julie Naschauer ist achtzehn Jahre alt, als er sie kennenlernt, und die drei Jahre später geschlossene Ehe ist von Beginn an problembehaftet. Die Tochter eines wohlhabenden jüdischen Geschäftsmanns, von deren Mitgift der umtriebige Herzl noch Jahre zehren wird, neigt zu Wutausbrüchen und ist psychisch offenbar noch labiler als er. Penslar, der Psychoanalytiker konsultiert hat, stuft Herzl als manisch-depressiv ein. Das zum Schlachtfeld werdende Eheleben bleibt nicht ohne Wirkungen auf Herzls ohnehin schwankende Gemütszustände.
Als Herzl 1889 heiratet, ist er ein angesehener Journalist, der bereits zwei Sammlungen seiner Feuilletonbeiträge in Leipzig veröffentlicht hat, über deren Rezeption der Leser jedoch nichts erfährt. Ebenfalls unerwähnt bleibt, dass auch eine Auswahl seiner von 1891 bis 1895 als Korrespondent in Paris verfassten Frankreich-Berichte in Buchform erscheint, was Herzl noch bekannter macht. Indes geht Penslar auf mehrere dieser Frankreich-Feuilletons detailliert ein, um - wie schon Avineri vor ihm - die These zu untermauern, dass Herzl in Paris zwar zu einem politisch denkenden Intellektuellen wird, es aber nicht die Dreyfus-Affäre ist, die ihn zum Zionismus führt.
Die "Judensache" beschäftigt Herzl während seiner Zeit in Frankreich durchaus, jedoch weniger als Berichterstatter denn als Theaterautor. Erst kurz vor seiner Rückkehr nach Wien im Sommer 1895 kommen mehrere Faktoren zusammen, die aus dem Journalisten auch einen politischen Aktivisten machen: vor allem die Wahl des Antisemiten Karl Lueger zum Bürgermeister der Stadt und eine tiefe existenzielle Krise, die in einem später als "zionistisch" überschriebenen Tagebuch dokumentiert ist. Was Penslar als "Anfälle von Paranoia", gemischt mit "weiser Voraussicht, mit Größenwahn und altruistischem Idealismus", bezeichnet, beschreibt Herzl im Nachhinein als Tage der Angst davor, "irrsinnig zu werden": "So jagten die Gedankenzüge erschütternd durch meine Seele."
Aus diesem brodelnden Gedankenstrom geht schließlich die auf Penslar fast schon bürokratisch wirkende Schrift "Der Judenstaat" hervor, die im Februar 1896 erscheint. Dass der dem Kolonialismus zugeneigte Herzl hier schon Palästina als künftigen Besiedlungsort nennt, führt der Autor nicht nur auf eine immer stärkere Identifizierung mit dem Judentum zurück. Herzl überzeugten auch befreundete zionistische Aktivisten davon, dass nur mit Palästina als propagiertem Zielland eine jüdische Volksbewegung mobilisiert werden könnte. "Der Judenstaat" beschert Herzl allerdings mindestens so viele Feinde wie Unterstützer, was ihn nur darin bestärkt, das jüdische Volk nicht nur retten, sondern es nun auch selbst führen zu wollen. Mit dem von ihm 1897 ins Leben gerufenen Zionistenkongress gelingt es Herzl tatsächlich, eine nationale Institution zu etablieren, die sich unabhängig von seinen scheiternden Siedlungsprojekten, ob in Palästina oder Ostafrika, als dauerhaft erweisen sollte - Herzls nicht nur in Penslars Augen wichtigste Errungenschaft.
Je größer Herzls Ruhm wird, umso autoritärer wird sein Führungsstil. Nicht nur das bringt ihm noch mehr Gegner ein, sondern auch seine minimalistische Auffassung vom Judentum: "Wir sind eine erkennbar zusammengehörende historische Gruppe von Menschen, die durch den gemeinsamen Feind zusammengehalten werden." Herzls selbst auferlegtes ungeheures Arbeitspensum - 1902 veröffentlicht er auch noch den Roman "Altneuland", den Penslar weniger als utopisch denn als national-programmatisch wie sozialreformerisch versteht - bringt den häufig auch reisenden sendungsbewussten Aktivisten und Feuilletonleiter an die Grenzen seiner physischen Belastbarkeit. Der schon länger an Herzproblemen leidende Herzl stirbt schließlich 1904 mit nur vierundvierzig Jahren vermutlich an den Folgen einer Lungenentzündung. Dass er zu einer "universalen Symbolfigur des Zionismus" wurde, lag laut Penslar nicht zuletzt daran, "dass er sich selbst so erfolgreich zu einer Ikone machte". So sei es auch kein Zufall, dass Herzl in Israel heute weitgehend auf dieses eindimensionale Bild reduziert werde. JOSEPH CROITORU
Derek Penslar: "Theodor Herzl". Staatsmann ohne Staat. Eine Biographie.
Wallstein Verlag, Göttingen 2022. 256 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Derek Penslar zeichnet ein treffliches Bild von Theodor Herzl.« (Ludger Heid, Süddeutsche Zeitung, 11.04.2022) »Derek Penslar (...) kann uns in seiner kenntnisreichen, spannenden Biografie zeigen, dass es nicht den einen Herzl gibt, sondern mehrere.« (Alfred Pfoser, Falter, Bücher-Frühling 2022) »ansprechend geschrieben, gut verständlich auch für diejenigen, die nicht ausgewiesene Kenner jüdischer Geschichte sind« (Carsten Hueck, Deutschlandfunk Kultur, 21.03.2022) »(eine) vorzügliche Biografie« (Jakob Hessing, Der Tagesspiegel, 06.05.2022) »Penslars Biografie ist eine gut geschriebene Einführung. Ihre Stärke liegt in der (...) beachtlichen Mischung aus Detailfülle und Knappheit. Gerade für Einsteiger dürfte sich die Lektüre daher lohnen.« (Till Schmidt, taz, 31.05.2022) »Unbedingte Leseempfehlung« (haGalil.com, 02.05.2022) »bestens recherchiert und besticht mit einer die historischen Fakten akkurat prüfenden, sie behutsam dosierenden, mit Klarheit und Nüchternheit imponierenden Darstellung« (Galina Hristeva, Illustrierte Neue Welt, 3/2020) »Eine sehr gut lesbare und informative Biografie.« (Robert Leiner, Bücherschau, 2/2022)